„Dieses lebendige Ereignis ist eigentlich, was zählt – ein Abend, der dann wirklich aufblüht“

Gespräch mit dem gebürtigen Temeswarer Regisseur, Schauspiellehrer und Choreograf Niky Wolcz

Niky Wolcz | Foto: DSTT, Ovidiu Zimcea

Ausverkaufte Vorstellungen sind der Indikator für eine gelungene Inszenierung, und damit darf sich auch die jüngste Produktion des deutschen Staatstheaters Temeswar, „Leonce und Lena“, rühmen. Mitverantwortlich dafür ist selbstverständlich der Regisseur, in diesem Fall als Gast Niky Wolcz, der für das Temeswarer Publikum bereits 2016 Herta Müllers „Niederungen“ in Szene setzte. Seit 2008 ist er Ehrenbürger der Stadt. Doch die Temeswarer Bühne ist für den Schauspieler, Schauspiellehrer, Regisseur und Choreografen mehr als nur einer seiner Arbeitsplätze, verriet er Tatiana Sessler-Toami, Schauspielerin am Staatstheater Temeswar, die sich mit ihm über sein Leben auf den und für die Bühnen in Amerika und Europa unterhielt.

Wie sind Sie ursprünglich zum Theater gekommen?

Als Josefstädtler Bub bin ich in die sogenannte pädagogische Schule gegangen, war lange Jahre auch Ministrant in der Pfarrkirche und habe alles mitgemacht, was die ganze Nachkriegsgeneration mitgemacht hat. Wir haben das Glück gehabt, dass die Schule sehr stark mit dem Theater verbunden war, so dass wir teils viele Vorstellungen selbst gemacht haben, vor allem aber viele Vorstellungen beim Deutschen Theater gesehen haben, mit diesem mächtigen Ensemble, das damals war: Angefangen von Rudolf Schati, Irmgard Schati, Ottmar Strasser, Otto Graßl, Peter Schuch – das war eine ganz besondere Dimension an Schauspielern, natürlich mit sehr guten Regisseuren, etwa Johannes Székler. Und das war sehr, sehr einflussreich auf alles, was später in meinem Leben passiert ist. 

Damals wurde eine deutsche Abteilung an der Schauspielschule in Bukarest eröffnet. Vor mir war der Peter Paulhofer dort, ich bin mit Gerhard Brössner hingegangen, mit Ildiko Jarcsek, und Albert Kitzl ist dann später gekommen und Friedrich Schilcha. Es waren alle Schauspieler aus dieser zweiten Generation, die das Deutsche Theater hier irgendwie weitergetragen haben oder weiter verraten haben (lacht) – ich weiß nicht. Das war mein Werdegang, der eigentlich auf diesen Brettern seinen Ursprung gehabt hat. 

Ich hatte das Glück, ja schon während der Hochschule beim Nottara-Theater mitzumachen, in den „Stühlen“ von Ionesco, aber auch in kleineren Vorstellungen an Bukarestern Theater. Man hat mich irgendwie im Auge behalten, und als ich dann nach Temeswar gekommen bin, hat mich Liviu Ciulei nach einem Jahr nach Bukarest gerufen, eben für eine „Leonce und Lena“-Vorstellung, wo ich den Zeremonienmeister gespielt hab. Anschließend wurde ich dort am Bulandra-Theater engagiert und hatte das Glück, den Herrn Esrig zu treffen, der mich als Assistent in seine Regie genommen hat, und natürlich auch in Vorstellungen. 

Wie weit prägt das einen jungen Schauspieler, von Anfang an mit sehr guten Regisseuren zu arbeiten?

Wenn man das Glück hat, dann bemerkt man es nicht. Für mich war es eine organische Entwicklung. Die Schule war ja wirklich außerordentlich gut: Man hat uns alle Freiheiten gegeben, es war eine gewisse Disziplin, vor allem aber die offene Zusammenarbeit mit den Regie-Kollegen, so Andrei Șerban, Aureliu Manea und Ivan Helmer. Das waren alle brillante Studenten als Regisseure. Mit einer Vorstellung waren wir sogar bei Studentenfestivals in Wroclaw und Zagreb. Es war eine sehr produktive Zeit. Und dann gab es die großen Monster: Ciulei, Pintilie, Penciulescu und Esrig, mit denen ich zusammen gearbeitet habe.

1974 sind Sie von Bukarest wieder zurück nach Temeswar, wo Sie nun mit den Schauspielern spielen sollten, die Sie in der Kindheit schon auf der Bühne gesehen hatten. Wie war diese Zeit?

Ich war wahrscheinlich nicht vorbereitet, mit diesen Schauspielern zu spielen. Aber es gab Vorstellungen, wo man dabei sein durfte. Vor allem in der Anfangszeit, wo ich auch noch zum Militär nach Radna musste, da waren halt nur die Samstage und Sonntage für mich frei. Da habe ich hauptsächlich an den bunten Abenden mitgemacht. Und dann durfte ich eine eigene Vorstellung machen: Es war eine Pantomime-Vorstellung, „Mosaik des Lebens“. Der erste Teil davon war die Pantomime, die ich zusammengestellt habe, und im zweiten Teil haben Schauspieler Gedichte vorgetragen. Auf Anraten von Robert Reiter, der ein wunderbarer Dramaturg war und auch ein Mentor für mich, durfte ich auch einen Dialog von Platon inszenieren: „Phaidros oder Vom Schönen“. Das waren die ersten Arbeiten. 

Wie unterscheiden sich das Deutsche Theater von damals und das von heute?

Man darf nicht vergessen, dass das Theater im Dialog mit einem Publikum lebt. Damals gab es in der Woche manchmal zwei, drei oder vier Abstecher. Und diese waren wunderbar: Man ist angekommen in einem sogenannten „Theater“, irgendwo, mit einem fantastischen, interessierten Publikum, das dann sicher die Atmosphäre bestimmt hat und auch den Dialog. Wenn zum Beispiel „Der Vetter Matz“ nach Busiasch kommt und spielt, war das ein Ereignis. 

Es waren auch wunderbare Texte, geschrieben von Hans Kehrer, die die richtigen Ohren getroffen haben. Dieses lebendige Ereignis ist eigentlich, was zählt, ein Abend, der dann wirklich aufblüht.

Dieser Dialog hat sich heutzutage verschoben. Es gibt ein anderes Publikum, auch eins, das überhaupt kein Deutsch versteht. Es wird auf einer anderen Ebene kommuniziert. Das hat sich verändert. Weil ich beim Ungarischen Theater in Klausenburg gearbeitet habe, weiß ich, dass es beim ungarischen Theater noch diese Qualität hat, weil die Zuschauer noch viel Ungarisch sprechen, hier in Temeswar auch. Beim Deutschen Theater ist – wie auch beim Jüdischen Theater in Bukarest – die Kommunikation über Umwege, was ja sehr fruchtbar sein kann, aber auch eine andere Richtung vorgibt. 

1975 ging es für Sie und Ihre Frau in die BRD. Im Laufe der Zeit agierten Sie als Schauspieler in Bochum, gaben Schauspielunterricht in Bern und Frankfurt, hatten Regieaufträge in Basel, Genf, Ulm, Freiburg, Regensburg u.a. Glauben Sie an Schicksal? Und dass es Ihr Schicksal war, Schauspieler, Schauspiellehrer, Regisseur, Choreograf zu sein?

Ja! (bestimmt und lächelnd) Es geht ja immer ein Schritt nach dem anderen. Und eine Arbeit bewirkt, dass man dann weiter eingeladen wird oder nicht mehr eingeladen wird. Ich hatte immer Glück. Ich habe eigentlich nie vorgesprochen und mich nicht beworben, sondern es ist immer das Echo der vorherigen Arbeit oder Arbeiten gewesen, dass ein nächster Vertrag und eine nächste Aufgabe kam. 

Natürlich war es sehr hilfreich, dass meine wertvollen Meister auch im Ausland waren. Wir haben mit Ciulei weitergearbeitet, mit David Esrig und Helmut Stürmer auch. Mit Pintilie war ich zweimal in Paris. Ich habe immer versucht, auch die Gruppe unserer Schauspielgeneration zusammenzuhalten, mit der wir von hier weggegangen sind: Albert Kitzl, Peter Paulhofer und mit der Ulla (Anm. Ulla Wolcz, seine Frau), natürlich haben wir in Frankfurt einiges zusammengestellt, auch in Stuttgart und in München. Es war ein glückliches Zusammenwirken, es war eine schöne Zeit.

Al Pacino sagte „Es gibt kein Glück, es gibt nur Konzentration“. Braucht man in dieser Branche Glück?

Ja. Wahrscheinlich braucht man Glück, weil es so viele Hindernisse gibt, so wie die Theaterwelt im Westen aussieht. Ich beziehe mich hauptsächlich auf Amerika, wo so vieles nur über Produzenten, über Agenten, über Casting-Direktoren geht, die eigentlich nicht das Sagen haben sollten. Sicher ist es etwas anderes, wenn man für einen Regisseur vorsprechen muss oder soll, der schon eine Vision hat und weiß, was er machen will. Glück ist schon, wenn man arbeiten darf. Schauspieler ist sowieso der schönste Beruf, wenn man ihn zu schätzen weiß. Glück ist etwas, was man erlebt, und man erlebt auch das Gegenteil. 

1996 erhielten Sie auf Empfehlung des rumänisch-amerikanischen Regisseurs und Professors Andrei Șerban das Angebot, an der Columbia University School of the Arts in New York zu unterrichten, wo Sie dann 21 Jahre lang tätig waren. Wie war diese Begegnung mit Andrei [erban nach Jahren? Und was waren die Herausforderungen in Amerika?

Mit Andrei hatten wir auch in Europa schon zusammengearbeitet, in Wien, in Genf und in London. Also war es nur eine Weiterführung der Arbeit. Bezüglich der Herausforderung: Er sollte die Schule leiten, Ulla und ich mithelfen. Die Herausforderung war sehr groß, aber die Kandidaten und die amerikanischen Schauspieler sind wunderbar, hauptsächlich von der Einstellung her. Sie kommen immer vorbereitet und gehen mit vollem Einsatz an die Arbeit. Sie wissen die Ausbildung zu schätzen, auch weil das System so unbarmherzig ist. 

Wir waren auch 14 Jahre in Frankfurt, auch bei der Schauspielschule und bei der Opernklasse in Berlin und in München am Unterrichten. Natürlich ist das amerikanische, kostspielige Studium nicht mit der Absicherung verbunden, dass man nachher Arbeit bekommt. Dann beginnt wieder dieser Hürdenlauf und man steht vor unfähigen Casting-Direktoren, die wie ein eiserner Vorhang eigentlich einem die Weiterentwicklung in der Karriere behindern. Das ist mein Eindruck nach 21 Jahren. Es waren so viele wunderbare Studenten, die keine Chance bekommen haben, weil sie eben nicht mit Künstlern in Dialog treten können bei diesen Vorsprechen.

Was ist für Sie die größte Herausforderung bei einer neuen Inszenierung?

Man weiß nie, wie man sich eigentlich richtig organisieren soll, weil die erste Intuition und die Inspiration, die man erwartet, wellenartig ist. Sie kommt, sie verschwindet, sie geht wieder, man nimmt eine Richtung, dann verwirft man sie, dann eröffnen sich neue Einsichten über den Text, über alle Informationen, die man eben zusammentut für eine Inszenierung. 

Und dann gibt es einen Moment, wo man eine Entscheidung treffen muss und eine Auswahl.  Und dann gibt es noch die Begegnung mit den Schauspielern. Man bereitet sich vor, da sind dann Zettel, Bücher, es sind Bilder und Musik, aber dann kommt der lebendige Schauspieler und das Ganze muss dann irgendwie über ihn erzählt werden. Das Bühnenbild kann schön sein, aber es muss dann immer wieder auf diesen fruchtbaren, lebendigen Boden fallen. Und das ist nur der Schauspieler.

Braucht man dann überhaupt noch Film- und Schauspielstudium in Amerika? Große Schauspieler wie Al Pacino oder De Niro sind ja von der Straße gekommen.

Sicher ist es beim Film verschieden, weil man den Typen nimmt und das Szenarium anpassen kann. Beim Theater ist es unmöglich. Wenn einer Talent hat, dann kann er auch ohne große Ausbildung es während des Spiels nachholen. Und weil Sie Pacino erwähnen: Ich habe ihn live auf der Bühne gesehen. Winzig klein! – Als Präsenz und als Stimme. Sein Medium ist Film, wo er natürlich fantastisch ist, vor allem in jungen Jahren. Es gibt auch viele Schauspieler, die in beiden Medien gut sind. Aber die kommen eben aus dem Theater.

Was ist das Schönste an Ihrem Beruf?

So ganz egoistisch gesagt ist das eine schöne Probe, wo man noch nicht vor ein Publikum treten muss, in voller Verantwortung. Es ist alles im Entstehen und vor allem darf man mit den Schauspielern zusammen in die Seele der Rollen hinein hören. Das ist hauptsächlich bei sehr wertvollen Stücken immer wieder ein Lebensunterricht. Das ist das schönste Erlebnis beim Zusammentun von kleinen Sachen, wo es plötzlich kreativ wird und wo die Spiegel unendlich werden.

Auf welche Erfahrungen hätten Sie in Ihrem Leben nur zu gern verzichtet?

Ich bin am 6. Januar geboren, zum Drei-Königsfest, und meine Oma hat immer gesagt, ich sei ein Glückskind. Ich kann mich nicht beklagen: Nichts, was mit dem persönlichen Schicksal zu tun hat, hat mich aus der Bahn geworfen. Es waren sehr schwierige Zeiten, auch große Herausforderungen, auch mit Enttäuschungen. Aber es war immer wieder auch ein Fenster, wo man rausschauen konnte. Natürlich war es schwer, als ich 2020 meine Partnerin  verloren habe (Anm.d.Red. nach über 45 Jahren Ehe). Aber sonst hat mir das Schicksal wirklich vieles geschenkt, vor allem im Beruf und in der Arbeit. Ich habe die ganze Zeit nur Geschenke bekommen, nur Geschenke!