„Falls ich erkranken sollte, geh ich zu keinem Arzt. Lieber sterbe ich daheim!“

Schockierende Informationen, mit Furchtapell getränkte Nachrichten und sich stets verändernde Theorien zum Corona-Geschehen überfluten Rumänien tagtäglich. Selbst vor den abgelegensten Tälern gibt es keinen Halt

Obcina ist eine kleine Bergsiedlung, die zu der Ortschaft Poienile de sub Munte in den Maramuresch-Bergen gehört. Dort oben, weit abseits der Zivilisation, leben und arbeiten hauptsächlich im Sommer die Ruthenen, eine ukrainische Minderheit. Von ihnen gibt es nicht viele, einige wenige jedoch verbringen acht bis zehn Monate im Jahr auf ihren Höfen und versorgen sich in dieser Zeit fast ausschließlich selbst. Eine feste Straße gibt es nicht, der Weg ist nur mit großer Mühe zu Fuß oder mit Pferd zu bestreiten.

Selten verirren sich Fremde nach Obcina, was jeden Besuch zu einem besonderen Anlass macht. Ivan ist 70 und lebt hier mit seiner zehn Jahre älteren Frau Motria. Die Rolleneinteilung ist auf den ersten Blick klar gegliedert. Ivan repariert mit dem Hammer, dessen Stiel kaum dicker ist als sein Arm, den Holzzaun, der die wilden Tiere davon abhalten soll, von seinem mit Mühe gebauten Heuschobern zu fressen. Motria steht drinnen am Eisenofen, mit dem geheizt und gekocht wird. Sie sorgt für das Abendessen. Durch ein kleines grünes Fenster tritt etwas Licht in das einzige Zimmer des Hauses. Elektrizitätsanschluss gibt es hier oben nicht. Geschweige denn fließend Wasser. Nicht wenige Menschen leben im Rumänien des 21. Jahrhunderts unter solchen Umständen. Laut einer Schätzung des Energieministeriums aus dem Jahr 2019 haben über 50.000 Haushalte in Rumänien keinen Stromanschluss. In der ländlichen Region hatten im Jahre 2018 knapp 65 Prozent der Haushalte keinen Wasseranschluss. Die Dunkelziffer liegt mit großer Wahrscheinlichkeit viel höher. 

„Genau so habe ich das gehört…“

Selten kommen Kinder oder Enkelkinder hinauf, um bei der Arbeit zu helfen oder Lebensmittel mitzubringen, die nicht angebaut werden können. Das mit Abstand wichtigste Mitbringsel sind die Neuigkeiten aus dem Dorf. Nur auf diese Weise bekommen Ivan und Motria mit, was außerhalb von Obcina geschieht. Obwohl die beiden schon vor der Ausrufung der Pandemie das Dorf verließen und rauf in die Bergsiedlung gekommen sind, scheint vor allem Ivan informiert zu sein, was das Coronavirus betrifft. 

„Wenn jemand erkrankt, der älter als 65 ist und deswegen zum Arzt geht, wird ihm eine Spritze verabreicht, von der er nach einer Woche stirbt. Wenn du jünger bist, dann bekommst du eine gute Spritze, die dich gesund macht.“ Kaum vorstellbar, mit welcher Angst Menschen wie Ivan und Motria nachts einschlafen. Sie sind felsenfest davon überzeugt, der nächste Arztbesuch werde der letzte sein. Nur mit großer Mühe und Überzeugungskraft gelingt es, Ivan von der Unwahrheit dieser Gerüchte zu überzeugen. Vor Kurzem erst sei ein Dorfbewohner leicht erkrankt und ins 120 Kilometer entfernte Kreiskrankenhaus nach Baia Mare gebracht worden, übersetzt Ivan, was Motria, die kein Rumänisch spricht, aus dem Hintergrund erzählt. Dort hätte er einige Spritzen bekommen, kurz darauf war er tot. Die Leiche wurde in einen Plastiksack gesteckt und unter polizeilicher Aufsicht nach Hause gebracht. „Der Tote durfte nicht einmal in sein eigenes Haus gebracht werden, nicht schön angezogen und gewaschen, wie es bei uns üblich ist. Nicht einmal rasiert wurde er.“ „Falls ich erkranken sollte, geh ich zu keinem Arzt. Lieber sterbe ich daheim!“ Oft beruhen derartige Überzeugungen auf fehlendem Vertrauen in die Behörden und das Gesundheitssystem. Eine IRES-Studie aus dem Jahre 2015 zeigt, dass weniger als 20 Prozent der Rumänen, den Behörden und der Politik vertrauen. Das bemerkt auch der Soziologe Dr. Mihai-Bogdan Iovu von der Babeș-Bolyai- Universität in Klausenburg/Cluj-Napoca. „Das mangelnde Vertrauen gegenüber dem Gesundheitssystem ist nur ein Aspekt des fehlenden Vertrauens gegenüber den Behörden im Allgemeinen. Das mit dem Gesundheitssystem ist zurzeit am sichtbarsten. Das Scheitern des Staates, den Menschen, die in abgeschotteten Regionen wohnen, Zutritt zu medizinischen Dienstleistungen zu ermöglichen, sorgt für noch weniger Vertrauen in Fachleute,“ so Dr. Iovu. Unten im Dorf befindet sich eine kleine Außenstation des 35 Kilometer entfernten Krankenhauses von Oberwischau/Vișeu de Sus. Hier sind vier Ärzte für ungefähr 16.000 Menschen zuständig. Diese sind hauptsächlich aus dem Dorf und teilweise aus der angrenzenden Ortschaft. Der Allgemeinmediziner Dr. Alexandru Deac aus dem Nachbarort ist mit dieser Situation gut vertraut. „So gut wie alle Bewohner dieser Ortschaften sind bei einem Hausarzt eingeschrieben. Einige haben, gegeben durch ihre Wohnlage, schweren Zugang zu den Ärzten. Obwohl es in dieser Gegend ausreichend Krankenstationen gibt, fehlt es hier an Ärzten.“

Die rumänischen Behörden setzten einige Regelungen in Kraft, die bestimmten, wie der Transport, die Aufbewahrung und die Bestattung einer Person, die an Covid-19 gestorben ist, gehandhabt wird. Die strengen Regelungen fanden in vielen Fällen bei der gläubigen und traditionsbewussten rumänischen Gesellschaft keinen Zuspruch. Den Verstorbenen nicht nach althergebrachten Bräuchen auf seine letzte Reise vorzubereiten, sondern so zeitnah wie möglich der Erde zu übergeben und die stark begrenzte Anzahl der Trauernden, die dabei sein können, sorgt vor allem auf dem Land für weitaus mehr Entsetzen als die Erkrankung an sich. 

„Das Schlimmste steht uns noch bevor“

Einige Hundert Meter entfernt von Ivans Hof steht das Haus von Maria. Hier verbringt sie den Großteil des Jahres zusammen mit ihrem Mann und zwei ihrer Enkelkinder. Insgesamt hat Maria 14 Kinder auf die Welt gebracht. Keines lebt heute noch in der Bergsiedlung. Der Familienvater ist tagsüber nicht am Hof, sondern in einer Lichtung im Wald und hütet die Kühe. Dass hier auch Jugendliche wohnen, merkt man an den Solarmodulen, die an der Außenwand des Holzhauses angebracht sind. Vor einigen Jahren hat die Lokalbehörde einigen Familien, die abgelegen wohnen geholfen, sich diesen Luxus zu leisten. Der damit erzeugte Strom soll für Handy und eine Glühbirne reichen. Maria hat ihre eigene Sicht der Dinge, was Corona betrifft. „Die machen selbst viel Propaganda, es ist aber nicht so, wie sie es behaupten. Nur Gott kennt die Wahrheit. Die Gelehrten sagen, dass es der Satan ist, der das Böse bringt, und nicht die Krankheit. So steht es ja in der Bibel. Das Schlimmste steht uns noch bevor.“ Nicht selten wird in solchen Situationen der Glaube der Wissenschaft bevorzugt. „Die Kirche oder die Religion tragen nicht direkt dazu bei, dass die Menschen den Fachleuten misstrauen und eher an Gerüchte glauben. Dafür aber das Wissen, dass die Kirche übermittelt, welches antithetisch zu dem steht, was die Wissenschaft beweist“, so der Soziologe Dr. Iovu. 
Ivan ist trotz des mühsamen Lebens ein fröhlicher Mensch. Nur selten hat er kein Lächeln aufgesetzt. Dann aus Angst davor, was unten im Dorf angeblich geschieht. An Motrias Gesichtsausdruck kann man unmöglich etwas ablesen. Trauer und Freude leben hier nah beieinander. Hier kennt man es nicht anders, in Armut und Einsamkeit schafft man sich sein eigenes Paradies.

An oberflächlichen Informationskampagnen zum Thema Corona fehlt es in Rumänien nicht, ebenso wenig fehlen auch die Falschmeldungen. Gezielte Aufklärung ist kaum gegeben. Der intransparente Austausch zwischen Behörden und Bürgern fördern die Unwahrheiten und Verschwörungstheorien.  Diese suchen sich ihren Weg, selbst wenn der weit abseits in die Berge führt.