Europäische Union fit für die Zukunft machen

Reformen für mehr Handlungsfähigkeit / Konkrete Vorstellungen gehen weit auseinander

Der Abschlussbericht der „Konferenz zur Zukunft Europas“ wurde am Europatag (9. Mai) in Straßburg feierlich an die Vertreter der EU-Institutionen übergeben. | Quelle: Europäisches Parlament

Im Zuge des Kriegs in der Ukraine sind Forderungen nach institutionellen Reformen der Europäischen Union (EU) wieder in den Fokus gerückt. Das Ringen der EU-Staats- und Regierungschefs um Sanktionen gegen Russland zeigte, dass die aktuellen Abstimmungsprinzipien, die in entscheidenden Bereichen auf Einstimmigkeit basieren, die EU handlungsunfähig machen. Aufgrund dessen betonte auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in Bezug auf die EU-Mitgliedschaftsanträge von Moldawien, Georgien und der Ukraine, dass vorher Reformen nötig seien. 


Ansonsten würde sich die EU wohl ihr eigenes Grab schaufeln, wenn immer mehr Staaten mit Vetorecht in entscheidenden Fragen dem Staatenverbund beitreten. Doch es geht auch um die Rolle des EU-Parlaments und die Politikbereiche, die in die Zuständigkeit der EU fallen. Kürzlich unterbreitete auch eine von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einberufene Konferenz zur Zukunft Europas konkrete Reformvorschläge. Das EU-Parlament unterstützt diese Vorschläge bereits. Die Vorstellungen der Staats- und Regierungschefs, die das Vorhaben für dessen Umsetzung auch unterstützen müssten, gehen allerdings weit auseinander.

Bedeutende EU-Reformen gab es schon öfter

Die EU wurde nicht plötzlich aus dem Nichts heraus gegründet. Ihre Geschichte lässt sich vielmehr als einen über Jahrzehnte andauernden Integrations- und Reformprozess beschreiben. 

Ursprünglich geht die EU auf die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zurück, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen (West-)Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Staaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg) gegründet wurde. Ziel war es damals, einen weiteren Krieg in Europa durch das Zusammenlegen der kriegswichtigen Industrien unmöglich zu machen. 

Nachdem sich diese beschränkte Zusammenarbeit als Erfolg erwiesen hatte, wurde sie deutlich ausgeweitet. Nach und nach sind immer mehr Politikbereiche unter gemeinsame Verwaltung gefallen. Außerdem ist die Zahl der Mitgliedstaaten stark angestiegen, momentan sind es 27 und weitere sind ebenfalls in Sicht. Um dieses Wachstum an Mitgliedstaaten und Kompetenzen der EU bewerkstelligen zu können, waren regelmäßige Anpassungen der internen Strukturen nötig. Für große Veränderungen wurden auch die EU-Verträge des Öfteren geändert. Bedeutende Reformen und Vertragsänderungen sind somit zwar stets ein großer Akt, aber keinesfalls unmöglich. 

Reform des Einstimmigkeitsprinzips gefordert

Die letzte Vertragsänderung, die in Lissabon vereinbart wurde, liegt nun jedoch bereits anderthalb Jahrzehnte zurück. Seitdem hat sich die politische Situation und Debattenkultur in Europa und der Welt jedoch grundlegend verändert. In einigen EU-Mitgliedstaaten dominiert eine große EU-Skepsis, teilweise regieren sogar populistische Politiker, die die EU in ihren Kompetenzen gerne deutlich einschränken würden, beispielsweise die polnische rechtskonservative Regierung oder Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban. In anderen Ländern ist die politische Situation instabil und die Unterstützung für die EU dementsprechend schwankend, zum Beispiel in Bulgarien, Tschechien und Slowenien. Es gibt somit stets eine große Anzahl unterschiedlicher Meinungen zu grundlegenden politischen Fragen. Hinzu kommt durch den Krieg in der Ukraine eine völlig neue außen- und sicherheitspolitische Lage, auf die stets schnell und entschlossen reagiert werden muss. 

Und genau hier weist die EU momentan auch ihre größte Schwachstelle auf: Bestimmte für die Mitgliedstaaten besonders sensible Entscheidungen müssen nicht per Mehrheit sondern einstimmig getroffen werden. Es handelt sich um die Bereiche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Finanzen, soziale Sicherheit und sozialer Schutz, Beitritt neuer Mitgliedstaaten, Justiz und Inneres, sowie Bürgerrechte. Jüngst gab es beispielsweise große Probleme, ein Ölembargo gegen Russland zu verabschieden, da Ungarn das Vorhaben ablehnte und es schließlich in seinem Sinne verwässerte, sodass Ungarn weiterhin Öl per Pipeline aus Russland importieren darf. Ein anderes Beispiel ist, dass keine EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien starten können, weil Bulgarien dies per Veto blockiert. 

Viele Politiker fordern daher die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips. 

Rolle des EU-Parlaments

Doch es geht auch um andere Punkte wie mehr Kompetenzen für das EU-Parlament. Die EU-Parlamentarier ärgert besonders, dass sie nicht an jedem Gesetzgebungsprozess beteiligt sind, sowie kein Initiativrecht für neue Gesetzesvorschläge besitzen. Neue Gesetze dürfen aktuell nur von der EU-Kommission angestoßen werden. 

Anschließend gibt es je nach Politikbereich verschiedene Gesetzgebungsverfahren, bei denen sich die Rolle der beteiligten Akteure, das EU-Parlament und der Ministerrat, der sich aus den 27 Fachministern der EU-Mitgliedstaaten zusammensetzt, unterscheidet. 

In ungefähr 90 Prozent der Fälle ist das EU-Parlament dem Ministerrat gleichgestellt, in den restlichen Fällen darf das Parlament entweder nur eine unverbindliche Stellungnahme abgegeben oder kann einem Gesetz nur zustimmen oder es ablehnen, ohne Änderungen vorschlagen zu dürfen. Politikbereiche, in denen das EU-Parlament somit nicht gleichberechtigt an der Gesetzgebung beteiligt ist, sind beispielsweise Binnenmarkt, Wettbewerbsrecht, Finanzen, geistiges Eigentum, Administration, völkerrechtliche Verträge und Beitritt neuer Mitglieder. 

Wenn die vom Volk gewählten Vertreter allerdings nur ein eingeschränktes Mitspracherecht bei Gesetzgebungsakten haben, ist das wenig demokratisch und passt nicht zum Anspruch der EU. 

Politologische Betrachtung

Sowohl das umstrittene Einstimmigkeitsprinzip als auch die Stellung des EU-Parlaments lassen sich aus politikwissenschaftlicher Sicht jedoch recht einfach erklären. Nationalstaaten geben Souveränität nur dann ab, wenn ihnen dadurch bedeutende Vorteile entstehen, die einen Souveränitätsverzicht rechtfertigen. Dies ist in der EU beispielsweise im wirtschaftlichen Bereich der Fall, die Union ist alleine zuständig für die Zollunion und Wettbewerbsregeln. 

In anderen Bereichen möchten die Nationalstaaten ihre Souveränität jedoch behalten. Entscheidungen in Politikbereichen, die einen Nationalstaat charakterisieren, z. B. die Innen-, Justiz- und Außenpolitik können daher auf EU-Ebene nur einstimmig beschlossen werden. 
Außerdem möchten die Regierungen der Nationalstaaten natürlich nicht, dass Akteure wie ein Parlament, auf das sie keinen Einfluss haben, bei sensiblen Entscheidungen umfassend beteiligt sind. 

Neuer Schwung in Debatte um institutionelle Reformen

In den letzten Jahren kamen Vorschläge für Reformen in der EU hauptsächlich vom französischen Präsidenten. Der überzeugte Europäer Emmanuel Macron hat bereits zu Beginn seiner ersten Amtszeit umfassende Reformen gefordert, auch, dass die EU deutlich mehr Kompetenzen von den Nationalstaaten erhält. Dass daraus nichts wurde, liegt wohl auch an der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die diese Vorschläge stets ignorierte. 

Immerhin hat Macron das Thema populär gehalten und vermutlich dazu beigetragen, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Beginn ihrer Amtszeit eine Konferenz zur Zukunft Europas einberufen hat. Zufällig ausgewählte Bürger aus den EU-Mitgliedstaaten sollten Reformvorschläge für die Zukunft der EU erarbeiten. 

Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas

Diese Konferenz hat inzwischen ihre Arbeit beendet und am 9. Mai einen Abschlussbericht mit 49 Vorschlägen und über 300 Einzelmaßnahmen an die Vertreter der EU-Institutionen übergeben. 

Die meisten Vorschläge handeln von Themenbereichen, die künftig auf europäischer Ebene und nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene geregelt werden sollen, zum Beispiel der Bereich Gesundheitspolitik. 

Aber die Vorschläge beinhalten auch strukturelle Änderungen, wie ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips und ein Initiativrecht für das EU-Parlament. Es ist daher wenig verwunderlich, dass das EU-Parlament diese Ideen umfassend unterstützt. 

Einige Vorschläge könnten im Rahmen der aktuellen EU-Verträge umgesetzt werden, für andere wäre ein neuer EU-Vertrag notwendig. In den EU-Verträgen wird nämlich geregelt, in welchen Politikbereichen die EU in welchem Umfang Zuständigkeiten besitzt. In Bereichen, in denen die Verträge keine Zuständigkeit vorsehen, kann die EU auch nicht tätig werden.

Um die Verträge zu ändern müsste zuerst einmal ein Verfassungskonvent einberufen werden. Hierfür ist eine einfache Mehrheit unter den 27 Staats- und Regierungschefs nötig. Aktuell wäre daher eine Unterstützung von 14 Staaten nötig. 

Vertragsänderungen lehnen mehrere EU-Staaten ab

Diese Unterstützung für die Einberufung eines Verfassungskonvents ist derzeit nicht in Sicht. Anfang Mai lehnten 13 EU-Staaten einen solchen Konvent in einem gemeinsamen Brief ab, darunter Rumänien, Bulgarien, Polen, Tschechien, Slowenien, Kroatien, Estland, Lettland, Litauen, Dänemark, Schweden, Finnland und Malta. 

Zustimmung signalisierten Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, Niederlande und Luxemburg, wobei von diesen Staaten nur Frankreich und Italien das Vorhaben auch tatsächlich mit Nachdruck verfolgen. 

Deutschland hingegen möchte erst einmal die Reformvorschläge umsetzen, die ohne Vertragsänderung möglich sind. Zum Beispiel könnte das Einstimmigkeitsprinzip in allen Bereichen bis auf die Verteidigungspolitik ohne Verfassungskonvent abgeschafft werden. Eine Ausdehnung der Politikbereiche unter gemeinsamer Verwaltung ist jedoch ohne neuen EU-Vertrag nicht möglich. 

Außerdem könnte die Unterstützung von Frankreichs Präsident Macron für die Reformbemühungen nun nachlassen, da er durch die Parlamentswahlen in Frankreich deutlich geschwächt wurde und nun keine Mehrheit mehr im Parlament besitzt. Dadurch wird sich Macron in Zukunft verstärkt um innenpolitische Probleme kümmern müssen. Beim vergangenen EU-Gipfel Ende Juni wurde die Einberufung eines Verfassungskonvents jedenfalls nicht beschlossen, obwohl Frankreich die Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr innehatte und somit „Moderator“ und Kompromissfinder unter den Staats- und Regierungschefs der EU war. Nun hat Tschechien, eines der Länder, das Vertragsänderungen ablehnt, den Vorsitz inne. Es ist daher unwahrscheinlich, dass es in dieser Angelegenheit in naher Zukunft zu Bewegung kommt. 

Selbst wenn ein Verfassungskonvent irgendwann einberufen werden sollte, wäre es trotzdem noch ein weiter Weg. Ein neuer EU-Vertrag muss nach der Zustimmung aller EU-Staats- und Regierungschefs nämlich in jedem Mitgliedstaat auch noch ratifiziert werden. In den meisten Ländern genügt ein Beschluss des Parlaments, in manchen EU-Staaten müsste jedoch das Volk in einem Referendum befragt werden, z. B. in Irland.

Momentan scheinen Reformen in der EU auch nicht ganz oben auf der Prioritätenliste zu stehen. Die Bekämpfung der hohen Inflation dürfte den Politikern momentan größere Bauchschmerzen bereiten.