Ein Platz für Menschen, die keinen in unserem Leben haben

Reintegrationsprogramm in Temeswar gibt Erwachsenen mit Behinderung die Chance auf Teilhabe am Gemeinschaftsleben

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie oft siehst Du Menschen im Rollstuhl auf der Straße, im Bus oder in der Bahn? Wie oft jemanden, der sich den Weg mit einem weißen Stock ertastet  oder von einem Hund geführt wird oder Leute, die sich auf der Straße durch Gesten verständigen? Die Antwort lautet wahrscheinlich „selten“, „kaum“, „nie“… Und dabei wären das noch die sichtbarsten Einschränkungen, die manche unserer Mitmenschen erleben und die ihnen die Teilhabe am Gemeinschaftsleben erschweren. Und diese Menschen leben selten inmitten der Gemeinschaft, weil zum einen die nötige Infrastruktur fehlt, die ihnen den Zugang ermöglicht, gemeint ist die Barrierefreiheit, die sich nur mühsam im rumänischen Alltag durchsetzt, zum anderen aber die rumänische Gesellschaft, die ihr Bestes getan hat, um Personen, die nicht ganz der Norm entsprechen, in die Peripherie zu verbannen, in Heime, die meist auf dem Land errichtet wurden. Erwachsene und Kinder mit Behinderungen, die im familiären Umfeld keine Unterstützung finden, wachsen in Heimen auf, die der Öffentlichkeit verschlossen bleiben. In Rumänien leben in solchen staatlich geführten Heimen über 17.000 Erwachsene (die Zahl der Betreuten in privaten Einrichtungen ist nicht bekannt) ein fremdbestimmtes Leben, von dem der Großteil der Gesellschaft nichts weiß und, wenn man ehrlich ist, auch kaum etwas wissen möchte. Man schaut weg, denn das geht einen ja nichts an...


Und dann gibt es auch Stiftungen, wie „Fundația de abilitare Speranța“ (Stiftung zur Befähigung - Die Hoffnung) in Temeswar/Timișoara, die mittels ihres Programms „UnLoc” (ein Platz), Erwachsenen mit unterschiedlichsten Behinderungen eine Chance zur Inklusion geben. Wie diese Chance aussieht, erzählen die Programmleiterin, eine Betreute und einer Mitarbeiterin der Institution.

Roxana

Roxana Damaschin-}ecu, Initiatorin und Leiterin des Programms, beschreibt es als eines, das Erwachsenen mit Einschränkungen hilft, ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und dadurch auch ein wertvoller Teil der Gesellschaft zu werden und nicht, wie bisher, nur ein Sozialfall, der dem Staat auf der Tasche liegt (ein Behindertenheim bekommt für jeden Schützling ab 7000-8000 Lei pro Monat): „Die rumänische Gesellschaft ist noch sehr weit davon entfernt, Menschen mit Einschränkungen inklusiv zu behandeln, doch das heißt nicht, dass man sie weiterhin von der Gesellschaft getrennt und abgesperrt halten muss. Wir glauben daran, diesen Menschen eine Alternative zur Hospitalisation bieten zu müssen, in der man fernab der Gesellschaft lebt und einem kaum eine Gelegenheit zur Interaktion geboten wird. Teilhabe am Gemeinschaftsleben soll UnLoc sichern und die Menschen fordern und fördern, jenseits ihrer Einschränkungen ihre Fähigkeiten der Gemeinschaft zugutekommen zu lassen. Dafür haben wir drei Wohngemeinschaften für betreutes Wohnen ins Leben gerufen, sowie eine vierte Wohnung, die als sogenanntes Zentrum zur Vorbereitung auf ein eigenständiges Leben funktioniert, bei dem die Bewohner rund um die Uhr betreut werden. Insgesamt sind es sieben Erwachsene mit verschiedenen psychischen und motorischen Einschränkungen, die wir darin betreuen, sowie weitere zehn, die wir mittels unseres mobilen Teams zu Hause unterstützen, damit sie nicht in ein Heim müssen. Als Antrieb und Vorbild galt gerade die Notwendigkeit einer Betreuung, die außerhalb von geschlossenen Anstalten stattfinden soll und die es den Personen, die in Heimen gelebt haben, ermöglicht, in den eigenen vier Wänden zu wohnen und einen Arbeitsplatz zu haben. „Für den Staat sind wir derzeit die billigere Alternative, da wir für unsere Dienstleistungen 2700 Lei für jeden Bewohner der betreuten Wohnungen bekommen und rund 4000 Lei für jene im Zentrum. Die realen Kosten liegen jedoch schon bei 5000-6000 Lei pro Monat, zumal wir die Miet- und Nebenkosten der Wohnungen tragen und zwölf Personen für diesen Rehabilitations- und Integrationsprozess beschäftigen. Der rumänische Staat beachtet jedoch das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht, denn infolge unserer Dienstleistung werden die Betreuten zu selbstständigen, Mehrwert generierenden Mitgliedern der Gesellschaft, die durch ihre Leistungen, ihr Einkommen und ihre Ausgaben einen Beitrag zur Gesellschaft leisten und in die Staatskasse einzahlen. Die Kosten ihrer Betreuung sinken und verschwinden eventuell mit der Zeit. Im Gegensatz dazu finde ich, dass der Staat sein Geld für die sozialen Dienstleistungen in den Behindertenheimen verprasst, da dort die Menschen nicht aktiviert werden, nicht gefördert werden, Teil der Gesellschaft zu werden, es tritt keine Verbesserung ihrer Lebensqualität ein, es bleibt beim Abhängigkeitsverhältnis zur Einrichtung, die damit letztendlich kein schlechtes Geld verdient.“

In Rumänien gibt es kaum öffentliche soziale Dienstleistungen, die jungen Erwachsenen mit einer Einschränkung erlauben ein selbstbestimmtes Leben zu führen, obwohl es im mit der UNO ratifizierten Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen so vorgesehen ist - Rumänien hat seit der Ratifizierung 2010 die alle zwei bis drei Jahre fälligen Berichte über die Situation der behinderten Personen nicht eingereicht: „Das beginnt schon damit, dass sie ihre Kleider selbst aussuchen dürfen, Verantwortung für die Körperhygiene übernehmen, ihr Essen selbst einkaufen und zubereiten, bzw. daran denken, ein Pausenbrot für die Arbeit einzupacken, den Weg zur Arbeit oder Einkauf, Zeitmanagement lernen, ihre Schlüssel oder Brillen nicht vergessen, aber auch wie mit Geld umzugehen ist, und natürlich wie sich sozial zu integrieren, beispielsweise in der Mittagspause mit den Kollegen. Fest eingebaut sind im Wochenplan die Berufsberatung - eine Bewohnerin erhielt nach 36 Beratungsstunden, zehn Vorstellungsgesprächen, zwei kurzfristigen Engagements und mehreren Probearbeiten endlich den passenden Job , die psychologische Betreuung, für die meisten aber auch Online-Unterricht zum Lesen- und Schreibenlernen mit freiwilligen Helfern. Sie können soziale Kontakte pflegen, teils mit der Familie oder mit anderen, mittels Workshops, Treffen in der Stadt, Ausflügen, Kinobesuchen usw. Und wir haben bereits eine Bewohnerin, die ausgezogen ist und eine eigene Wohnung gemietet hat, die wir nur noch über unser mobiles Team unterstützen. Unser Sitz ist im ‚building. a community‘, im Innenhof der ehemaligen Azur Werkshallen beim Faber-Kulturzentrum, wo es soziale Start-Ups gibt oder aus der kreativen Branche, die auf Nachhaltigkeit setzten, oder eine Mischung daraus, wie bei One-Shirt, das aus Textilmüll originelle Einzelstücke wie Blusen, Taschen oder Tabletüberzüge herstellt und die Zero-Waste-Methode umsetzt, so dass sogar die kleinsten Stoffreste zum Befüllen von Kissen oder Schemeln genutzt werden, und die zwei Personen mit Behinderung beschäftigt.

Wir von UnLoc haben das soziale Start-Up-Unternehmen OilRight ins Leben gerufen haben, bei dem wir vier Personen mit Behinderung nebst weiteren drei in Teilzeit beschäftigen. Es handelt sich also um ein Inklusionsunternehmen, das gleichzeitig eine starke ökologische Komponente hat und das durch den Verkauf ihrer Produkte und Dienstleistungen selbsttragend ist.“

Ana

„Ich heiße Ana Ciciurea, bin 44 Jahre alt und bin hier sehr zufrieden. Ich habe mich an die Arbeit und das Umfeld hier gewöhnt, es gefällt mir hier und ich hab sehr viel gelernt. Und wenn ich etwas nicht weiß, dann frage ich und die Leute helfen mir. Sie sind sehr verständnisvoll und gut zu mir. Es ist für mich manchmal kaum zu glauben, wie weit ich es in einem Jahr geschafft habe. Davor hätte ich nie geglaubt, dass ich zu so vielem im Stande wäre. Ich habe 43 Jahre lang in Heimen gelebt, in acht verschiedenen. Mein Leben war ganz schlimm und schwer: Meine Mutter hatte mich weggeworfen, Polizisten haben mich neben einer Mülltonne gefunden, in den Heimen wurde ich sehr viel geschlagen und missbraucht, musste barfuß in den Schnee hinaus… ich will mich gar nicht mehr daran erinnern, denn es geht mir schlecht dabei. Wegen der Schläge habe ich mich oft versteckt und zurückgezogen. Ich hatte niemanden im Heim, dem ich mich anvertrauen konnte, weder das Personal noch die Leitung haben mir geglaubt, wenn ich mich beklagt habe oder sie hatten keine Zeit, mich anzuhören. Hier habe ich aber supernette Menschen kennengelernt, die mir geduldig zuhören und die mir geholfen haben, mich langsam zu öffnen. Noch vor einem Jahr hätte ich nicht mit ihnen gesprochen, ich war ganz wild. Und auch heute arbeite und lebe ich lieber allein, kann alles schön ordentlich und sauber halten, denn das liebe ich am meisten. Im Heim war das chaotisch, Sachen wurden gestohlen, die Zimmernachbarn… nun ja, wir waren sehr verschieden und es gab oft Zoff, Reibereien und auch Prügeleien. Niemandem wünsche ich so ein Leben, so behandelt zu werden, wie ich es wurde.

Hier bei UnLoc bin ich glücklich, einen Job zu haben, dass ich mein Brot ehrlich verdiene, Geld für die Nebenkosten und Einkäufe habe. Ich mag meine Arbeit hier, das Öl gießen, die Dochte einführen und sonst alles, was man mir aufträgt. Meine Wohnung fühlt sich wie MEINE Wohung an, sie ist sauber und ordentlich. Ich lebe und arbeite am liebsten allein. Sind zu viele Leute um mich, werde ich ganz wirr und nervös und das tut mir nicht gut, denn ich bin auch ziemlich krank, habe Diabetes, hohen Cholesterinspiegel, auch Probleme mit der Drüse… alles von dem Leben im Heim. Früher bin ich ungern raus gegangen aus Angst vor Vergewaltigungen oder Schlägen, wie ich es im Fernsehen sah. Heute bewege ich mich frei und furchtlos und wenn dann doch etwas ist, kann ich die Betreuer von UnLoc anrufen und sie helfen mir weiter. Mit ihnen gehe ich auch oft aus, auch ins Kino, oder wir unternehmen etwas gemeinsam. Mit Eli bin ich im Heim aufgewachsen und sie hat mir von diesem Programm erzählt, mich quasi aus Mediasch hierhergeholt. Ich habe viel gelernt und bin zufrieden.

Alexandra

Alexandra Ciocan ist erst seit Kurzem Prodktionsleiterin bei OilRight. Davor hat sie für das UnLoc-Programm die Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising übernommen: „Ich arbeite hier quasi nahtlos weiter, stelle mich neuen Herausforderungen und kann als gelernte Apothekerhelferin mal wieder einen Kittel anziehen und neue Rezepte für die Duftkerzen entwerfen. Ich liebe die Arbeit in diesem sozialen Unternehmen, weil es auf Kreislaufwirtschaft, Nachhaltigkeit und Umweltschutz ausgerichtet ist. Aus verbrauchtem Frittieröl stellen wir Duftkerzen her. Das Öl kommt also aus der Küche ins Wohn- und Schlafzimmer und erfüllt einen neuen Zweck. Ich sehe das auch als Metapher für uns selbst: Manchmal fühlen wir uns auch wie das frittierte Öl, nutzlos und ausgelaugt, und dann kommt jemand und zeigt uns neue Qualitäten und Möglichkeiten auf, durch die wir wertvoll und unserer Gemeinschaft nützlich sein können.

An der Arbeit mit Personen mit Einschränkungen wachse ich und wachsen wir mit, wir lernen von einander, stellen uns auf einander ein, stellen uns auf die Einschränkungen ein, reden eventuell langsamer, in einfacheren Worten, bringen mehr Geduld und Verständnis auf, aber sonst ist es wie mit anderen Mitmenschen auch, dass bestimmtes Benehmen gefördert, anderes gebremst werden muss. Aber Menschen mit einer Behinderung haben genau so wie wir alle Bedürfnise, Träume und Wünsche. Ich freue mich, in so einem Inklusionsunternehmen arbeiten zu können. Sonst haben Personen mit Behinderung kaum Zugang zu gut bezahlten Beschäftigungen, die es ihnen ermöglichen, beispielsweise einen eigenen Haushalt zu führen. Die Produktion hier läuft gut, aber es gibt viel Ausbaupotential. OilRight gibt es seit knapp einem Jahr. Bisher haben wir fünf Tonnen Altöl gesammelt und großteils zu Kerzen gegossen. Was wir nicht verarbeiten können, weil es zu verbrannt oder verunreinigt ist, geben wir an eine Firma ab, die es zu Biodiesel macht, allerdings gibt es in Rumänien keine Biodieselhersteller, das Öl wird in den Westen zu Anlagen dort gebracht. Unser Ziel ist es, fünf bis sieben Tonnen im Monat einzusammeln und wiederzuverwerten, doch müssen wir bis dahin organisch wachsen, unsere Produktpalette erweitern, um neue Düfte, Selbstmach-Sets aber auch beispielsweise kleine Wachsfiguren anzubieten, die man als Andenken zu verschiedenen Ereignissen verschenkt. Wir wollen auch vermehrt, wie bisher, die bildende Komponente mit Workshops ausbauen, die wir zum Thema Umweltschutz und kreativer Wiederverwertung von Hausmüll mit Kindern in Schulen oder auf privaten Veranstaltungen gemacht haben. Jedenfalls gibt es einen steigenden Trend und auch vermehrt Interesse an Unternehmen und Produkten, die für Nachhaltigkeit stehen, so dass unserem organischen Weiterentwickeln und Ausbau nichts im Wege stehen sollte.“