Ein Buch, das nötig war

Ein mustergültig konzipiertes Werk über die Verschleppung Deutscher aus Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg

Albert Bohn, Werner Kremm, Peter-Dietmar Leber, Anton Sterbling, Walter Tonța (Hrsg.): Die Verschleppung der Deutschen aus dem Banat in die Sowjetunion aus der Sicht ihrer Kinder. Erzählberichte. (Schriftenreihe: Banater Bibliothek 20), Eigenverlag der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V., München 2021, 501 Seiten

Nach den Werken von Georg Weber u. a. (1995) und von Otfried Kotzian u. a. (2015) über die Deportation der Siebenbürger Sachsen bzw. der Bukowinadeutschen in die Sowjetunion 1945-1949 liegt mit dem hier zu besprechenden Buch ein weiteres grundlegendes sowie mustergültig konzipiertes und ausgeführtes Werk über die mehrjährige Verschleppung Deutscher aus Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg vor. 

Etwa 150.000 Deutsche aus Rumänien, Jugoslawien und Ungarn sind damals auf grausame Weise in die Sowjetunion verbracht worden. Mehr als 70.000 von ihnen stammten aus Rumänien, von denen etwa ein Viertel die Deportation nicht überlebte. Diese Deportation durfte in Rumänien bis zur politischen Wende 1989/1990 nicht oder nur verklausuliert und damit auch verharmlosend angesprochen werden. Zwar ist die Deportation nicht von rumänischer Seite, sondern von Stalin angeordnet worden, aber die rumänische Polizei und das rumänische Militär führten sie oft überaus hart durch. Wenn Rumäniendeutsche während der sozialistischen Zeit, wie z. B. Johann Lippet in Temeswar im Jahr 1977, die Deportation thematisierten, gerieten sie schnell in die Aufmerksamkeit der Securitate, des staatlichen Geheimdienstes Rumäniens, der eine Behandlung des Themas verhindern wollte, worauf William Totok in seinem Beitrag über die Deportation in diesem Buch (S. 435-439) hinweist.

Gleich nach der politischen Wende organisierte sich in Rumänien ein Verband ehemaliger Russlanddeportierter u. a. mit dem Ziel, als politisch Verfolgte staatlich anerkannt zu werden und, nach geltender Gesetzgebung, demzufolge eine finanzielle Entschädigung für ehemalige Deportierte und – später – auch für ihre Kinder zu erwirken. Außerdem leistete er materielle und medizinische Hilfe für seine Mitglieder. In der deutschsprachigen Presse Rumäniens wurden Erlebnisberichte Deportierter publiziert. In Deutschland wurde über das Thema erst 1995 öffentlich debattiert. Auf diese und damit zusammenhängende Sachverhalte macht Peter-Dietmar Leber, einer der Herausgeber des Buches, in der Einführung dieses Buches (S. 7-10) aufmerksam. In der großen Öffentlichkeit Deutschlands und auf internationaler Ebene wurde das Thema erst durch die Banater Schwäbin Herta Müller bekannt, nachdem sie 2009 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte. Besonders ihr Roman „Atemschaukel”, in dem sie die Erlebnisse eines Deportierten (des Schriftstellers Oskar Pastior) verarbeitet, erfuhr höchste Beachtung und Wertschätzung. Auch die Mutter von Herta Müller war unter den Deportierten gewesen.

Trotz der biographischen, wissenschaftlichen und literarischen Publikationen über die Deportation gab es in Rumänien noch bis in die jüngere Zeit unzulängliche literarische und filmische Aufarbeitungen des Themas, wie William Totok in seinem schon oben genannten Beitrag am Beispiel von Lindenfeld, einem heute verschwundenen Dorf im Banater Bergland, ausführt (bes. S. 438 f.).

Das Besondere des hier besprochenen Buches ist nicht nur die Konzentration auf die Deportationen, die aus dem Banat erfolgten, sondern auch, und vor allem, auf die Erinnerungen der Kinder von Verschleppten an deren Deportation, an die Rückkehr von Verschleppten und an die Gespräche, die ihre verschleppten Eltern nach ihrer Rückkehr geführt hatten.

Die Idee, die Verschleppungen und ihre Folgen vor allem aus der Sicht von Kindern zu erfassen und zu dokumentieren, entstand nach einer Gedenkveranstaltung der Landsmannschaft der Banater Schwaben am 74. Jahrestag des Beginns des Deportationsgeschehens, nämlich am 12. Januar 2019, und sie wurde vom Mitherausgeber Albert Bohn vorgeschlagen, er selbst ein Sohn von Russlandverschleppten. Bei dieser Veranstaltung waren keine ehemaligen Deportierten, wohl aber viele ihrer Kinder anwesend. So wurde das Vorhaben, die Erzählberichte von Kindern zum Gegenstand einer Publikation zu machen, in der Banater Post (München) am 5. August 2019 und in der Allgemeinen Deutschen Zeitung (Bukarest) am 27. September 2019 angekündigt, und es wurde um Mitwirkung gebeten. Die Resonanz auf diese Ankündigungen war so stark, dass 117 Berichte im publizierten Buch berücksichtigt werden konnten (wiedergegeben auf S. 15-408).

Den Verfasserinnen und Verfassern der Berichte war zu ihrer Orientierung von den Projektleitern und Herausgebern des Buches ein Merkblatt (S. 491 f.) und ein Blatt mit Leitfragen (S. 493) geschickt worden. Die in den Berichten angesprochenen Themen beziehen sich vor allem auf den Abschied der Deportierten von ihren Kindern am Bahnhof, auf die Berichte der zurückgekehrten Deportierten über die extrem schwere Arbeit und die menschenunwürdige Unterkunft und Behandlung in den sowjetischen Lagern, auf den Hunger, den die Deportierten ertragen mussten sowie auf andere Entbehrungen und auf Misshandlungen, welchen sie ausgesetzt waren. Erwähnt werden in den Erzählberichten jedoch auch Hilfeleistungen, die seitens der russischen Zivilbevölkerung den Deportierten gewährt wurden, obwohl diese selbst auch darbte. Wichtige Themen der Berichte sind außerdem die Lebensbedingungen der Kinder ohne Eltern im Banat und ihr Einbezug in die schwäbische Gemeinschaft sowie Erinnerungen der Kinder an die Rückkehr ihrer Eltern aus der Sowjetunion ins Banat, an die Bedeutung des Themas Deportation in den Gesprächen innerhalb der Familie nach der Zeit der Deportation und an die Ausblendung dieses Themas in der Öffentlichkeit und in den Medien Rumäniens.

Die Berichte sind insgesamt erschütternd. Dieser Eindruck soll durch die folgenden Sätze aus den Berichten beispielhaft angedeutet werden: 1. hinsichtlich der Abschiedsszenen bei der Deportation: „Nimm dein Kind nochmal auf den Arm, vielleicht ist es das letzte Mal.“ (S. 20). – „Mammi, kämm mich noch mal!“ (S. 26); 2. bezüglich der Erinnerungen an die Rückkehr: „,Und wer bist du?‘ fragte ich die Frau. ‚Ich bin deine Mutter.‘“ (S. 127); 3. hinsichtlich der Situation der Kinder ohne Eltern: „Immer wieder ging ich zurück zum alten Haus, wo ich zuletzt mit meiner Mutter wohnte, doch meine Mutter war nicht da.“ (S. 290). – „Meine Großmutter nahm sich vor, beide Elternteile zu ersetzen.“ (S. 360).

Nach den Erzählberichten folgt im Buch eine wissenschaftliche Analyse der Darstellung der Verschleppung in die Sowjetunion durch den Mitherausgeber Anton Sterbling (S. 409-433). Besonders zu schätzen ist an seinen Ausführungen die theoriegeleitete Vorgehensweise und die übersichtliche Gliederung der theoretischen Reflexionen und empirischen Befunde. Zum Einstieg in die Thematik geht der Autor auf die Verbindungen zwischen kollektiver und individueller Erinnerung ein. Daran schließt sich eine Darstellung der Besonderheiten der Erinnerung an die Deportationen an. Da die Sowjetunion die Deportationen mit der Kollektivschuld der Deutschen für die Verbrechen des Nazi-Regimes begründete, setzt sich der Autor mit den Begriffen Kollektivschuld und Sippenhaftung auseinander und zeigt, dass diese auf archaischen Rechtsvorstellungen und totalitären gesellschaftlichen Verhältnissen beruhen, welche die Basis für Unrechtspraktiken bilden. Kommunisten waren ebenfalls unter den Deportierten. Auch sie wurden von der Sowjetunion als Deutsche in eine kollektive Mithaftung genommen. Im Buch wird mit den Hinweisen auf die Vergehen und Verbrechen des diktatorischen Regimes in der Sowjetunion der Nazi-Terror selbstverständlich nicht relativiert. In seinen weiteren Ausführungen gibt Sterbling einen klaren Überblick über die bisher vorliegenden Publikationen zur Deportation aus Rumänien und regt zu weiterer Beschäftigung mit dem Thema an.

Das Buch wird ergänzt durch statistische Informationen und Tabellen über die Deportation der Banater Berglanddeutschen (durch Ovidiu Laurențiu Roșu auf S. 441-487), durch Kopien von Ausweisen Deportierter (S. 494 f.) und durch eine Liste der mindestens 43 Lagerorte in Russland und in der Ukraine (S. 497 f.).