Europa und die Folgen von Putins Krieg in der Ukraine

Ein Kommentar von Joschka Fischer

Andere Zeiten: Wladimir Putin mit Javier Solana, damals Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, beim Russland-EU-Gipfel 2003 in Rom. Im Hintergrund der damalige italienische Premier Silvio Berlusconi. | Foto: Russian Presidential Press and Information Office

Joschka Fischer (geb. 1948, Aufnahme von 2014) war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. In den beinahe 20 Jahren seiner Führungstätigkeit bei den Grünen trug er dazu bei, aus der ehemaligen Protestpartei eine Regierungspartei zu machen. | Foto: Wikimedia

Seit dem 24. Februar 2022 leben wir in einer anderen Welt. Mit dem militärischen Überfall Russlands auf das Nachbarland Ukraine hat der russische Herrscher ohne Grund die gesamte europäische Friedensordnung, ja wahrscheinlich weite Teile der Weltordnung, wie sie sich seit den frühen 90er Jahren entwickelt hat, mutwillig zerstört und die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation zwischen der Nato und Russland heraufbeschworen.

Der Krieg ist zurück in Europa. Eine europäische Großmacht greift ihren kleineren Nachbarn an, stellt dessen Existenzrecht in Frage und droht gar mit dem Einsatz von Kernwaffen.

Und wie immer in der ein für alle Mal überwunden geglaubten Vergangenheit des Kontinents besteht die Gefahr, dass sich aus einem europäischen Krieg schnell ein erneuter Weltenbrand, ein dritter Weltkrieg unter Einschluss von Kernwaffen entwickeln kann. Es ist dies das europäische Trauma schlecht-hin – das Hegemonialstreben der Großmächte des alten Europa, verbunden mit der Nukleardrohung des Kalten Krieges –, das Wladimir Putin mit seinem Angriffskrieg wieder aktualisiert hat.

Tag für Tag sehen die Europäer im Fernsehen und in den sozialen Medien die Bombardierung und Zerstörung ganzer Städte, endlose Flüchtlingsströme haben nahezu alle europäischen Staaten und nicht nur die direkten Nachbarn der Ukraine erreicht und treffen dort auf große Hilfsbereitschaft. Putins Angriffskrieg bestimmt, zumindest mental, den Alltag der meisten Europäer, gleich ob sie in einem Mitgliedstaat der EU leben oder nicht.

Putin hat sich offenbar verschätzt

Doch Wladimir Putin scheint sich massiv verkalkuliert zu haben: Der geplante Blitzkrieg zum Sturz der gewählten ukrainischen Regierung und zur Unterwerfung des Landes unter seinen Willen ist schon jetzt gescheitert; er hat die militärische Schlagkraft seiner Armee über- und die Tapferkeit der Ukrainer, für ihr Land und ihre Freiheit zu kämpfen, unterschätzt; dasselbe trifft für die Geschlossenheit des Westens, von Nato und EU, zu und für deren Unterstützung durch Waffenlieferungen und andere materielle Hilfen für die kämpfende Ukraine und die Flüchtlinge. Ebenso hat er die Entschlossenheit des Westens im atlantischen Bündnis unterschätzt, beispiellose Sanktionen gegen die Stützen des Regimes, die gesamte russische Volkswirtschaft und deren Finanzsystem zu erlassen.

Die Geschlossenheit und Entschlossenheit Europas ist beispiellos, weil alle Europäer, egal ob innerhalb oder außerhalb der EU lebend, gleichermaßen begriffen haben, dass Putins Angriffskrieg nicht nur die Ukraine, sondern uns alle und vor allem unsere Grundwerte von Demokratie und Rechtsstaat, von friedlichem Zusammenleben und der Unantastbarkeit der Grenzen, meint. Und entsprechend hat Europa einmütig und geschlossen reagiert.

Ein neues Verhältnis zwischen Europa und Russland

Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wird in seinen Auswirkungen und seiner Tiefenwirkung wahrscheinlich sogar die Wendezeit von 1989 und der folgenden Jahre  noch übertreffen. Europa hat seine Friedensordnung verloren, wie sie sich seit dem Ende des Kalten Krieges entwickelt hatte. Einer der tragenden Pfeiler war darin das Verhältnis des Westens zu Russland, das durch Putins Aggressionskrieg völlig zerstört wurde.

Wir wissen gegenwärtig nicht, wie und wann dieser Krieg enden und ob die Ukraine als unabhängiger Staat überleben wird. Das Misstrauen gegenüber Russland wird allerdings noch sehr lange fortdauern. Die Ostgrenze von EU und Nato wird deshalb prekär bleiben und in Zukunft ganz anders militärisch gesichert werden müssen, zukünftig eine Aufgabe für Nato und EU gleichermaßen. Allein dieser Sicherheitsauftrag wird aus der EU als dem Projekt des Gemeinsamen Marktes einen geopolitischen Akteur machen. Bisher war das einzige geopolitische Instrument der EU die Mitgliedschaft, die Zugehörigkeit eines Staates zu dieser weltweit einmaligen Zone des Wohlstands, des Friedens und des Rechts.

Aber schon die große Osterweiterung der EU von 2004 hat gezeigt, dass eine solche geopolitische Transformation nicht allein auf der Grundlage des Beitritts funktioniert. Mit dem Beitrittsbegehren der Staaten des westlichen Balkans und erst recht der Türkei, und nun mit dem Beitrittsbegehren der Ukraine, Moldawiens und Georgiens funktioniert dieses alte System der EU nicht mehr. Ihre geopolitische Transformation – die EU als Wirtschafts-, Währungs-, Sicherheits- und politische Union – wird einer reformierten, veränderten, sehr viel flexibleren Verfasstheit bedürfen, wenn das System nicht kollabieren soll.

Zwischen Beitrittsbegehren und Vollmitgliedschaft werden zukünftig verschiedene Phasen liegen, die es für Kandidaten erfolgreich zu durchlaufen gilt – z. B. Wirtschaft, Gemeinsamer Markt, Sicherheit, Rechtsordnung, gemeinsame Währung, politische Vollmitgliedschaft – mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten und Qualifikationen und auch nicht jedes Land wird die Krönung der Vollmitgliedschaft erlangen können.

EU muss aus ihren Fehlern lernen

Europa ist angesichts von Putins Überfall auf die Ukraine so geeinigt und geschlossen wie nie zuvor, und diese Geschlossenheit wird es zu bewahren gelten über diesen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hinaus.

Und wenn Europa seinen Frieden zukünftig bewahren will, in einer Welt der zurückgekehrten Rivalität von Großmächten, dann darf es sich nie wieder so ignorant seinen geopolitischen Interessen gegenüber verhalten, wie dies in den vergangenen dreißig Jahren der Fall gewesen war. Europa braucht starke Partner für seine Sicherheit, vorneweg die USA und Kanada auf der anderen Seite des Atlantiks, aber vor allem braucht es sich selbst dazu. Der Mut der kämpfenden Ukraine gibt Europa dafür ein leuchtendes Vorbild.