„Ein systemischer Eingriff ist nötig“

Einführung des Sexualkundeunterrichts erneut heiß diskutiert

Adriana Radu Foto: Decât o Revistă / Alex Gâlmeanu

Im April hat Staatspräsident Klaus Johannis ein Gesetz verabschiedet, das vorsieht, dass Sexualkunde zum Pflichtfach in den Schulen in Rumänien wird. Einmal im Semester hätten Schüler, je nach Alterskategorie, über die Rolle in der Familie, Unterschiede zwischen den Geschlechtern, über biologische Veränderungen im Körper während der Pubertät, Gefühle, Freundschaft und Liebe, dann über Fortpflanzung, Abtreibung, Geschlechtskrankheiten und vieles mehr erfahren sollen. Wenige Wochen später, am 3. Juni, hat die Abgeordnetenkammer auf Initiative der Sozialdemokratischen Partei (PSD) und der Nationalliberalen Partei (PNL) dieses Gesetz mit endgültiger Wirkung geändert. Aus dem Lehrfach Sexualkunde wurde Hygieneerziehung, das nun ausschließlich mit der schriftlichen Zustimmung der Eltern erteilt werden darf. Und dies, obwohl Rumänien europaweit das Land mit den meisten minderjährigen Müttern ist und rund 1000 Neugeborene jährlich in Geburtskliniken zurückgelassen werden. Auch im Bereich sexueller Gewalt und Menschenhandel hält Rumänien die traurige Spitze. All diese Aspekte sind miteinander verbunden, erklärt Expertin Adriana Radu von der Nichtregierungsorganisation „Sexul vs. Barza“ (Sex versus Storch).

Unwissenheit ist schädlich

18.000 Mädchen, von denen die Großzahl aus benachteiligten Milieus stammen, haben im Jahr 2018 ein Kind bekommen, 800 davon waren unter 15 Jahre alt. Mehr als 3500 Mädchen sind zum zweiten Mal Mutter geworden, über 650 zum dritten Mal, zeigt eine Statistik des Vereins „Salvați Copiii România”. Der Großteil der Väter sind erwachsene Männer. Für viele dieser Mädchen sind Körperhygiene, Sex mit Zustimmung oder Verhütungsmittel unbekannt. Doch nicht nur auf dem Dorf kommt es zu frühzeitigen ungewollten Schwangerschaften, zur Infizierung mit sexuell übertragbaren Krankheiten oder zu Missbrauch. Es sind auch Kinder aus Großstädten, die oft nicht wissen, wann und wie sie ihr sexuelles Leben beginnen sollen, wie sie sich vor Missbrauch schützen und ihre Sexualität selbstbestimmt ausleben.

Die wenigsten Jugendlichen trauen sich, diese Themen mit den Eltern zu besprechen; in der Schule gibt es auch keine Aufklärung. Das Thema Sexualität bleibt weiterhin tabu in Rumänien. Somit bieten Internet und Freundeskreis eine Informationsquelle, leider nicht immer die beste. Man betrachte den Fall des Vloggers Colo (Alexandru Bălan), der vergangene Woche wegen Anstiftung zu Vergewaltigung und Gewalt gegen Minderjährige auf seinem von 850.000 Menschen verfolgten Video-Blog für einen Tag festgenommen wurde, sich nun unter gerichtlicher Kontrolle befindet und vorerst 60 Tage lang nichts mehr posten darf. Dabei sei vermerkt, dass fast 55 Prozent der Rumänen davon überzeugt sind, dass Vergewaltigung gerechtfertigt werden kann.

Woher sollen die Heranwachsenden in Rumänien dann wissen, dass Mädchen und Jungen gleichberechtigt sind, welches die Geschlechterrollen sind und wie man eine respektvolle und tolerante Haltung entwickelt, oder überhaupt: was es mit Sexualität auf sich hat?

Onlineberatung

Seit sieben Jahren bietet „Sexul vs. Barza” auf seinem Youtube-Kanal in Videos Informationen rund um reproduktive Gesundheit und sexuelle Aufklärung an. In einer lockeren, leicht verständlichen Sprache erklärt die Gründerin des Programms, Adriana Radu, wie zum Beispiel Binden und Tampons bei der Monatsblutung angewendet werden, wie das männliche und das weibliche Geschlechtsorgan funktionieren, wie man verhüten soll. Themen sind auch Körperbewusstsein, Lust und Gefühle, Selbstbefriedigung. Ihr breit gefächertes Programm richtet sich sowohl an Jugendliche, wie auch an Erwachsene. Wie die Youtube-Statistiken zeigen, sind knappe 40 Prozent der 100.000 Zuschauer junge Leute zwischen 24 und 35 Jahren.

120 Videos stehen auf ihrer Online-Plattform, mehr als 12 Millionen Mal wurden sie angesehen. Die dutzenden von Fragen, die monatlich online ankommen, beantworten die ehemalige Parlaments-Stipendiatin des Bundestags Adriana Radu sowie eine Psychologin der Vereine „Save the Children” und „Salvați Copiii România” binnen höchstens zwei Werktagen. „Ich bin stolz darauf, dass wir schnell und gut antworten können” sagt Radu, studierte Germanistin und Literaturwissenschaftlerin (Université Lumičre Lyon 2), die einen Masterabschluss in öffentlicher Gesundheit an der Universitätsmedizin Charité Berlin erhalten, sowie ein Praktikum bei der größten nichtstaatlichen Organisation für Sexual-, Schwangerschafts- und Partnerschaftsberatung in Deutschland, „Pro familia“, abgelegt hat. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet (Decât o Revistă, Forbes). Ihr Projekt präsentiert sie auf internationalen Konferenzen, unter anderen vor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), vor UNESCO oder der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Deutschland.

Vorbeugen ist billiger und besser als Handeln

Mit 23 Jahren begann die feministische Aktivistin ihren Einsatz für Geschlechtergleichheit und Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen in der rumänischen Gesellschaft. Diese können durch sexuelle Aufklärung verbessert werden, sodass Mädchen und Frauen selbstbestimmter in der Gesellschaft auftreten, bemerkte sie. Enttäuscht und verärgert stellt Adriana Radu jedoch immer wieder fest, dass die rumänischen Mädchen weiterhin dieselben Nachteile erleben, in Beziehungen nicht eigenverantwortlich handeln, sich weniger für Genuss beim Geschlechtsverkehr interessieren, sondern sie eher im Notfall anschreiben, wenn eine mögliche Schwangerschaft ansteht. „Die Jungs hingegen haben viel mehr Selbstvertrauen und Kenntnisse zum eigenen Körper, sie achten auf ihre Befriedigung”, weiß die Expertin.

Die positive Auswirkung des Sexualkundeunterrichts, die sie an einer deutschen Schule in Karlsruhe während eines Comenius-Praktikums erlebt hat, will sie auch in ihrem Heimatland sehen und setzt sich daher für die Einführung dieses Fachs an den Schulen ein, im Rahmen eines übergeordneten Ziels, der öffentlichen Gesundheit.

„Ist Sexualerziehung gut gemacht, so schützt sie junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren und hilft, Geld zu sparen”, hat die Expertin errechnet. Denn ein Programm für reproduktive und sexuelle Gesundheit als Pflichtfach würde 1,8 Millionen Euro kosten und zu weniger unerwünschten Schwangerschaften, Abtreibungen, Infektionen mit Syphilis oder HIV, zu weniger Gewalttaten gegen Frauen, zu weniger Homophobie führen. Dabei gibt Rumänien jährlich 33 Millionen Euro zum Behandeln genau dieser Probleme aus. Das hat Radu in ihrer Masterarbeit bei der Universitätsmedizin Charité Berlin in einer Pilot-Studie für Rumänien erarbeitet und wissenschaftlich erwiesen.

Kirche und Parlament widersetzen sich

Schon von Anfang an ist sie auf Widerstand in ihrer Arbeit gestoßen, sowohl auf ihrer Plattform durch böse oder gar beleidigende Kommentare, aber auch seitens der Rumänischen Orthodoxen Kirche, die sich zu jedem Anlass gegen die Einführung der Sexualerziehung als Pflichtfach äußert. Auch das Parlament zeigt keine Unterstützung, obwohl sich ihr Programm nach den Richtlinien der in Rumänien existierenden Ministerverordnung Nr. 4496 von 2004 richtet, die im Rahmen des Gesetzes für gesundheitliche Erziehung auch Inhalte zum Thema „Reproduktive und Familien-Gesundheit“ vorsieht. Dieses darf von weitergebildeten Biologie- oder Grundschullehrern als Wahlfach und nur mit der Einwilligung der Eltern im Schulangebot ab der Grundschule gelehrt werden – landesweit haben knappe sechs Prozent der Lehrer das Fach unterrichtet.
Hartnäckig und entschlossen hat sich die in Berlin lebende Expertin mit Geduld gewappnet und zieht ihr Programm weiter durch. Die Ehrungen, Partnerschaften und vor allem das Feedback der Nutzer auf ihrer Plattform geben ihr die Kraft dazu.

„Der Kanal wäre noch mehr gewachsen, wäre das Thema Sex in Rumänien nicht tabu. Die Leute schauen sich die Videos an, schämen sich aber, auf ‘Like‘ zu drücken, die Videos zu teilen oder den Kanal zu abonnieren”, erklärt sie. Die Enttäuschung hört man in ihrer Stimme, denn etwa 90 Prozent ihrer Zuschauer abonnieren nicht, was Adriana Radu auf die Scham zurückführt, die tief in der rumänischen Gesellschaft verankert ist. „Auch Erwachsene brauchen Aufklärung. Das Leben ist dynamisch und die Sexualität ist dynamisch, sie begleitet einen ein Leben lang. Man lernt auch in diesem Bereich solange man lebt”, sagt die 30-Jährige. Dabei hinge die Erziehung der Minderjährigen stark von der Erziehung der Eltern ab, weshalb sich letztere, sofern sie selbst keine Aufklärung gehabt haben, informieren und auf Gespräche mit den Sprösslingen vorbereiten müssten. In diesem Sinne bietet Radu ab diesem Monat Betreuung von Jugendlichen und deren Eltern an, allerdings zu einem Preis, den sich nicht jeder leisten kann: 1000 Lei für vier Stunden.

Sexuelle Aufklärung an Schulen

In den letzten sieben Jahren war Radu in Lzyeen, Universitäten und öffentlichen Bibliotheken aktiv, sprach mit Jugendlichen und beantwortete deren Fragen. Die enormen Bemühungen, die sie anstellen muss, um in Lehranstalten auftreten zu dürfen – Genehmigungen von Schulamt, Schulleitung, Lehrern und Eltern - sind ihr mittlerweile zu mühsam geworden. „Ein systemischer Eingriff ist nötig”, sagt sie, damit Schüler endlich offiziell und legal aufgeklärt werden können.

Viele Lehrer aus dem ganzen Land haben „Sexul vs. Barza“ im Rahmen des Programms „Schule anders“ eingeladen, sodass die Aktivistin nun einen kostenlosen Online-Lehrplan für Lehrkräfte entwickeln wird, anhand dessen diese in den Klassen-, Biologie- oder Sozialkundestunden unterrichten können. „Was wir verlangen, ist, dass Schulleitung, Lehrer und Eltern, die uns ansprechen, öffentlich die Verantwortung dafür übernehmen und das zumindest als Wahlfach in Schulen akzeptieren”, erklärt Radu. Eine Nichtregierungsorganisation habe keine Kapazität, an alle Schulen zu gehen, sie erhält keine Finanzierung vom Staat; dazu sollten die Lehrer aus- oder weitergebildet werden, dies sei die kostengünstigste Variante.

In anderen europäischen Ländern gehört Sexualkundeunterricht längst in den Stundenplan, in Portugal und England beginnt er schon ab dem Kindergartenalter, wo über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und über die Familie gesprochen wird. In Deutschland ist er, gemeinsam mit Fächern wie Religion, Ethik und Biologie ein Pflichtfach, wobei die Eltern über den Inhalt und die Unterrichtsmethode informiert werden müssen. Auch in Dänemark gehört er seit den 70er Jahren fest in den Stundenplan. In Frankreich wurde er Anfang 2000 für Kinder ab sechs Jahren eingeführt. Der Unterricht vermittelt abhängig von der Altersgruppe Kenntnisse über Biologie, Psychologie, über die sozialen, emotionalen, kulturellen und ethischen Dimensionen der Sexualität, über den Kampf gegen sexuelle Gewalt und Missbrauch an jungen Menschen oder gegen Rassismus und Homophobie. Auch in Bulgarien und der Ukraine wird Sexualkunde unterrichtet, Italien allerdings befindet sich in einer ähnlichen Situation wie Rumänien.


Das Projekt „Sex gegen Storch“ kann unter www.sexulvsbarza.ro/sustine/ oder unter www.patreon.com/sexulvsbarza unterstützt werden.