„Es ist nicht nur eine Kronstädter Geschichte, sondern auch eine europäische“

Gespräch mit Ursula Philippi und Christine Chiriac, Herausgeberinnen des Buches über den Kronstädter Orgelbauer Karl Einschenk

Ursula Philippi und Christine Chiriac vor der Buchvorstellung im Hermannstädter Erasmus-Büchercafe.
Foto: Elise Wilk

Es war ein Zufall, dass der 14jährige Karl Einschenk im Jahr 1881 als Lehrling in die Werkstatt des Kronstädter Orgelbauers Jozsef Nagy kam. Die Zeiten waren schwer, die Familie brauchte dringend Geld, also musste das Kind irgendwohin geschickt werden. Er fing von ganz unten an, mit absolut keiner Erfahrung. Auf einer Wanderschaft quer durch Europa lernte Einschenk die Königin der Instrumente kennen und lieben- und wurde später zum bekanntesten Orgelbauer Kronstadts, bis ins hohe Alter tätig. Er hinterließ eine Musikinstrumentenwerkstatt, die seit 120 Jahren erfolgreich besteht. Und ein paar Seiten mit Jugenderinnerungen, die er mit großem Erzähltalent als alter Mann niedergeschrieben hat.

Diese Erinnerungen, ergänzt durch Interviews mit Zeitzeugen, Fotografien und anderen Originaldokumenten erschienen vor Kurzem in einem Buch, herausgegeben von Ursula Philippi und Christine Chiriac: „Dass die höchsten und tiefsten Accorde schön harmonieren. Erinnerungen des siebenbürgischen Orgelbauers Karl Einschenk“ (Schiller-Verlag Hermannstadt).

„Ich hätte ihn gerne kennengelernt“, meinte Ursula Philippi auf der Buchvorstellung in Kronstadt Anfang Dezember. Das werden sicher auch die Leser dieses Buches behaupten.

Mit den beiden Autorinnen führte KR-Redakteurin Elise Wilk ein Gespräch.

Frau Philippi, Frau Chiriac, wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben?

Ursula Philippi: Die Erinnerungen von Karl Einschenk waren mir schon längst bekannt. Ich hatte sie vor etwa zehn Jahren gelesen, die Familie Einschenk hatte sie damals an mehrere Organisten in Siebenbürgen verschickt. Ich habe das Dokument zuerst aus fachlichem Interesse gelesen und während der Lektüre habe ich gleich bemerkt: so viel über Orgeln steht gar nicht da. Es ist eine frei von der Leber weg erzählte Lebensgeschichte.

2016 haben wir im Rahmen der Konzertreihe „Musica Barcensis“ einen Ausflug organisiert, in dem sich Teilnehmer auf die Spuren der Orgelbaufamilie Einschenk begeben haben. Zu diesem Anlass musste ich die Erinnerungen aus der Schublade herausholen, weil wir daraus lesen wollten. So entstand die Idee.

Christine Chiriac: Im Juni 2016 war ich auch auf diesem Ausflug dabei. Man feierte damals das 120. Jubiläum seit der Firmengründung „Musikinstrumente Einschenk“. Damals habe ich den Text zum ersten Mal gehört und er hat mich vom ersten Moment an interessiert. Der Mensch schreibt lebendig, das kann man gut lesen und hören. Dann kamen ich und Ursula Philippi ins Gespräch und am Ende hieß es: Komm, wir geben ein Buch über Karl Einschenk heraus! Das war eine Überraschung, so hat das angefangen.
 

Wie haben Sie sich die Arbeit untereinander aufgeteilt?

U.P.: Schon von Anfang an war es klar: die Erinnerungen, so wie Karl Einschenk sie hinterlassen hat, kann man in dieser Form nicht herausgeben. Leider brechen die Erinnerungen im Jahr 1901 abrupt ab, die Geschichte ist also unvollständig. Warum er mit dem Schreiben so plötzlich aufgehört hat, weiß man nicht. Vielleicht krankheitshalber, er war ja fast 80. Die Familie hat bestätigt, dass das alles ist, mehr Text gibt es nicht. Dann standen wir vor mehreren Fragen: Wie kann man die Geschichte ergänzen? Was ist uns noch unbekannt? Wo soll man weitersuchen?

Diese Lücke haben wir versucht zu füllen durch Interviews mit Zeitzeugen und weiteren Originaldokumenten, damit wir das Bild dieses Mannes so wahrheitsgetreu wie möglich darstellen. Christine war dann für die Recherche zuständig, ich für die Sortierung der Daten und den Aufbau des Buches.

C.C.: Ich habe mit der Verwandtschaft Kontakt aufgenommen. Am Anfang waren die Leute eher zurückhaltend. Sie haben alle gemeint: ich kann mich nicht mehr an ihn erinnern, ich war damals viel zu jung. Und dann tauchte plötzlich ein Dokument nach dem anderen, eine Anekdote nach der anderen auf. Dann hatten wir ganz viele. Nach und nach haben wir eine Auswahl getroffen.

U.P.: Ja, es gab anfangs eine gewisse Zurückhaltung der Großfamilie. Karl Einschenk hatte selbst acht Kinder, und danach kamen vier weitere Generationen auf die Welt – das sind mehr als 100 Leute, überall verteilt. Als das Buch fertig war, erhielten wir noch einen Stoß Briefe von einer Enkeltochter. Es war zu spät. Eigentlich sind das alles private Dokumente, die nicht gedacht waren, an die Öffentlichkeit zu gelangen. Und dafür muss man der Familie danken, dass sie uns alles zur Verfügung gestellt hat.
 

Warum haben Sie trotzdem entschieden, diese privaten Dokumente an die Öffentlichkeit zu bringen?

U.P.: Es ist selten, dass ein „einfacher“ Mensch so gut schreibt – Karl Einschenk hatte nicht studiert, er stammte aus ganz einfachen Verhältnissen. Ein Buch von und über einen einfachen Menschen ist etwas Seltenes.

Es ist auch keine typische Erfolgsgeschichte, in der jemand als Kind schon vom Klang der Orgeln fasziniert ist und es anschließend schafft, eine Tradition zu gründen. Er musste als 14-Jähriger irgendwo hinkommen, in eine Lehre, und beim Orgelbauer Nagy war ein Platz frei. Dann ist er hingegangen. Es war eher ein Zufall. Seine Kollegen waren alle Waisenkinder, wurden sehr schlecht behandelt, verprügelt, seine Jugend war kein Honiglecken.

C. C.: Es gibt viele Schriften von gelehrten Leuten, die man über die Vergangenheit lesen kann. Von Handwerkern kaum. Es ist schön zu erfahren, wie Handwerker zu den Zeiten in Kronstadt lebten.
 

Das Buch ist also auch ein wichtiges Zeitdokument.

C.C.: Genau. Karl Einschenk schildert zum Beispiel wie es war, als 1873 die erste Eisenbahn in Kronstadt eingeführt wurde. Damals war er sechs Jahre alt. Seine Erinnerungen an den Tag sind sehr lebendig. Außerdem erfahren wir aus dem Buch, wie die Stimmung damals war unter den Lehrlingen. Solche Informationen findet man kaum. Es ist ein Buch, das hier in Kronstadt spielt, und das fand ich besonders spannend.

U.P.: Es geht ja nicht nur um den Orgelbau, es geht viel um Reisen, um andere Völker, und es ist nicht nur eine Kronstädter Geschichte, sondern auch eine europäische.
 

Sie zeigt, wie vernetzt Europa schon damals war, lange vor dem Internet-Zeitalter. Die jungen Leute von heute können es sich kaum vorstellen, dass jemand zehn Jahre unterwegs war in Europa, ohne in dieser Zeit nach Hause zu kommen, und sich bei seiner Rückkehr fragt, welche seiner Verwandten wohl noch am Leben sind.
 

An wen wendet sich das Buch? Sicher auch an junge Leute, die wissen wollen, wie es früher war.

U.P.: Da gibt es diesen wunderschönen Satz, mit dem die Erinnerungen anfangen: „Ich will versuchen, meine Erlebnisse, angefangen von meiner frühesten Jugend, niederzuschreiben. Vielleicht wird eines von meinen Kindern oder Enkeln daran ein Interesse oder Neugierde befriedigen, wenn sie lesen, was ein Mensch durchmachen muss, wenn er von seiner frühesten Jugend mehr oder weniger selbst auf sich angewiesen ist“.
Ansonsten würde ich sagen, das Buch wendet sich an alle, die sich für Siebenbürgen interessieren.

Natürlich gibt es auch einige Sachen, die für junge Leute interessant sein können. Zum Beispiel schildert Einschenk wie die jungen Mädchen von je vier Trägern auf einer Sänfte durch den Morast getragen wurden, zum Ball, damit ihre schönen Kleider sauber bleiben.
 

Frau Chiriac, wie verlief die Recherche-Arbeit?

C.C.: Die Großfamilie Einschenk ist sehr verteilt. Ein paar leben noch hier, die restlichen hundert vor allem in Deutschland. An einem Wochenende war ich in Kronstadt und habe die Familie Einschenk aus der Schwarzgasse interviewt, danach Eckart Schlandt. An einem anderen Wochenende war ich dann in Schönaich bei Böblingen, Germering und Geretsried, wo andere Familienmitglieder wohnen. Alle Einschenks hatten eine Mappe mit Karl-Einschenk-Dokumenten, manche Texte wiederholten sich, andere waren in Teilen vorhanden. Wir mussten dann all diese Teile zusammenbringen.

Die Recherche hat mir Spaß gemacht, wir haben Krapfen gegessen und ganz viel erzählt über Siebenbürgen, es kamen viele Erinnerungen hoch. Für mich war es auch in anderer Hinsicht sehr interessant – ich war zum ersten Mal bei Siebenbürger Sachsen daheim, die in Deutschland wohnen. In der Seele ist noch sehr viel geblieben von der Zeit in Siebenbürgen.
 

Welches waren die größten Schwierigkeiten?

U.P.: Ich habe alles abgetippt, vieles war in Sütterlinschrift geschrieben. Christine hat ganz aufmerksam Korrektur gelesen. Natürlich gab es schon Kritik von unseren Lesern, da sich hier und dort ein paar Fehler eingeschlichen haben – doch das bedeutet, dass die Leute das Buch aufmerksam gelesen haben.

C.C.: Wir hatten am Anfang eine dicke Mappe mit Dokumenten und wussten nicht, was wir damit anfangen sollten. Ohne Enthusiasmus hätten wir es nicht geschafft. Vielleicht wäre das Buch vollständiger gewesen, wenn wir es vor zehn Jahren herausgegeben hätten. Dann hätten noch mehr Leute gelebt, die Karl Einschenk gekannt haben.

Schade, dass er seine Erinnerungen nicht mehr weitergeschrieben hat. Zum Beispiel war er einer von den Leuten, die hier in Kronstadt gelebt haben, während die anderen in die Sowjetunion deportiert wurden. Aus der Deportation gibt es hunderte von Geschichten, von Daheimgebliebenen weiß man wenig. Es waren Zeiten, die für die Siebenbürger Sachsen schwierig waren.
 

Was haben Sie während der Arbeit am Buch gelernt?

U.P.: Ich habe menschlich einiges gelernt. Man muss sich nicht immer durchsetzen, es sind bei der Buchveröffentlichung viele Sachen zu entscheiden und man muss sich manchmal auch zurücknehmen können.

C.C: Alleine hätte ich das Projekt nicht zustande gebracht. Ein Segen, dass wir zu zweit waren. Es war spannend. Es war das erste Buch, an dem ich mitgearbeitet habe, und ich würde durchaus noch einmal von vorne beginnen.
 

Was ist ihre schönste Erinnerung an die Zeit, in der das Buch entstand?

C.C.: Der Anfangsmoment, als wir entschieden haben, das Buch zu schreiben. Und ich habe es genossen, mit der Familie zu sprechen. Langsam bekommt man ein Bild von einem Menschen und man befreundet sich mit einem Thema, das man vorher nicht gekannt hat.

U.P.: Der Moment als der Verleger den Buchumschlag entworfen hat, mit dem Ölbild von Karl Einschenk. Das Bild wirkte so lebendig, ich hätte ihn sicher sehen wollen, diesen alten Herren.

Ein zweiter Moment war bei der Buchvorstellung, als die Ur-Urenkel von Einschenk Adventsmusik gespielt haben. In wenigen Familien gibt es einen Ur-Urgroßvater der noch so präsent ist, nach fünf Generationen.

C.C.: Mich hat beeindruckt wie er über das Haus in der Schwarzgasse, wo sich bis heute die Werkstatt befindet, geschrieben hat: „Jede Dachziegel ist durch meine Hände gegangen“.

Das Haus existiert noch, seine Nachkommen wohnen dort und viele aus der Familie haben ähnliche Berufe wie er.

U.P.: Und das alles durch einen Zufall. Er hat anfangs als Lehrling in der Werkstatt gekehrt und Lampen geputzt, bis zum Orgelbau war noch ein weiter Weg. Doch alle diese Details machen das Buch charmant.
 

Frau Philippi, Frau Chiriac, wir danken Ihnen für das Gespräch!
 

Das im Schiller-Verlag erschienene Buch „Das die höchsten und tiefsten Akkorde schön harmonieren“ ist in Kronstadt in der Aldus-Buchhandlung erhältlich. Online kann es im Schiller-Verlag erworben werden.