Dr. Paul-Jürgen Porr: „Hoffnung ist immer!“

ADZ-Reihe: Der Mensch hinter der Kulisse des Deutschen Forums

Interview mit Dr. Paul-Jürgen Porr Foto: George Dumitriu

Forscher, Fotograf, Reise-Fan und Familienvater – dies sind nur vier der fünf „F“, die ihn charakterisieren. Das fünfte – das „Forums-F“ – braucht man gar nicht erst zu erwähnen. Sonnenklar, dass es auf seiner Lebensbühne eine der Hauptrollen spielt. Doch wer ist der Mensch, der sich jenseits der Kulisse des für alle einsehbaren Schauplatzes – seinem Amt als Landesvorsitzenden des Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR) – verbirgt? Wer ist Dr. Paul-Jürgen Porr?

Hermannstadt, Juli 2017. Dr. Porr hat weiß Gott alle Hände voll zu tun. Immerhin ist es das bislang größte Sachsentreffen aller Zeiten, das hier gerade über die Bühne geht. Hohe politische Gäste aus dem In- und Ausland, der rumänische Staatspräsident – hinzu kommt eine unbarmherzige Sonne, die ausgerechnet dieser Tage die Stadt in einen Glutofen verwandelt. Trotzdem hat sich Dr. Porr Zeit genommen, im kühlen Forumshaus sitzen wir uns gegenüber. Er witzelt über seinen Sonnenbrand nach den Ansprachen im Freien: „Nobody is perfect. Na ja - Photoshop!” schlägt er lachend vor. „Da kenn ich mich aus, bin schließlich Mitglied der AAFR (Vereinigung der Künstler-Fotografen Rumäniens). Aber dazu kommen wir noch.”


Arzt aus Berufung

Die Zeit ist knapp und wir beginnen ganz einfach... bei dem kleinen Paul-Jürgen, der 1951 in Mediasch/Mediaș das Licht der Welt erblickte; der Vater stammt aus Wolkendorf/Vulcan im Burzenland, die Mutter aus Hermannstadt/Sibiu. „Kindheit, Schule, Abitur in Mediasch, dann in Klausenburg Medizin studiert”, zählt er auf. Und nein, die Eltern waren keine Ärzte. „Eigentlich wollte ich ja Physik studieren - bis zur elften Klasse“ gesteht er. „In der zehnten hab ich bei der Physik-Olympiade landesweit den vierten Platz gemacht – ein großes Ereignis für die Schule. Für meinen Lehrer war ich damals schon der Physiker der Klasse. In der zwölften hat sich das Blatt dann gewendet – das war wohl eine große Enttäuschung für ihn”. Vielleicht sei es die Krankheit seines Vaters gewesen, die ihn zum Umdenken veranlasst hat, sinniert Dr. Porr. Leid tut ihm die Wahl dennoch bis heute nicht.

Mit der selben Begeisterung wie zuvor der Physik widmet sich Paul-Jürgen Porr fortan dem Studium der Medizin, spezialisiert sich auf innere Medizin und Gastroenterologie und engagiert sich neben der Ausübung des Arztberufs bald auch in Lehre und Forschung. Beiden bleibt er sowohl während seiner Zeit als Klinikumsdirektor in Klausenburg, als auch nach seiner Berufung 2006 zum Klinikchef und Lehrstuhlinhaber nach Hermannstadt/Sibiu treu. Seine Forschungsgebiete: „Der Verdauungstrakt – Spurenelemente, Makro- und Mikroelemente, jahrelang Immunologie, in den letzten Jahren dann das Mikrobiom, also die Darmflora, die in vielen Stoffwechselkrankheiten involviert ist”, zählt er die Schwerpunkte auf. „Dieses Forschungsfeld war damals eine neue Front. Es gab da ja ein paar Quantensprünge,” holt er aus und erklärt die Entwicklung der Spitzengebiete der medizinischen Wissenschaft: „Erst Pawlow mit den Reflexen, dann die Genetik, dann die Autoimmunkrankheiten, dann waren in den 70er Jahren Magnesium und Spurenelemente sehr ‘in’ - und jetzt, seit etwa 10 Jahren, das Mikrobiom, das sich verändert im Laufe des Lebens, auch durch Antibiotika. Dann treten Krankheiten in Erscheinung, die mit dem Darm gar nichts zu tun haben: Fettleber, Herzinfarkt, Schizophrenie, Alzheimer. Letztere Krankheit – und das ist mittlerweile mehr als nur spekulativ – wird wohl durch Ablagerungen von Aluminium im Gehirn bestimmt, was in bestimmtem Darmkontext geschieht. Wenn man das kennt, kann man es verhüten, man kann eine bestimmte Darmflora im Labor züchten oder Fäkaltransplantationen machen, was zu 95 Prozent Erfolg zeigt. Auch hier in Hermannstadt machen wir das. - Das so übern Beruf!” bricht er plötzlich ab und lächelt: „Nun bin ich Rentner. Aber keinesfalls im Ruhezustand!”


Auswanderung – für ihn nie ein Thema

Seit Februar dieses Jahres kümmert sich Dr. Porr nun als ärztlicher Direktor um die Privatklinik Polisano, denn ab 65 sind die Einsatzmöglichkeiten im staatlichen Gesundheitssystem stark begrenzt: „Dreimal die Woche mach ich noch ärztliche Visite - nicht nur Verwaltung.” Arzt mit Leib und Seele - dazu kann er sich durchaus bekennen. Und zum schlechten Ruf des rumänischen Gesundheitswesens stellt er erst mal richtig: „Es gibt hier Unikliniken, die haben westliches Niveau. Man wird in Klausenburg genauso gut wie in Göttingen oder Heidelberg behandelt! Doch je tiefer man hinabsteigt - in Kreisspitäler, Stadtspitäler, Dorfarztpraxen – umso mehr herrscht großer Nachholbedarf“, räumt er ein. „Da sind wir noch bei weitem nicht auf EU-Niveau.”

Denkt man an den seit Jahren anhaltenden Braindrain der Ärzte aus Rumänien, aber auch an den Exodus der Rumäniendeutschen, drängt sich die Frage auf, ob auch für ihn nicht irgendwann Auswanderung zur Debatte stand. „Sicher, das Problem hat sich wenigsten einmal bei allen Sachsen oder Schwaben gestellt – doch bei mir war die Resultante immer, zu bleiben”, erklärt Porr und präzisiert: „Auf der Hochschule sagte ich, es lohnt sich nicht. In Deutschland ist der Traum der Ärzte, möglichst viel Geld zu scheffeln und nicht, zu forschen...“ Hinzu kam, dass, wer zur Ceaușescu-Zeit den Ausreiseantrag stellte, einiges riskierte: „Es gab keine Gewissheit, dass es klappen würde - es gab Leute, die 18 Jahre lang auf die Ausreisepapiere warteten. Sicher war nur eins: Wenn man eingereicht hatte, wurde man am nächsten Tag aus führender Position abgesetzt. Auch als Lehrer, denn da konnte man ja nicht mehr auf die Kinder losgelassen werden. Das wollten viele nicht riskieren.” Doch dann kam der Lawineneffekt, vor allem auf dem Dorf, erfasste auch Leute, die zuvor überzeugt getönt hatten, niemals weg zu wollen. „Als erste gingen die Pfarrer und Lehrer, und die Leute sagten sich, da muss ich ja meine Kinder auf eine rumänische Schule schicken, lieber zieh ich auch weg.” Anders sei es in der Stadt gewesen, doch auf dem Dorf sahen die Deutschen keine Zukunft, erklärt Dr. Porr.

Hätte man einen Teil der Leute nicht doch halten können? „Ich bin ein liberaler Typ”, kontert der Forumsvorsitzende. Auf den Vorschlag eines Landsmanns, Propaganda zum Hierbleiben zu machen, erwiderte er schlicht: „Propaganda hatten wir genug! Nun müssen wir Bedingungen schaffen. Aber das dauert eben seine Zeit.”


Politische Wende, neue Verantwortung

Die Revolution hat Paul-Jürgen Porr am Hauptplatz in Klausenburg erlebt – hautnah: „Am 21. Dezember wurde dort geschossen – einen Tag bevor Ceaușescu geflohen ist. 23 Leute sind gestorben.“ Am 15. Dezember hatte die Revolution in Temeswar begonnen, am 16. ging es weiter in Arad. „Wir wussten Bescheid über die Deutsche Welle oder Radio Free Europe.“ Am 22. folgte die Demo in Bukarest, die Flucht, der Sturz, das Ende.

Der Neubeginn: Schon in den letzten Dezembertagen hatte man ein provisorisches Parlament in Bukarest eingesetzt, dasselbe geschah auf Kreis- und Stadtebene. Doina Cornea, eine bekannte Dissidentin, hatte den Vorsitz des provisorischen Kreisrats in Klausenburg übernommen – und gefordert, da müssten auch ein paar Deutsche rein. Der erste war der Dichter und Verlagsleiter Franz Hodjak, erinnert sich Dr. Porr. „Doch der mochte keine Sitzungen: ‘Das ist nichts für mich – geh du!’ So kam ich rein, das war im Januar 1990.“ In Klausenburg bestand das Forum vor allem aus Intellektuellen: Der Vorstand zählte elf Mitglieder, darunter zehn Akademiker. Die deutsche Gemeinschaft in Klausenburg bestand zum Großteil aus zugewanderten Sachsen und Schwaben, die dort studiert hatten und geblieben waren. Man kannte sich, hatte sich auch vorher schon getroffen. Auch die Auswanderungswelle schlug dort nicht allzu stark zu Buche.

Bis 1995 blieb Gründungsmitglied Dr. Paul-Jürgen Porr der Vorsitzende des dortigen Forums. Danach übernahm er von Hans Klein die Leitung des Siebenbürgenforums, bis er 2013 an die Spitze des Landesforums gewählt wurde.
Schwierig waren für ihn anfangs der hohe zeitliche Einsatz, aber auch die vielen Fahrten, „es war ja alles ehrenamtlich, es war meine Zeit, oft auch mein Geld“, erklärt Dr. Porr. „Aber ich war nicht verheiratet, hatte keine Kinder.“ Motiviert hatte ihn „das typisch Sächsische eben, auch der Gemeinschaftssinn“. Das sei eine andere Generation gewesen. „Wenn ich mir die jetzige anschaue, da fragt jeder bloß ‘Was krieg ich denn dafür?’“
Dann kam die Auswanderungswelle. „Man fragte sich oft: für wen, vor allem aber, mit wem, geht es weiter?“


Köstliche Früchte der Freiheit

Die Wende brachte eine neue Verantwortung für Dr. Paul-Jürgen Porr – aber auch neue Freiheiten. Hatte er früher drei Anläufe gebraucht für ein Visum für die DDR, an Reisen in den Westen gar nicht zu denken, standen ihm auf einmal Tür und Tor offen. „Ich war elfmal in Asien, achtmal in Amerika, viermal in Afrika, zweimal in Australien, zweimal in Japan, in Neuseeland, Singapur, Indien, Türkei, Israel... Reisen? So much as possible!“ lacht er. Schon im Sozialismus hatte er Kasachstan, Usbekistan und Kirgisistan mit Reisegruppen besucht. „Da durfte man hin, es bestand ja keine Gefahr, dass einer über die Grenze nach Afghanistan abhaut!“ Etwa die Hälfte der Reisen fanden in Verbindung mit medizinischen Kongressen statt. An einen Termin in Tokio hängte er einen Monat Urlaub an. „Ich habe immer versucht, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden“, gesteht Dr. Porr. Die Urlaubsreisen hingegen fanden unter Eigenregie statt. „Wenn man mich fragte, mit welchem Reiseveranstalter ich gefahren sei, sagte ich immer: mit Porr Traveling Office“.

Sein liebstes Reiseland ist Italien. Etwa 20 Mal sei er dort gewesen: „Berge, Küste, aber auch das vom Menschen Geschaffene – Pisa, Florenz. Kleine Ortschaften – man steht am Hauptplatz und weiß nicht, wohin man zuerst schauen soll!“ schwärmt er. Vergleicht mit Rumänien - und gerät wieder ins Schwärmen: „Maramuresch, Bukowina, Fogarasch-Gebirge und Retezat, das Donaudelta... Wir könnten nur vom Tourismus leben, genau wie Österreich.“ Nur dass das Karpatenland noch vielseitiger sei und wildere Gegenden biete: „Das Wassertal. Das Karascher Bergland zum Wandern – da triffst du den ganzen Tag niemanden! Die Alpen hingegen sind zubetoniert: Seilbahnen, Sessellifte, man ist froh, wenn man einen Parkplatz findet. Natur: null!“ Bei aller Notwendigkeit einer touristischen Infrastruktur – die Fehler des Westens müsse man nicht nachahmen, meint er.


Worauf es ankommt

Unversehens sind wir nun doch bei der Politik gelandet. Auf den Punkt gebracht: Was sollte sich ändern in Rumänien? „Die politische Landschaft“, diagnostiziert er messerscharf. „Wir haben keine Parteien, wir haben politische Cliquen. Ich kenne Leute, die in 26 Jahren in sechs bis sieben Parteien waren, von links bis rechts, von extremistisch bis Mitte - wie beim Gastroskop, bei jeder Magen-Darmkrümmung geht man mit,“ spottet er. Die junge Generation Politiker? „Enttäuschend.“ Die Wahlen im letzten Dezember? „Ein Rückschlag für Jahre.“ Hoffnung? „Hoffnung ist immer! Man hat auch schon über das Ende der Siebenbürger Sachsen gesprochen – und es ist doch nicht eingetreten.“

Auf die Frage, was ihm persönlich Energie verleiht, kommt wie aus der Pistole ge-schossen:„Alles was schön ist!“ Bergsteigen, Musik, Literatur, Fotografie – „in Klausenburg hatte ich oft Ausstellungen – jetzt nicht mehr, ich knips halt so weiter.“ Spitzbübisch erzählt er über sein Abenteuer in den Anden mit bereits über 50, als begleitender Mediziner für eine Extrem-Klettergruppe des Bu-karester Voin]a-Clubs, deren Arzt ausgefallen war. „Es ging bis fast 6800 Meter hoch – mein höchster Berg bisher war der Fuji mit 3776 Metern.“ Zwei Monate blieben dem damaligen Raucher (meinen ungläubigen Blick kommentiert er augenzwinkernd: „Wissen Sie, mit den Ärzten ist es wie mit den Pfarrern, man soll tun, was sie sagen, nicht, was sie selber tun!“) zum Trainieren.

Dann trat ein anderes Abenteuer ins Leben des rastlosen Mediziners – Familie. Heute ist Dr. Porr stolzer Vater eines neunjährigen Buben, das Töchterchen ist sieben. „Ich hab erst mit 55 geheiratet, daher die kleinen Kinder“, lächelt er sanft, fast entschuldigend. „Meine Frau ist Rumänin, orthodox“ fügt er an, „ich evangelisch wie alle Siebenbürger Sachsen“. Zuhause wird Deutsch gesprochen, wenn Papa dabei ist. Zwei Sprachen, zwei Konfessionen – für die Porrs ganz normal. Zu all dem, was ihn umtreibt, gehört seither unbedingt auch das tägliche Spiel mit den Kleinen: „Und wenn sie um neun im Bett sind, mach ich mir einen Kaffee; dann wird bis halb eins gearbeitet.“ An der Rede für übermorgen, an dem medizinischen Fachartikel oder dem Vorwort für das Deutsche Jahrbuch. Zeit – an der hat es ihm schon immer gemangelt! Sein Herzenswunsch? Die Frage quittiert er mit einem verschmitzten Grinsen: „Ich hab mir vorgenommen, nach 50 Jahren Arbeit 20 Jahre Rente zu erleben. Das wäre ein akzeptabler Rapport.“ Hoffnung ist immer.