„Ende gut, alles gut“ oder „Rette sich wer kann“

Deutschsprachige Premiere von Thomas Bernhards Theaterstück „Am Ziel“ im Theaterlaboratorium Bukarest

Ramona Olasz (r.) als Mutter, George Bîrsan als dramatischer Schriftsteller und Ioana Predescu als Tochter (im Hintergrund) in Thomas Bernhards „Am Ziel“
Foto: Marius Dincă

Am Mittwoch vergangener Woche fand auf der Bühne des deutschsprachigen Theaterlaboratoriums Bukarest (TLB) die Premiere des Theaterstücks „Am Ziel“ von Thomas Bernhard statt, das im Rahmen der Salzburger Festspiele 1981 seine Uraufführung unter Claus Peymann erlebt hatte. Mit diesem Bernhardschen Vierpersonenstück wurde zugleich die neue, mittlerweile dritte Spielstätte des TLB in der Bukarester Strada Aurel Vlaicu 39 in unmittelbarer Nähe des Institut Français eingeweiht. Die Gründungsintendantin des TLB, Ramona Olasz, die die Hauptrolle der Mutter in „Am Ziel“ verkörperte, war auch für Konzeption und Regie sowie für Kostüme und Bühnenbild verantwortlich. Daneben traten George Bîrsan als dramatischer Schriftsteller und Ioana Predescu als Tochter auf, wohingegen die Rolle des Mädchens gestrichen wurde. Dass die Bukarester Version von „Am Ziel“ dennoch ein Vierpersonenstück blieb, dafür sorgte der Souffleur (Klaus Christian Olasz), der stellenweise zum dramatischen Gegenüber wurde und durch seine dirigierenden Eingriffe, ganz im Sinne Thomas Bernhards, den musikalischen Charakter des Dramentextes unterstrich, welcher, wie eine überdimensionale theatralische Fuge, von permanenten thematischen Neueinsätzen und ständigen motivischen Wiederholungen lebt.

Die TLB-Premiere von „Am Ziel“ bricht, zumal als deutschsprachige Produktion, eine Lanze für das Fortleben des österreichischen Dramatikers des Welttheaters auf den Bühnen Rumäniens. Bemerkenswerterweise wurden noch zu Zeiten des kommunistischen Regimes zwei Theaterstücke von Thomas Bernhard in Rumänien aufgeführt, beide im Bukarester „Teatrul Mic“, beide in der Übersetzung der Dramaturgin Adriana Popescu und beide unter dem Direktorat von Dinu Săraru, der durch seine politischen und persönlichen Kontakte zur Macht die Bukarester Aufführungen von „Minetti“ (1979) und „Vor dem Ruhestand“ (1981) überhaupt erst möglich machte. Beide Produktionen wurden vom rumänischen Publikum begeistert gefeiert, was nicht zuletzt den hochkarätigen Besetzungen der Hauptrollen (Octavian Cotescu als Minetti und Ştefan Iordache als Rudolf Höller) geschuldet war. Nach der Wende wurden dann weitere Bernhard-Stücke, „Der Theatermacher“ (2001 im Bukarester ACT-Theater) und „Die Macht der Gewohnheit“ (2003 am Temeswarer Nationaltheater), zur Aufführung gebracht, aber eine wirkliche Bernhard-Renaissance bzw. eine Neuentdeckung seines dramatischen Werks in Rumänien blieb zunächst aus, sodass das Urteil der Temeswarer Theaterwissenschaftlerin Eleonora Ringler-Pascu über die Bernhard-Rezeption auf rumänischen Theaterbühnen zumin-dest bis vor zehn Jahren Bestand hatte: „Rebellen aus Österreich in Rumänien? Nein danke!“ Erst in der jüngstvergangenen Dekade häuften sich die Bernhard-Aufführungen in Rumänien, darunter auch zwei Bühnenversionen von „Am Ziel“: ein Gastspiel des Schauspielhauses Graz in Temeswar (2008) und eine rumänische Neuinszenierung am Bukarester „Teatrul Mic“ (2012).

Das Theaterlaboratorium Bukarest sagt zu Thomas Bernhard jedenfalls „Ja bitte!“ und man spürt sofort, dass das Theaterstück „Am Ziel“ in der neuen Spielstätte, einer Hochparterrewohnung unweit des Bulevardul Dacia, in situ entwickelt wurde, dass das TLB seine neue Bühne mit Thomas Bernhard gewissermaßen frisch gezimmert hat. Denn der Eingang zur Wohnung, in der maximal zwei Dutzend Zuschauer Platz haben, ist zugleich der Eingang für die Schauspieler, das zweigeteilte Wohnzimmer ist Spiel- und Zuschauerraum zugleich, und die vier Türen, die von der Wohnungsbühne abgehen, bieten reiche und das Stück belebende Möglichkeiten für Auftritte und Abgänge der drei Protagonisten. Die Bukarester Inszenierung von „Am Ziel“ hat, bis auf verschiedene Kürzungen des Schauspieltextes, den Rahmen des Bernhardschen Stücks beibehalten. Der erste Teil spielt in einer holländischen Stadtwohnung, wo Mutter und Tochter sich für die Abreise in ihr Haus in Katwijk an der Nordsee vorbereiten, in dem dann der zweite Teil des abendfüllenden Stückes spielt. Der dramatische Schriftsteller, der soeben den überwältigenden Bühnenerfolg seines neuen Schauspiels „Rette sich wer kann“ feiern konnte, tritt erst kurz vor dem Ende des ersten Teiles auf, spielt dann aber im zweiten Teil im Haus am Meer eine gewichtige Rolle, während die Tochter immerzu wie eine Sylphide, als immaterieller Luftgeist und als Nymphe Echo, durch die Räume schwebt, da ihr von der hyperdominanten Mutter („ich habe dich für mich auf die Welt gebracht“, „du bist gar nicht lebensfähig ohne mich“) permanent der Boden ihrer Existenz entzogen wird.

Man kann das Bernhardsche Stück auf ganz verschiedene Weisen lesen und verstehen: als psychologisches Mutter-Tochter-Drama; als Generationendrama, in dem der Generationenkonflikt entweder als bereits überwundener oder als verhinderter inszeniert wird; als Ehedrama, in dem die Witwe mit dem Erdendasein des verstorbenen Gatten gnadenlos abrechnet; aber auch als poetologisches Metaschauspiel über das Theatermachen und die Möglichkeiten des Theaters heute; und nicht zuletzt auch als politische Parabel, man denke nur an die historische Bedeutung von Katwijk als Künstlerkolonie, wo einst Max Liebermann malte, aber auch als Stadt unter deutscher Besatzung, deren alter Ortskern für den Bau des Atlantikwalls teilweise abgerissen wurde. Die Bukarester Inszenierung versucht ebenfalls eine politische, allerdings auf Rumänien bezogene, Aktualisierung des Bernhardschen Theaterstückes. Das Erinnerungsfoto des verstorbenen Gusswerkbesitzers, Ehemanns und Vaters zweier Kinder ist auf der TLB-Bühne ein Jugendfoto Nicolae Ceauşescus, und an den Wänden des Hauses am Meer hängen Fotos des rumänischen Diktators mit Leonid Breschnew, aber auch mit Ion Iliescu, nicht zuletzt ein Foto von einer der Mineriaden mit gusseisernen Schlagobjekten in den Händen rumänischer Bergleute. Das leitmotivische Zitat des Gusswerkbesitzers „Ende gut, alles gut“ erhält von daher eine ganz neue Bedeutung, wie auch der Titel des Theaterstücks des dramatischen Schriftstellers „Rette sich wer kann“.

Das Bernhardsche Schauspiel „Am Ziel“ ist im Grunde genommen ein Einpersonenstück. Denn der Ego-Monolog der Hauptdarstellerin überschwemmt die Texte der beiden anderen Protagonisten, denjenigen der widerstandslos ergebenen Tochter ohnehin, aber auch den des anfänglich noch Paroli bietenden dramatischen Schriftstellers, dem die Mutter irgendwann entgegenhält: „Vielleicht hat mich deshalb Ihr Stück so fasziniert / weil Sie in ihm meine eigenen Gedanken aussprechen / alles in dem Stück könnte von mir sein / auch die Idee könnte von mir sein“. Eine solche theatralische Omnipräsenz stellt naturgemäß höchste Anforderungen an die Hauptdarstellerin, eine Herausforderung, die Ramona Olasz mit Hilfe ihres Souffleurs exzellent bemeistert. Ihre Herangehensweise an den Text, diesen nämlich dramatisch zu reliefieren, ihn also weniger abgeklärt und ebenmäßig, sondern engagiert und abwechslungsvoll zu sprechen, beschert einige bemerkenswerte Momente, so zum Beispiel die Intonation des Ja-Wortes zur Ehe mit dem Gusswerkbesitzer, das ironischerweise nicht von der Braut selbst, sondern von deren Freundin stammt. Man muss dabei unwillkürlich an die wenige Jahre vor „Am Ziel“ entstandene Erzählung „Ja“ von Thomas Bernhard denken.

Auch die beiden Mitschauspieler Ioana Predescu und George Bîrsan begeisterten durch ihr einfühlsames Spiel: erstere durch ihre stille und dadurch umso eindringlichere Bühnenpräsenz, letzterer durch seine jugendliche Kraft und sein explosives Naturell. Die Trinkerszene zu Beginn des zweiten Teils gibt dem Darsteller des dramatischen Schriftstellers zwar viel Raum für das Ausleben seiner Rolle, benimmt ihm dadurch aber tendenziell die Möglichkeit zu differenziertem Spiel, zumal die Rauschfiktion im zweiten Teil nicht konsequent bis zum Ende durchgehalten wird. Das intime Ambiente, die Kostüme und die Requisiten (schön die weißen Luftballons, die aus dem Spaßmacherkoffer des Großvaters emporsteigen!) und nicht zuletzt der für die Zuschauer servierte Kaffee sorgen insgesamt für eine wunderbare Zimmertheateratmosphäre, die noch einige Male bis zur Sommerpause im TLB genossen werden kann. Karten für weitere Aufführungen von „Am Ziel“ können unter folgender Telefonnummer reserviert werden: 0749-053024.