Eine hochwertige Feier der Kultur

Zur 13. Auflage der Movimentos Festwochen in Wolfsburg

Die israelische Kibbutz Contemporary Dance Company auf der Bühne des Kraftwerks Wolfsburg.
Foto: Autostadt Wolfsburg

67 Veranstaltungen zum Thema „Frieden“ und 30.000 Festivalbesucher – mit dieser Bilanz klangen am 17. Mai die Festspiele „Movimentos“ in Wolfsburg aus. Bei dem 13. kulturellen Großereignis der Wolfsburger Autostadt waren internationale Tanzkompanien aus Australien, Israel, Taiwan, Monaco und Schweden zu Gast, die im historischen Kraftwerk von Volkswagen (und Wahrzeichen der niedersächsischen Stadt) auftraten; namhafte Schauspieler wie Suzanne von Borsody, Iris Berben, Maria Schrader und Alexander Scheer gaben szenische Lesungen und Kostproben ihres schauspielerischen Könnens; die Grammy-Preisträgerin Natalie Cole, der Saxofonist Joshua Redman, der Pianist Omer Klein u. a. konzertierten auf der Jazz-Bühne im Zeithaus; Klassik erklang bei zehn Matineen und Soireen, während junge Nachwuchstänzer der „Movimentos Akademie“ mit zwei Premieren vor das Publikum traten.

Ein Höhepunkt der Festwochen war die Weltpremiere „Lullaby for Bach“ („Wiegenlied für Bach“), die Ende April von der Kibbutz Contemporary Dance Company (KCDC) aus Ga’aton, Israel, aufgeführt wurde. Die KCDC wurde vor mehr als vierzig Jahren von der Holocaustüberlebenden Yehudit Arnon gegründet und ist heute eines der international führenden zeitgenössischen Tanzensembles. Der Choreograf und Kompanieleiter Rami Be’er nahm die Auftragsproduktion der Movimentos Festwochen zum Anlass, um sich erstmals mit der Musik von Johann Sebastian Bach auseinanderzusetzen – eine ungewöhnliche, aber sehr dankbare Musikwahl für eine zeitgenössische Inszenierung. Überraschend, äußerst kreativ und neuartig waren die Bewegungsmuster, die Be’er für die Bühne entwarf – und die viel mehr auf Krieg und Zerstörung als auf das komplementäre Festivalthema „Frieden“ eingingen. Den talentierten Tänzerinnen und Tänzern gelang es, die Grenzen des Körpers zu überwinden und sich von bereits etablierten Strukturen der Tanzkunst zu befreien.

Dabei wurde es dem Publikum überlassen, die einzelnen Elemente der Inszenierung zu interpretieren: der dunkle Hintergrund und die bedrohliche Mauer, auf der eine in Schwarz gekleidete Gestalt über die gesamte Dauer des Abends wie eine gespenstische Kreatur aus dem Jenseits kletterte, spielten vielleicht auf den Zweiten Weltkrieg an, vielleicht aber genauso auf die aktuellen Konflikte im Nahen Osten. Zwei blendend weiße Engel stiegen in Zeitlupe auf die Bühne herab und ließen die Hoffnung auf Frieden wieder erblühen.

Im Anschluss an komplexe, angriffslustige Kriegertänze, bei denen Militärdisziplin und ideologische Blindheit zum Ausdruck kamen, wirkte die innere Ruhe in Bachs „Chaconne” aus der Violinpartita in d-Moll monumental. Die Kompanie kreierte ein exzellentes Gesamtkonzept von Bewegung, Licht, Klang und Kostümen, bei dem sich das beeindruckende Können der Ensemblemitglieder keineswegs auf Technik und Hochpräzision beschränkte, sondern stets individuell, authentisch und ausdrucksstark blieb.

Auch die Europapremiere „2 One Another“, die von der australischen Sydney Dance Company zum Auftakt der Festwochen am 10. April aufgeführt wurde, strahlte Hochglanz und Uhrwerkperfektion aus, doch hier hätten tiefgründige Konnotationen und etwas mehr künstlerische Wärme der Darbietung zusätzliche Expressivität verliehen. Die preisgekrönte Choreografie verband industrielle und frühbarocke Klänge mit elektronischem Klubsound, lichtdurchflutete Bühnenbilder mit Schattenspielen, bei denen nur die Konturen der Tänzerkörper zu erkennen waren, einwandfrei synchronisierte Ensemblemomente mit intensiven Soloszenen – das Ganze blieb jedoch ein „Brückenschlag zwischen Hoch- und Popkultur“, wie das Programmheft die Arbeit des spanischen Choreografen Rafael Bonachela beschrieb.

Mit kammermusikalischer Klarheit, orientalischer Sehnsucht und mitreißenden Rhythmen bezauberte der junge Trompeter Ibrahim Maalouf seine Zuhörer am 1. Mai. Der klassisch Ausgebildete Musiker mit selbstbewusstem Klang widmete sein Jazzkonzert der Sängerin Umm Kulthum, die er als „Legende der arabischen Musik“ würdigte. Sein speziell entwickeltes Instrument mit vier statt drei Ventilen ermöglichte es ihm, die Vierteltöne der arabischen Klangwelt in den energischen, kräftigen Jazzsound zu übernehmen. Das Ensemble, bestehend aus Saxofon, Bass, Klavier und Schlagzeug, erwies sich als hervorragende Begleitung bei dem stetigen Wechsel zwischen Power- und Ruhemomenten, Funk und Folkloreanspielungen, Leidenschaft und Melancholie. Zur lebhaften Stimmung trug der Konzertsaal bei: Das Zeithaus der Wolfsburger Autostadt ist mit seinen Glaswänden und dem malerischen Ausblick aufs Wasser, der Spiegeldecke und den bunten Scheinwerfern ein inspirierender Ort voll modernem Glamour.

Auf besonderen Instrumenten spielte am 10. Mai auch der Pianist Tobias Koch, der im strahlend weißen Lichthof des Städtischen Museums in Braunschweig abwechselnd auf einem Flügel von Clara Schumann und auf einem präparierten Klavier konzertierte. Neben der bedeutenden Pianistin und Komponistin des 19. Jahrhunderts stand im Mittelpunkt des Konzertprogramms auch Charlotte Seither – in der Auffassung von Tobias Koch „eine Clara Schumann der Jetztzeit“ – mit den Werken „Klang und Schwebung“ und „Gran Passo“. Ersteres wurde 100 Jahre nach dem Tod der berühmten Ehegattin von Robert Schumann komponiert und als „Überschreiten der Tasten ins Innere des Klaviers hinein“ passend umschrieben, Letzteres entstand als Auftragswerk des Clara-Schumann-Wettbewerbs in Düsseldorf. Größer hätte der Kontrast zwischen den Werken nicht sein können – doch dem Pianisten gelang es, beide Stilrichtungen hervorragend wiederzugeben: Clara Schumanns Werke und die Variationen op. 9 von Johannes Brahms über ein Thema von Robert Schumann fanden einen zarten, gedämpften und träumerischen Ausdruck auf den Tasten des Braunschweiger Flügels, der fünfzehn Jahre lang in der Wohnung der Schumanns in Frankfurt gestanden hatte. Im Gegensatz dazu eröffneten die Stücke von Charlotte Seither einen völlig anderen auditiven Kosmos, geprägt von bezaubernden, nicht identifizierbaren Klangwolken, einer neuartigen Behandlung von Rhythmus, Klanghöhen und -tiefen sowie dem Einsatz von Steinen und Likörgläsern, die über die Saiten gestrichen wurden. Tobias Koch erwies sich auch diesmal als vielseitiger und flexibler Interpret und spürte dem Geheimnis der Töne mit großer Unvoreingenommenheit nach.

Ein brillanter Farbtupfer im Programm der Festwochen war am 16. Mai die szenisch-musikalische Lesung „Moby Dick“ mit Klaus Maria Brandauer und Arno Waschk (Klavier) in der Wolfsburger Christuskirche. Der packende Abenteuerroman von Herman Melville, der die Geschichte von Kapitän Ahab und seiner von Hass und Rache getriebenen Jagd auf den weißen Wal erzählt, wurde von Klaus Maria Brandauer meisterhaft vorgetragen und von der fantasievoll gespielten Klaviermusik gebührend untermalt. Dem vielfach preisgekrönten Schauspieler, der mit der Klaus-Mann-Verfilmung „Mephisto“ (1981) Weltruhm erlangte, gelang es mit seiner überwältigenden szenischen Präsenz und einem unendlichen Nuancen-Repertoire, innerhalb weniger Sekunden die Zuschauer zu fesseln und in eine Welt voller Spannung und Ruhelosigkeit zu versetzen.

Und selbst wenn im Hintergrund der Movimentos Festwochen der Marketing-Gedanke eines weltberühmten und besonders erfolgreichen Automobilkonzerns stets wahrnehmbar bleibt und die Autostadt als Volkswagen-Kommunikationsplattform darauf achtet, Werbung in einer Sache zu machen, war das Festival auch in diesem Jahr eine eindrucksvolle und hochwertige Feier der Kultur.