Dortmund steht ein für Mykolajiw

Städte helfen Städten, Menschen helfen Menschen in der Ukraine

Die Vertreter der Städte Dortmund und Mykolajiw, der Präfektur Tulcea, der deutschen Botschaft Bukarest, der NGOs AcoR, IsraAID und Romulus T. Wheatherman Foundation | Fotos: George Dumitriu

Die Ukrainer freuen sich über die professionelle Winter-Arbeitskleidung: Sergey Korenev, stv. Bürgermeister von Mykolajiw (Mitte), Martin van der Pütten und Aiko Wichmann (rechts)

In der Kontrollzentrale des Hubs

Auf mehreren riesigen Monitoren sind dort alle Daten auf Mausklick abrufbar.

Unter der wolkenverhangenen Stadt an der Donau gießt es wie aus Kübeln. Das Tulcea Humanitarian Logistics Hub liegt auf einem Hügel hinter dem Friedhof. Wir parken im Hof, rennen in die riesige Lagerhalle: Pakete, Paletten, ein Bus mit Dortmunder Kennzeichen, in der Mitte ein Grüppchen Menschen. Ein Leuchten in ihren Gesichtern. Und ein Lächeln, das die Außentemperatur um mindestens zehn Grad hebt! Zwischen manchen von ihnen lagen vor Kurzem noch fast 3000 Kilometer – die Strecke zwischen Dortmund und Mykolajiw. Es ist das zweite Mal, dass die Stadt in Nordrhein-Westfalen eine Hilfslieferung in die Ukraine schickt. Begonnen hatte alles mit einem Kontakt auf der Plattform cities4cities.eu für europäische Städte, die ihren kriegsgebeutelten Pendents in der Ukraine direkt und unmittelbar helfen wollen. Hier in Tulcea stehen jetzt Menschen beisammen, die Freunde geworden sind – oder die es in diesem Moment werden: Um 10 Uhr, am 23. November 2022.

Ein junger Mann kommt strahlend auf uns zu. Über seiner Straßenkleidung trägt er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Dortmund stands with Ukraine“. Martin van der Pütten ist der Leiter des Büros für Internationale Beziehungen in Dortmund. An seiner Seite: Aiko Wichmann, Leiter des Vergabe- und Beschaffungsamtes, er hat den vollbeladenen Kleinbus über 2290 Kilometer selbst nach Tulcea gefahren.  Es war den beiden wichtig, bei der Übergabe dabei zu sein. Sergey Korenev, den stellvertretenden Bürgermeister von Mykolajiw, der zusammen mit dem Leiter des Brückenbauamts über 565 gefährliche Kilometer aus der anderen Richtung angereist ist, begrüßen sie wie einen alten Freund. Die Übergabe der Dortmunder Spende unterstützen und begleiten: Ahmed Bekov, Leiter des Wirtschaftsreferats der deutschen Botschaft Bukarest, Kreisratspräsident Horia Teodorescu und Eugen Ion, Bürgermeister von Jurilovca, Leiter der lokalen NGO AcoR.

Tulcea Hub: „Strenger als bei der NASA“

Das humanitäre Hub in Tulcea ist für die Übergabe essenziell, weil die europäischen Firmen ihren Lkws nicht erlauben, die Grenze zur Ukraine zu queren, erklärt Valerio Carafa, Emergency Operations Officer im Hub und Angestellter der größten israelischen humanitären Stiftung IsraAID, die sich zusammen mit der US-amerikanischen Romulus T. Wheatherman Foundation und AcoR um die Logistik kümmert. 

Das Hub in Tulcea sei die beste Anlaufstelle, wenn es um die Versorgung der Städte an der Front im Süden der Ukraine geht, erklärt der Italiener. In einer ausführlichen Präsentation erläutert er, wie die Hilfsgüter per QR Code erfasst werden und ihr Weg digital verfolgt wird, bis zur Empfangsbestätigung.  „Wir wissen genau, was sich wo und wie lange in welchen Lagern befindet.“ Behände klickt er zwischen Diagrammen und Karten mit farbcodierten Zielorten hin und her, zeigt an, was bisher geliefert wurde und wie die Verteilung vor Ort durch lokale, vertrauenswürdige NGOs erfolgt. Empfänger, die nicht über QR-Code Scanner verfügen, schicken Fotos. Die Bestätigung ist wichtig für die Spenderorganisationen. „Wir können unser System aber auch leicht in anderen Hubs installieren“, erklärt Garafa. In Odessa habe man bereits eines organisiert. Eugen Ion wirft ein: „Das ist hier strenger als bei der NASA!“

Seit Kriegsbeginn wurden über 2000 Tonnen Hilfsgüter über das Tulcea Hub versandt, davon rund 6 Millionen maßgeschneiderte Essenspakete – für stillende Mütter, Kleinkinder, Schwangere, etc. Mithilfe von Google Forms wird Feedback eingeholt: War das Essen ausreichend, leicht zuzubereiten, entsprach es den kulturellen Standards? Lokale NGOs fahren auch aufs Land, verteilen mit gespendeten Fahrzeugen. 

Versandt wird nur nach Bedarfslisten von vertrauenswürdigen Partnern. Manchmal kontrollieren wir auch vor Ort, sagt Garafa: „Nächste Woche fahre ich nach Kiew und Dnipro, Krankenhäuser besuchen, für die wir 157 Pflegebetten geliefert haben.“

Auf die Frage, ob ein Hilfsgüterzug jemals angegriffen wurde, antwortet er mit einem breiten Grinsen: „Bisher haben wir hundertprozentige Empfangsbestätigung!“ Stolz fügt er an: „Letzte Woche haben wir gleich nach der Befreiung von Cherson einen Transport mit Medikamenten im Wert von über 2 Mio. US-Dollar hingeschickt.“ 

Spenden, maßgerecht zugeschnitten

Auch die Dortmunder haben Medikamente aus der Uniklinik mitgebracht. „Schmerzmittel und Beruhigungsmittel für Schwerverletzte“, erklärt Martin van der Pütten. Auch Winterschuhe und Arbeitskleidung standen auf der Bedarfsliste, „weil es saukalt ist in Mykolajiw und die jeden Morgen nach jedem Angriff die Straßen reinigen und aufräumen.“ Die Kleiderpakete beinhalten alles, was man braucht, auch Schuhe, Socken und Unterhosen. Sie wurden von der Stadtverwaltung gekauft, doch als die Herstellerfirma den Zweck erfuhr, legte sie nocheinmal kräftig drauf. Auch zehn Fahrzeuge spendete die Stadt. „Die hätten wir im nächsten Jahr verkauft, aber wir verzichten auf die Erlöse.“ Zwei große Busse der Stadtwerke sollen als Heizpunkte dienen, „zum Aufwärmen, Teetrinken, übernachten, die wurden noch gewartet, TÜV und Ölwechsel gemacht, alles fährt, wir liefern keinen Schrott“, versichert van der Pütten. Auf den Kisten liegen blaue Schläuche, eingerollt: Auch zwei Kilometer Trinkwasserrohre standen auf der Liste. 

Mykolajiw: Das Leben geht weiter

Mykolajiws Trinkwassersystem bereite der Stadtverwaltung große Probleme, erklärt Sergey Korenev. „Die Hauptleitung aus Cherson haben die Russen zerstört. Wir waren gezwungen, Wasser aus dem Fluss in die Leitungen zu pumpen – aber es ist salzig, weil es aus dem Schwarzen Meer aufsteigt, dann kommen sogar Delphine bis Mykolajiw.“ Man kann es nicht trinken, nur zum Waschen verwenden, es wurde sogar behandelt, doch das Salz zerstört die Rohre. 

Seit der Befreiung von Cherson kann man nun endlich die Hauptleitung flicken. „Aber wir haben keinen Zugang zur gesamten Strecke, Teile sind noch vermint. Auch zur Pumpstation nahe Cherson haben wir keinen Zugang, wir kennen ihren Zustand nicht.“ 

Wie lebt man in Mykolajiw? „Es ist jetzt eisig kalt, vor zehn Tagen haben wir die Heizsaison begonnen. Bei der Elektrizität gibt es Ausfälle, wir brauchen dringend Hochleistungsgeneratoren“, erklärt Korenev. Mit leiser Stimme fügt er an: Seit Kriegsbeginn habe es nur 45 Tage ohne Raketenangriffe gegeben. Doch seit der Befreiung von Cherson sei es deutlich besser. Trotzdem habe vor wenigen Tagen ein vernichtender Angriff Wohnblocks zerstört und Menschen getötet. Die Mykolajiwer hätten sich an den Flugalarm gewöhnt, an das Rennen in Keller oder Bunker; manche würden gar nicht mehr rennen, man versuche, so normal wie möglich zu leben. Korenev erzählt von einer UN-Veranstaltung, auf der Designer angeboten hatten, für den Wiederaufbau der Stadt Grünzonen zu entwerfen. „Ich war schockiert“, gesteht er. „Und fragte, könnt ihr auch komfortable Bunker designen?“ Da waren sie schockiert. 

Korenev erzählt in ruppigem Englisch, mit warmen, traurigen Augen. In Friedenzeiten habe Mykolajiw eine halbe Million Einwohner gezählt. Heute sind es um die 250.000, „wir sehen das am Müll und am Abwasser“. Einige seien aufs Land geflüchtet, andere ins Ausland, die meisten haben ihre Kinder weggeschickt – auch er, sie leben in Konstanza, besuchen dort die Schule. Nur rund 10.000 Kinder leben noch in Mykolajiw. 

„Das Leben geht weiter“, sagt er überzeugend. 

Helfen mit Sinn, Zukunftsperspektiven

Wir schlendern in die Halle. Hilfspakete werden geöffnet. Fußballtrikots – warm und funktionell. Gefütterte Arbeitsschuhe. Die Männer beugen sich über die Schachteln,  in ihren Gesichtern Schulbubenfreude. Wie fühlt man sich bei so einer Aktion? „Endlich mal was Sinnvolles!“, entfährt es Martin van der Pütten. Aiko Wichmann fügte hinzu, wie wichtig es für ihn sei, dass alle Produkte nachhaltig und fair produziert wurden, das sei ein Motto von Dortmund.  Das Engagement der rund 15 beteiligten Verwaltungsmitarbeiter sei bewegend gewesen,  bemerkt van der Pütten. 
„Bei der letzten Spende haben wir Schneefräsen, Straßenwalzen und zwei Feuerwehrautos geliefert, damit erhalten sie in Mykolajiw ihre Infrastruktur aufrecht.“ Für die Bedienung letzterer habe man ein Instruktionsvideo erstellt. „Und wir bekommen Rückmeldungen, Fotos...“ Wichmann ergänzt: „Die ukrainischen Kollegen erzählten, dass die von uns gespendeten Fahrzeuge die besten in ihrem Fuhrpark seien.“ „Mit dieser Hilfe hat eine große Freundschaft begonnen“, bestätigt Sergey Korenev. 

Van der Pütten erzählt, dass Dortmund schon bald einem weiteren Partner in der Ukraine unterstützen wird: Die Stadt Schytomyr, der man beim Wiederaufbau helfen wolle. Erste Online-Workshops haben stattgefunden. In einem Projekt geht es um Ernährungswende, in anderen um Denkmalschutz, Klimaschutz, CO2-neutrales, barrierefreies Bauen,  Demokratieförderung. „Der stellvertretende Bürgermeister hat sich schon im Juli erkundigt, wie man die Stadt wieder aufbauen kann, wie man in die EU kommt, wie eine Stadt in der EU funktioniert“, ergänzt Wichmann. „Das hört sich surreal an, aber sie brauchen wohl das Gefühl, dass es weiter geht nach dem Krieg, dass wir da sind und bereit, gemeinsam auch den EU-Gedanken weiter zu tragen.“

Der Krieg ist noch lange nicht vorbei, daran erinnern auch die Organisatoren des Hubs. Nur die Spendenfreude habe seit Kriegsbeginn leider nachgelassen, erklärt Valerio Carafa. Die Spender hätten wohl den Eindruck, dass alles gut liefe. Dann sei diese Aktion jetzt der geeignete Moment, daran zu erinnern, wie essenziell die Spenden sind! „Der Winter naht, wir brauchen Decken, warme Kleidung“ – Neuware, denn mit Second Hand Kleidung gebe es bürokratische Hürden – „am besten direkt von Herstellern, Ware mit kleinen Defekten, die sich nicht verkaufen lässt,“ plädiert der junge Mann. Die Dortmunder pflichten ihm bei und empfehlen das Tulcea Hub wärmstens. „Wir sind hier wie eine Familie“, bestätigt Valerio Carafa. „Es ist die richtige Zeit, Freunde zu gewinnen“, bemerkt Ahmed Bekov. Das „Dortmund stands with Ukraine“ T-Shirt wechselt zum Abschied den Besitzer. Lächeln, Händeschütteln, Herzlichkeit. Das Tulcea Hub ist ein wunderbarer Ort, an dem Menschen für Menschen einstehen: Menschen für die Ukraine. Menschen für Menschlichkeit!