Ein US Inflation Reduction Act für Europa

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Mannheim - Der jüngst in den USA verabschiedete Inflation Reduction Act (IRA) markiert einen längst überfälligen Wandel in der US-Klimapolitik. Das Gesetz sieht u. a. hunderte von Milliarden Dollar an Bundessubventionen für grüne Technologien und erneuerbare Energien vor. Doch während die Entscheidung der USA, sich dem weltweiten Kampf gegen den Klimawandel anzuschließen, in der Europäischen Union gut aufgenommen wurde, haben führende Politiker ihre Besorgnis geäußert, dass sich das Gesetz zu sehr auf die inländische Produktion konzentriert und EU-ansässige Unternehmen diskriminieren könnte.

In einem kürzlich erschienenen Strategiepapier habe ich argumentiert, dass Europa dem neuen US-Ansatz in der Klimapolitik keinen Widerstand leisten sollte. Vielmehr sollten die europäischen Länder diesen begrüßen und selbst eine bessere Version davon entwickeln.

Ein Grund, warum sich die Europäer den IRA zu eigen machen sollten, ist, dass er über den etwas allzu simplen Klimaschutzansatz hinausgeht, der die politische Diskussion so häufig dominiert. Der aktuelle Ansatz der EU, für den beispielhaft deren Initiative „Fit für 55“ steht, hält an einem marktbasierten Paradigma fest, das auf Kohlenstoffpreise setzt, um eine Selbstregulierung der Verursacher sicherzustellen. Der IRA dagegen geht davon aus, dass eine vorausschauende Regierung den Übergang zu einer „grünen“ Wirtschaft durch zielgerichtete Investitionszuschüsse an Privatleute und Unternehmen beschleunigen kann. Zudem hat der IRA eine klar arbeitnehmerfreundliche Ausrichtung; er konzentriert sich auf die inländische Beschäftigung und versucht, die Löhne zu steigern, indem er für bestimmte Steuergutschriften die Zusage der Unternehmen zur Zahlung des marktüblichen Lohns zur Voraussetzung macht.

Während der IRA eine umweltfreundliche Industriepolitik verkörpert, die das Potenzial zur Schaffung von Millionen von guten Arbeitsplätzen im Bereich der sauberen Energien hat, wird der marktliberale Ansatz der EU zwangsläufig scheitern, weil die ihm zugrundeliegende Wirtschaftstheorie zwei entscheidende Merkmale menschlicher Gesellschaften vernachlässigt: individuelle Anpassungskosten und wirtschaftliche Machtbeziehungen. Und während die europäische Politik im Banne der Märchenwelt freier Märkte zu stehen scheint, stützt sich der zielgerichtete, regierungsfokussierte Ansatz des IRA auf solides wirtschaftliches Denken.

Der IRA hat den zusätzlichen Vorteil, ein positives Narrativ zu bieten. Das wichtigste politische Instrument marktorientierter Ökonomen, um die Menschen zur Nachhaltigkeit zu bewegen, besteht darin, sie für ökologisch unverantwortliches Verhalten zu bestrafen. Zudem verengt der marktorientierte Ansatz die soziale Dimension der Klimapolitik auf Transferleistungen an die sogenannten „Verlierer“ der Umstellung auf die Emissionsneutralität. Doch lassen sich die meisten Menschen nicht gern bestrafen, sie wollen keine staatlichen Almosen, und mit Sicherheit lassen sie sich nicht gern als Verlierer titulieren. Die meisten Menschen wünschen sich eine „grüne“ Wirtschaft, die menschenwürdige, gut bezahlte Arbeitsplätze bietet, und sie erwarten von ihren Regierungen, dass diese helfen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen.

Doch während der klimapolitische Ansatz des IRA insgesamt solide ist, weist das Gesetz ein wichtiges Manko auf. Vereinfacht gesagt mangelt es den USA an den erforderlichen Arbeitnehmerorganen, um eine arbeitnehmerfreundliche Regierungsagenda in konkrete Politik umzusetzen. Das strukturelle Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auszugleichen erfordert gut organisierte Gewerkschaften, Betriebsräte und eine stärkere Durchsetzung der Gesetze zum Mindestlohn.

Was die Entwicklung einer arbeitnehmerfreundlichen Klimaagenda angeht, haben viele europäische Länder einen Vorteil gegenüber den USA, den sie nutzen können und müssen. Zunächst einmal ist das IRA-Konzept des „marktüblichen Lohns“ relativ unscharf und wäre schwer durchsetzbar. In den meisten EU-Ländern sind die Löhne in der Industrie durch Tarifverträge geregelt, und in anderen Sektoren ließen sich ohne Weiteres die gewerkschaftlichen Löhne als Maßstab nutzen. Länder wie Frankreich und Deutschland könnten hier Vorreiter sein. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland für dieses Jahr bereits plant, die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Tariftreue zu knüpfen, scheint die Anwendung ähnlicher Vorgaben auf Zuschüsse für umweltfreundliche Investitionen nicht abwegig.

Darüber hinaus müssen integraler Bestandteil jeder Umweltagenda Qualifizierungsprogramme für die Arbeitnehmer sein. Der IRA sucht die Schaffung einer hochqualifizierten Erwerbsbevölkerung zu unterstützen, indem er ausbildenden Unternehmen Steuergutschriften anbietet. Doch hängt der Erfolg derartiger Programme von der Verfügbarkeit eines qualitativ hochwertigen Bildungswesens ab, das mit den Arbeitgebern zusammenarbeitet. Derartige Arrangements bestehen lediglich in Teilen der USA, während Deutschland und mehrere andere EU-Länder eine lange Tradition dabei haben, Arbeitnehmer durch Ausbildungsplätze und Umschulungsprogramme beim Erwerb der für die meisten Industriearbeitsplätze erforderlichen technischen Fertigkeiten zu unterstützen.

Doch wird die Industriepolitik wenig tun, um die Löhne im Dienstleistungssektor zu erhöhen. Daher sind Gesetze zum Mindestlohn für jede arbeitnehmerfreundliche politische Agenda unverzichtbar. Die EU-Länder müssen die Umstellung auf umweltfreundliche Energien zur Einrichtung eines fairen Mindestlohns nutzen, der einen menschenwürdigen Lebensstandard ermöglicht.

Mit der Anhebung des Mindestlohns von 10,45 Euro auf 12 Euro (etwa 16 US-Dollar nach Kaufkraftparität) hat die deutsche Bundesregierung jüngst einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternommen, auch wenn diese Mindestlohnerhöhung durch die hohe Inflation wieder aufgefressen werden wird. Im Einklang mit der jüngsten EU-Erklärung zum Mindestlohn muss Deutschland seinen Mindestlohn schnellstmöglich auf 16 Euro anheben. Es könnte so dazu beitragen, die gesamte EU in Richtung einer robusten, arbeitnehmerfreundlichen Antwort auf den IRA zu bewegen.


Aus dem Englischen von Jan Doolan

Tom Krebs ist Professor für Volkswirtschaft an der Universität Mannheim. Er ist Research Fellow am Forum New Economy und Mitglied der deutschen Mindestlohnkommission.

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