Erdhaufenphilosophie

Symbolfoto: freeimages.com

Es war in diesem Frühling. Mein Mann hatte Erde bestellt, weil unsere eigene zu lehmig und für den Gartenbau ungeeignet ist. Der Bagger kam und schüttete eine Schaufel voll in den Hof, die zweite landete vor der Gartenpforte, weil wir dem ungeduldigen Fahrer nicht schnell genug geöffnet hatten. Begeistert griff ich zur Schaufel. Als Schreibtischtäter freut man sich über ein wenig Bewegung im Freien. Ein Gratis-Sportstudio direkt vor der Haustür! Außerdem regt kaum etwas die Kreativität mehr an als ein Haufen Erde...  Schon beim ersten Schaufelstich stieß ich auf Scherben: Reste von Tongefäßen. Hmm, interessant – hatte da einer die Pflicht für archäologische Notgrabungen vor dem Bau nicht beachtet? Haben sich die Leute modernes Geschirr zugelegt und ihre alten Gefäße im Hof weggeworfen? Bald lag halb Cucuteni zu meinen Füßen. Dann sogar ein Schädel – leider bloß von einer Katze.

Erde ist faszinierend, weil sie von der Vergangenheit erzählt. Doch nicht nur das, sie verkörpert sie auch: Präkambrischer Stein- staub, von Wind und Wetter in Abermillionen Jahren abgerieben, vermischt mit den Atomen und Molekülen unzähliger Tier- und Pflanzenleiber im ewigen Kreislauf zwischen Wachstum und Verfall. Wissen Sie, wie lange es dauert, bis ein menschlicher Körper sich durch Atmung und Nahrungsaufnahme bis zum letzten Atom erneuert hat? Nur zweieinhalb Jahre, fanden Wissenschaftler auf der Basis von Untersuchungen mit radioaktiven Isotopen heraus! Alle sechs Wochen produzieren wir eine neue Leber, alle drei Monate neue Knochen, jeden Monat wechseln wir die Atome der Haut aus und alle fünf Tage die Magenwände. Ja, sogar die Erbanlagen erneuern wir im Rhythmus von sechs Wochen. Heraklit hatte recht: Alles ist im Fluss. Tatsächlich ist eher die Existenz stabiler Formen ein Wunder. Und Krankheit eine seltsame Störung dieses formerhaltenden Prinzips: Warum stirbt man an Leberzirrhose, wenn sich das Organ doch alle paar Wochen erneuert? Was hat seinen Bauplan geändert?

Beim nächsten Schaufelstich tritt eine Wurzel zutage. Wurzeln...meine sind nicht von hier – und doch besteht mein Körper längst zu 100 Prozent aus rumänischer Erde. In mir schlummern mehr Daker- und Römeratome als von den Nibelungenhelden! Womit wir beim zweiten Wunder wären: Der rege Substanzaustausch auf der Erde durch Stoffwechsel- und Wetterkreisläufe. Er führt dazu, dass alle heutigen Menschen zumindest ein paar Atome von, sagen wir, Platon, Jesus, Mohammed, dem Hunnenkönig Attila, Beethoven, meinetwegen auch von Hitler oder den altägyptischen Grabräubern in sich tragen und per Atmung auch noch pausenlos austauschen! Wie viele Atome meines Mannes sind in mir verbaut, wie viele der meinen in ihm? Sind Lebewesen Kondensationskeime, die Materie anziehen, einmal im Kreis herumwirbeln und wegschleudern – so wie ich die Erde mit der Schaufel? Und auf einmal kann ich sie nachfühlen, die Verwurzelung von Menschen mit ihrem Heimatboden – aber auch, warum Heimat überall sein kann: Bauen wir uns doch schon nach kurzer Zeit vollständig aus ihr auf.

Das Wunder endet hier noch lange nicht – betrachten wir nur die Scherben zu meinen Füßen: Jemand hat der Erde eine Form gegeben, aus einer Idee bewusst einen Gegenstand geschaffen. Nur weil Berge vergänglich sind und weil es Leben und Tod gibt, gibt es auch Kreativität. Die Zyklen der Natur aber sind die abertausend Uhren, die Taktgeber für das Bewusstsein, das sich in dem kreativen Prozess von Werden und Vergehen einklinkt. Mit dem nächsten Schaufelstich fällt eine schläfrige Eidechse aus dem lockeren Erdhaufen. Zutraulich lässt sie sich hochnehmen. Die Wärme, die ihr sanfter, neugieriger Blick in mir auslöst, lässt mich zutiefst erbeben. Zwei Bewusstseinsformen, die in Leibern aus derselben Erde wohnen – in „Erdhäusern“ verschiedener Komplexität, jede in ihrer eigenen Form des Erkennens gefangen, das sich dennoch irgendwo überschneidet. Dem Erdhaufen ist es zu verdanken, dass sich nicht nur meine Muskeln im Takt des Schaufelschwungs bewegen.
Erde bewegt auch den Geist.