Eigentlich sind wir doch alle ein großes „Wir“

Eine atemberaubende Performance bot die ukrainische Tanzgruppe „Cervona Kalena“. | Fotos: George Dumitriu

Bei den Serben erzählen Tänze Geschichten – hier über die regenmachende serbische Version der „Paparuda“, interpretiert vom Ensemble „Akud Mladost“ aus Temeswar.

Rhythmisch, kraftvoll, in den Farben Israels – so präsentiert sich das Ensemble „Haverim“ der jüdischen Minderheit aus Bukarest.

Die Roma-Sängerin Yna Chiriac mit der Blaskapelle aus Cozmești, in der auch ihr Vater mitspielt, hat schon mehrmals bei ProEtnica Abendkonzerte bestritten.

Wie aus dem Märchen Tausendundeine Nacht: Mädchen der türkischen Tanzgruppe „Fidanlar“ aus Konstanza

Die griechische Minderheit zeigte im barocken Rathaussaal den Doku-Film „Die griechische Revolution von 1821 auf rumänischem Boden“.

Eine gehörige Prise Paprika im Blut: die ungarische Tanzgruppe „Hanga“ aus Petrisat im Landkreis Alba

Wie immer lässt sich das Publikum von der ausgelassenen Stimmung der Tanzgruppen auf der Bühne mitreißen. Jeder Tag endet mit der „Parade der ethnokulturellen Vielfalt“.

„Wenn die Musen sprechen, müssen die Waffen schweigen“ – mit diesem ironischen Spruch leitet Volker Reiter, Initiator und Organisator des seit 2001 fast jährlich in Schäßburg/Sighișoara stattfindenden ProEtnica Festivals, dieses nach zwei Jahren Corona-Pause ein. Die Idee hinter ProEtnica: Interkultureller Dialog, der Einsatz für die Rechte der Minderheiten und die Bewahrung der plurikulturellen Diversität als Garant für den Frieden. Unser Nachbarland Ukraine demonstriert, wie wichtig das Thema wieder geworden ist: Der Krieg mitten in Europa, mit dem im 21. Jahrhundert kaum jemand noch gerechnet hat, gibt harte Lehren auf.  Nicht nur, dass in Konflikten Minderheiten oft als Spielball politischer Reibungen instrumentalisiert werden, oder dass selbst in weit entfernten Ländern Rückwirkungen zu beobachten sind. Auch die ethnische Vielfalt vor Ort ist unmittelbar bedroht, das Ausmaß noch gar nicht abzuschätzen...

Vor allem in diesem Jahr wird deutlich, dass ProEtnica mehr ist als nur ein  Trachtenspektakel. Hinter Folklore und Unterhaltung als vordergründige Attraktionen für das Publikum steht die Chance für interkulturelle Beziehungen. In den begleitenden Diskussionen und Konferenzen geht es dann hart zur Sache: Im Mittelpunkt vieler Betrachtungen stehen die Geschehnisse in der Ukraine, die Auswirkungen von Krisen und Krieg auf Minderheiten allgemein und die mahnende Erinnerung an früheres Unrecht – Völkermord, Deportation, Unterdrückung und Revolution.

Frieden braucht Vorbilder

Nach Corona haben viele nicht mehr geglaubt, dass ProEtnica noch eine Chance hätte, gesteht Volker Reiter. Doch das Departement für Interethnische Beziehungen an der Regierung Rumäniens (DRI), Unterstützer des Festivals neben dem Kreisrat Mure{ und vor Ort vertreten durch Staatssekretärin Enikö Lacziko und Unterstaatssekretär Thomas Șindilariu, will sich  in Zukunft sogar noch stärker einbringen, heißt es zur Eröffnung der 18. Ausgabe des fast fünftägigen Kultur- und Bildungsevents vom 25. bis 28. August.

Das Programm beginnt mit dem Gedenken an zwei kürzlich verstorbene Unterstützer: Dr. Aurel Vainer, Vorsitzender der Föderation der jüdischen Gemeinschaften in Rumänien (FCER) und Dr. Carol König, Historiker, Geologe, Experte für alte Waffen und in der Kommission für deutsch-rumänische Kultur im Kulturministerium. Der jüdische Abgeordnete Silviu Vexler, Vainer-Nachfolger, und Carmen Croitoru, Forscherkollegin von Carol König, sowie die Staatssekretärinnen Irina Cajal-Marin und Enikö Lacziko tragen vor. „Frieden ist nicht das Fehlen von Krieg“, mahnt Lacziko, und „Frieden braucht Vorbilder“, die sich für Diversität und Dialog aktiv einsetzen - Menschen, die Menschen lieben, Menschen wie Vainer und König. 

Griechenaufstand, Baragan-Deportation

Nach der Podiumsdiskussion zum Thema „Friedensförderung durch Nicht- Diskriminierung und Solidarität im Krisenkontext“ mit Lacziko, Cajal-Marin, den Perofessoren Lucian Nastasă Kovács, und Radu Carp, Vexler, Maria Koreck und Reiter zeigt die griechische Minderheit eine Kurzvariante des 120 minütigen Doku-Films „Die griechische Revolution von 1821 auf rumänischem Boden“. Der Aufstand gegen die türkische Oberhoheit unter Alexander Ypsilantis, der zur Unabhängigkeit Griechenlands führte, begann in der Walachei und der Moldau, wobei die rumänische orthodoxe Kirche eine bedeutende Rolle spielte: Mitropolit Veniamin Costache in Jassy/Iași gab seinen Segen dazu. Die schwersten Kämpfe fanden im oltenischen Dragașani statt, die schlimmsten Massaker an den Griechen (und rumänischen Mönchen) im moldauischen Kloster Secu (Neamț). Erst nach dieser rumänischen Phase hat sich der Aufstand auf dem Boden des heutigen Griechenlands entflammt. 

Um Geschichtsaufarbeitung geht es auch bei der Vorstellung des Buches „Rubla, locul fără umbra“ von Mariana Gorczyka, das die Deportation aus dem 25 Kilometer breiten Grenzstreifen zu Jugoslawien 1951 im Kontext des Konflikts zwischen Tito und Stalin in die Baragan-Steppe in Romanform beschreibt. Rund 24.000 Deportierte mussten dort 18 Dörfer buchstäblich aus dem Boden stampfen – eines davon ist Rubla. Die Straßen wurden mit der Schnur gezogen, die Stellen für den Hausbau mit Pflöcken markiert, die zwangsangesiedelten Bewohner mussten Lehmziegel („chirpici“) gießen. 

124 Banater Schwaben, 106 Rumänen, 39 Bessarabier und Bukowiner, 11 Makedonier, 19 Türken und 8 Serben waren in der „schwarzen Pfingstnacht“ ausgehoben worden. Ihre größte Hoffnung: dass endlich die Amerikaner kämen! So weigerten sie sich zunächst, Häuser zu bauen und gruben nur Notunterkünfte in die Erde. Erst nach dem großen Regen im Herbst erkannten sie den Ernst der Lage...

Das Buch habe sie in der Pandemie geschrieben und somit gut nachvollziehen können, wie es sich anfühlt, wenn man den Ort nicht verlassen darf, gesteht die Autorin. Für ihre Recherchen hat sie sich an die Orte begeben, aus denen ihre Haupthelden stammen: Șvinița, Orschowa und Eibenthal am Eisernen Tor, Gottlob und Sankt Großnikolaus im Banat.

Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Minderheiten

Die Highlights des Konferenzprogramms waren die Präsentationen von Prof. Radu Carp von der Uni Bukarest zum Thema „Wie der Krieg in der Ukraine die ethnische Vielfalt bedroht“, aber auch der Vortrag des Minderheitenreferenten von Brandenburg, Meto Nowak, der sich zur Minderheit der Sorben zählt. Nowak beleuchtete, wie der Ukraine-Krieg Minderheiten selbst in Deutschland beeinflusst und zu Diskriminierung führen kann – Beispiele sind u. a. ukrainische Roma oder ethnische Russen.

Eine Art Spaziergang durch Konfliktsituationen und versuchte Völkervernichtung in der Geschichte unternahm der Historiker Lucian Nastas² Kovács von der Babe{-Bolyai Universität. Russland hatte gegenüber seinen Minderheiten immer Genozid-Haltung, erklärte dieser und nannte als Beispiel die inszenierte Hungersnot „Holodomor“ in den 1930 Jahren in der Ukraine: „Dezimierung geht auch ohne Waffen.“

Aus dem Teilnehmerkreis wurde die Frage laut, ob die Zivilistenmassaker von Butscha und ähnliche Ereignisse im aktuellen russischen Angriffskrieg in der Ukraine als Genozid einzustufen seien. Die Antwort des Experten: Ja – und weil Russland damit die Regeln eines Krieges verletze, bezeichne es diesen hartnäckig als Sonderoperation! „Leider liegt das Recht bei globalen Konflikten immer auf Seiten des Siegers“, fügte der Vortragende wenig optimistisch hinzu.

Antizipierendes Minderheiten-Krisenmanagement

Staatssekretärin Enikö Lacziko berichtete über den Versuch, im DRI ein Konzept für ein antizipierendes Krisen- und Konfliktmanagement zu erarbeiten. Auslöser sei die Corona-Pandemie gewesen: Über Nacht brachen alle Programme zusammen, „doch die Leute, für die wir arbeiteten, waren noch da – und die Themen auch!“ Ziel war, eine Strategie zu entwickeln, die das Management von Diversität vor verschiedenen Herausforderungen ermöglicht – Gesundheitskrise, Krieg, politische Instabilität oder interethnische Konflikte. Am Beispiel der Pandemie wurde untersucht, wie Hass gesät wird, aber auch, welche Konsequenzen Krieg und Finanzkrise auf die Tätigkeit des DRI haben. Dabei wurde die Frage beleuchtet, ob Minderheiten etwas gemeinsam bewirken könnten, indem sie auf ihre individuellen Bedürfnisse vorübergehend verzichten.

Wie der Krieg die ethnische Vielfalt bedroht

Radu Carp befasste sich in seinem Vortrag mit der Region Budschak/Bugeac im Süden der Moldaurepublik und der Ukraine zwischen Odessa und Rumänien. Sie sei hinsichtlich ethnischer und linguistischer Diversität besonders interessant. Der Krieg stelle für diese eine große Gefahr dar, über die jedoch wenig diskutiert wird, weil die Region wenig studiert wurde und das Problem kaum bekannt sei. Carp hat ein Buch in kleiner Auflage dazu veröffentlicht, sucht bisher vergeblich Finanzierung. Dabei könnten seine Erkenntnisse gerade jetzt wichtig sein.

Im Budschak leben neben der ukrainischen Mehrheit Rumänen, Moldauer, Bulgaren, russophone Gruppen (u. a. Lipowaner oder Russen, die nach der Rücksiedlung der Bessarabiendeutschen 1940 dort angesiedelt wurden) und das Turkvolk der Gagausen. Darüberhinaus gibt es reine Enklaven (z. B. Bulgaren) oder gemischte Zonen, die als Enklaven inmitten der ukrainischen Mehrheit liegen: Bulgaren mit Rumänen (bei Isaccea), Bulgaren mit Russen.

Minderheiten würden im Konfliktfall häufig zum Spielball, illustriert Carp an einem Beispiel: „Immer wenn es Spannungen zwischen Russland und der Türkei gibt, wird Gagausien plötzlich ein Thema. Ist der Konflikt beendet, verschwindet auch das Minderheitenproblem.“

Das negativste Szenario sieht Carp für den Fall, dass die Russen Odessa einnehmen. Über die dortige extrem große Diversität gibt es viele Studien – nicht jedoch über die Beziehungen von Minderheiten zu ihren jeweiligen Mutterländern. Wie zum Beispiel stehen die Russen in Odessa zum Mutterland? Wie russisch-treu sind überhaupt die Russen in der Ukraine? Und was hat sich daran seit Kriegsbeginn verändert? Wie würde sich eine – von den Russen angestrebte – Isolierung von Odessa, des Budschak von Rumänien oder eine Blockage der Donau auswirken?

Die ethnische Diversität reicht bis in die Zarenzeit zurück: Als die Stadt annektiert wurde, hat man Deutsche, Polen und Schweizer angesiedelt, um Landwirtschaft zu betreiben. Als Beispiel nannte er den Ort Schabo, wo man Schweizer Kolonisten für den Weinbau eingeladen hatte. Noch heute gibt es in Odessa Wein und Cognac mit dem Namen Schabo.

Die größten ethnischen Gruppen in Odessa sind: Ukrainer, Rumänen, Russen, Armenier und Juden. Die Stadt galt vor Kriegsbeginn als diverseste Region der Ukraine. Inzwischen sind zahlreiche Russen nach Russland, Europa oder andere Staaten wie Georgien ausgewandert. Wieviele Angehörige von Minderheiten insgesamt migriert sind, darüber gibt es keine Zahlen. Auch die Binnenmigration verändert das Lagebild: „Cernowitz ist voller Flüchtlinge aus russisch besetzten Gebieten.“

Nach Kriegsende Minderheitenrechte klären

„Der Angriff auf die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen“, beginnt FUEN-Präsident Vincze Lorant (UDMR),  doch könne man die Haltung des ukrainischen Staats seinen Minderheiten gegenüber nicht ignorieren. Um den Einfluss der russischen Sprache und Kultur zu minimieren, gab es mehrere Gesetzesänderungen, die die Identität der Minderheiten bedrohte. Der Unterricht in der Muttersprache wurde eingeschränkt und Minderheitenblätter gezwungen, zweisprachig zu erscheinen.

Interventionen von FUEN (Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten) führten nie zu hochrangigen Kontakten, sodass sie praktisch ergebnislos blieben. Nach Kriegsende müsse das Thema Minderheitenrechte geklärt und verbrieft werden. Immerhin habe die Ukraine die europäische Charta der National- und Minderheitensprachen unterzeichnet.

Mitglied bei FUEN sind mehrere Minderheitenorganisationen in der Ukraine: die Griechen in Mariupol – inzwischen fast vollständig nach Thessaloniki migriert, Moldauer, Tataren, Deutsche und Transkarpatien-Ruthenen.

Wie viele Minderheitenmitglieder die Ukraine seit dem 24. Februar verlassen haben, lässt sich nicht beziffern.

„Was jetzt immerhin Positives passiert“, ergänzt Radu Carp, sei die Eliminierung des ideologischen Ballasts aus der Sowjetzeit. Zu lange habe man den Ukrainern die Feindschaft der Nachbarländer, einschließlich Rumänien, gepredigt. Nun würden sie am eigenen Leib erleben, dass man gut zusammenleben kann. „Für FUEN könnte dies eine gute Chance sein, jetzt mit den Ukrainern zu reden.“

Ein Netzwerk für Flüchtlinge

Mit Flüchtlingen aus der Ukraine befasst sich der Verein „Suryam“ von Marius Dumitrescu im Projekt „Mure{ Hub“. Auf Kreisniveau gibt es insgesamt 14 solcher  NGOs, die Maria Koreck koordiniert. Einige stellen Wohnraum oder Mahlzeiten zur Verfügung, andere arbeiten mit Kindern. „Mureș Hub“ existiert seit März – und seither haben sich die Bedürfnisse der Geflüchteten stark gewandelt, weg von Spendengütern, Verköstigung und Wohnung – letztere sind inzwischen für alle Ukrainer in Rumänien gesichert – hin zu Einschulungsproblemen, Behördengängen, Arbeit und Aufenthaltserlaubnis.

Wichtig ist, dass sie nicht zu lange in Übergangswohnungen isoliert bleiben, sondern so schnell wie möglich eine Aufgabe und soziale Kontakte finden, meint Dumitrescu. Selbst nach sechs Monaten Krieg sei es immer noch bezeichnend, wie sich die meisten vorstellen:„Ich bin Ludmila aus Mariupol und wäre beinahe vergewaltigt worden...“. Das Trauma ist Identität geworden.

Ein großes Problem ist die Schulbildung. Manche Schulen in der Ukraine bieten Online-Unterricht. Schwierig ist es für Kinder, die diese Möglichkeit nicht haben, aber aus sprachlichen Gründen in keine rumänische Schule integriert werden können.

Leider hat sich in Mureș inzwischen auch eine „Hass-Gruppe“ herausgebildet, die behauptet, „Ukrainer stehlen Arbeitsplätze“. Dumitrescu stellt jedoch klar, dass das Hub keinerlei lokale Gelder verschlingt. Das Projekt wird vom britischen Spendennetz Oxfam finanziert, erklärt Koreck.

Die Anzahl der NGOs, die an den Grenzen aktiv sind, habe inzwischen stark abgenommen, beobachtet Dumitrescu besorgt. Dabei gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass der große Ansturm erst bevorsteht, wenn die Heizperiode beginnt: „Wir müssen auf diese Welle vorbereitet sein“.

Ukrainerinnen treffen wir auch auf dem Streifzug durch die Burg. An einem Stand verkaufen geflüchtete Frauen T-Shirts und selbstgemachte Kuchen, während „unsere“ Ukrainer am Burgplatz auf der Bühne tanzen. Ich gucke hinunter auf den Schriftzug „Save Ukraine“ auf meiner Brust; zwei Hände, ein Herz, auf blaugelbem Grund. Was lehrt uns dieser Krieg? Und was lehrt ProEtnica? Dass wir gut zusammenleben können. Eigentlich sind wir doch alle ein einziges großes „Wir“!