Folgenschwere Kulturpolitik der Liberalen?

Die Regierungspartei hat eine große Bibliothek zittern lassen

Auszeichnung der Astra-Bibliothek Hermannstadt mit der Medaille und Urkunde zum 100. Jubiläum der Gründung Großrumäniens am 1. Dezember 1918, am 21. November 2020 von Raluca Turcan (links) und Daniela Cîmpean (rechts) ausgehändigt. Im Hintergrund Porträts von Astra-Vereinsvorsitzenden bis 1947
Foto: Facebook-Account Biblioteca Astra Sibiu

Im November 2020 hat die Astra-Bibliothek Hermannstadt/Sibiu eine Auszeichnung entgegennehmen dürfen, die im selben Herbst auch anderen kulturellen Vereinen und politischen Organisationen wie beispielsweise dem Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR) ausgehändigt wurde: An einem Samstagabend keine zwei Wochen vor dem Nationalfeiertag Rumäniens – auf der Höhe der Kampagne vor der Parlamentswahl vom 6. Dezember 2020 also – waren Daniela Cîmpean (Nationalliberale Partei, PNL), die zwei Monate zuvor am Tag der Lokalwahlen bestätigte Vorsitzende des Kreisrates Hermannstadt, und Raluca Turcan (PNL), Ministerin für Arbeit und Sozialschutz sowie Ex-Vizepremierministerin, in der Astra-Biblio-thek vorstellig geworden, um Bibliotheksdirektor Silviu Borş im Auftrag von Staatspräsident Klaus Johannis die Urkunde und Medaille zum 100. Jubiläum der Gründung Großrumäniens am 1. Dezember 1918 („Medalia Aniversară ‘Centenarul Marii Uniri’“) zu überreichen.
Unter Laien und Bücherwürmern gleichermaßen ist Silviu Bor{ für sein gewollt sparsames Auftreten in der Öffentlichkeit bekannt. Das Amt als Chef der Astra-Biblio-thek mitten im historischen Zentrum Hermannstadts mit fünf weiteren Filialen stadtweit und in Heltau/Cisnădie dazu bekleidet er seit Juli 2011 ununterbrochen. Noch im Mai 2019 bewarb er sich erfolgreich um weitere drei Jahre im Dienst als ranghöchster Bibliotheksbeamter, bis einschließlich Juni 2022. Er macht geschickt Karriere, tut es aber fern aller diplomatischen und politischen Rednerpulte von Stadt, Region und Land. So eben halt, wie es einem Bibliotheksdirektor, dem das ruhige Arbeiten abseits der Sensationsgier von Presse und Fernsehkamera eindeutig über alles geht, gut steht. Im April 2021 hat die Vollversammlung des Nationalen Vereins der Bibliothekare und Öffentlicher Bibliotheken Rumäniens (ANBPR) Silviu Bor{ zu ihrem Vize-Vorsitzenden gewählt.

1861 wurde die Astra-Bibliothek gegründet. Sie ist genauso alt wie die Geschichte des namensgebenden Transsylvanischen Vereins für die Rumänische Literatur und die Kultur des Rumänischen Volkes (ASTRA). Eine so reiche Zahl kann sich keine andere öffentliche rumänische Bibliothek Siebenbürgens stolz auf die Karte schreiben, wenn man einem Plakat Glauben schenkt, mit dem die Bibliothek seit Mitte Juni auf den Litfaßsäulen und in den Fußgängertunneln der Stadt für ihre Sache wirbt. Auch ihren Facebook-Account hält das Plakat mit einer antiquarischen Gebäudeansicht und den goldenen Jubiläums-Lettern auf dunkelblauer Farbe bereit (siehe Bild). Dem Youtube-Kanal und den beiden Social-Media-Accounts der Astra-Bibliothek nach zu schließen fehlt dieser vorbildlichen Einrichtung  nichts.

Ein nicht weniger pflegeleichtes Bild von sich selbst versucht in der Öffentlichkeit auch die PNL zu unterhalten. Dass sie erstmals 1875 zur Parlamentswahl antrat, ist für die stärkste Partei der aktuellen Regierungskoalition Rumäniens ein historisch bedeutender Vorteil. Aber er kann nur unter der Bedingung positiv ins Gewicht fallen, dass alles, was in der Zeit von 1875 bis heute gut gemacht und hart erarbeitet wurde, auch weiterhin wertgeschätzt wird. Auch und vor allem kulturell hat Rumänien sich im 20. Jahrhundert an die Spitze Europas und der Welt geschrieben. Keine Regierungspartei – ganz gleich welcher politischen Couleur – sollte das kalt lassen. Im Juni 2021 jedoch hat die PNL auf Ebene des Hermannstädter Kreisrates eine Kürzung beschließen wollen, die glücklicherweise abgewendet wurde und überaus stark zu Lasten der Astra-Bibliothek gegangen wäre.

Disput mehrerer Weggefährten

85 Planstellen verzeichnet das Organigramm der Astra-Bibliothek, wovon 18 vakant sind. Der Beschlussvorlage Nr. 10847 vom 18. Mai zufolge, über die der Kreisrat Hermannstadt in seiner Sitzung vom 24. Juni abstimmen wollte, hätten alle 18 vakanten und noch zehn weitere besetzte Planstellen der Astra-Bibliothek aufgelöst werden sollen. Ihre Belegschaft wäre durch diese politisch kritikwürdige Entscheidung um ein Drittel ihrer maximalen Kapazität gebracht worden. Aus dem Grund, dass der Kreisrat der Astra-Bibliothek für das Jahr 2021 nur knappe 4,2 Millionen Lei aus dem Staatshaushalt zugeteilt hat.

2020 waren es noch ganze fünf Millionen Lei gewesen. Damals aber hatte die PNL die Mehrheit im Kreisrat Hermannstadt noch nicht alleine für sich. Weil sie in der Legislaturperiode von 2016 bis 2020 keine Koalition mit der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei (PSD) eingehen wollte, fiel ihre Wahl auf die acht Fraktionssitze des DFDR. Am Sonntag der Lokalwahlen vom 27. September dagegen fiel der PNL die alleinige Mehrheit im Kreisrat Hermannstadt zu. Bis Sommer 2024 werden alle Organisationen und Parteien, die auf Regionalebene in Opposition zu ihr stehen, es nicht einfach haben. Die Kreisratsvorsitzende Daniela Cîmpean hätte somit am 24. Juni durchaus ihre durch demokratische Wahl erlangte Machtposition voll ausspielen und die Kürzung von 28 Planstellen an der Astra-Bibliothek durchdrücken können. Dass sie es nicht getan hat, dürfte ihr als Kompliment angerechnet werden, wäre da nicht ihre klare Weigerung zur Stunde der Kreisrats-Sitzung vom 24. Juni, auch nur im Ansatz einzuräumen, dass die Kürzung der Fonds für die Astra-Bibliothek um wertvolle 800.000 Lei doch von ihrer Parteifraktion vorgeschlagen worden war.

Durch das zuvorkommend ungefragte Entgegenkommen, auch die mit im Kreisrat vertretenen Fraktionen des DFDR, der PSD und des Bündnisses der Union Rettet Rumänien (USR) und der Partei für Freiheit, Einheit und Solidarität (PLUS) um je eine Stellungnahme zu bitten, hat Daniela Cîmpean sich als Kreisrats-Vorsitzende und PNL-Spitzenkader zugleich geschickt aus der Affäre gezogen. Auch Laura Bucătaru, Büroleiterin an der Astra-Bibliothek, und Georgel Petrache, Vorsitzender der Filiale Hermannstadt des Nationalen Gewerkschaftsblocks (BNS), erhielten in der Online-Sitzung vom 24. Juni Redezeit. Zu den Gästen der Debatte um den betreffenden Tagesordnungspunkt zählte nicht zuletzt Bibliotheksdirektor Silviu Borş.

Er berichtete davon, den Bibliotheksangestellten vorgeschlagen zu haben, wegen der Fonds-Kürzung allen verkürzte Arbeitszeiten zu verordnen und kleinere Gehälter auszubezahlen: „Leider konnte ich keinen solidarischen Geist unter ihnen feststellen.“ Deswegen blieb ihm nur noch die Option, besagte 28 Planstellen aufzulösen und insgesamt zehn Mitarbeiterverträge zu kündigen. Eine sehr defensive Taktik, die Silviu Borş das Unverständnis von Kollegin Laura Buc˛taru, Gewerkschafter Georgel Petrache und drei mitdiskutierenden Kreisrats-Fraktionen einbrachte. Daniela Cîmpean vertagte die Abstimmung auf unbestimmte Frist, bat jedoch alle vier politischen Fraktionen um Aufstellung je eines Mitglieds für eine Kommission zwecks Suche von Alternativen zur Planstellen-Kürzung an der Astra-Bibliothek. Diese neue Kommission hielt drei Treffen ab.

Stringentes Bedürfnis

Mitte Juli schließlich aber geschah endlich, was schon viele Monate zuvor hätte unternommen werden müssen: Silviu Bor{ sandte ein offizielles Schreiben an den Kreisrat Hermannstadt, worin er um Bereitstellung der zusätzlich benötigten Geldmittel bat. Da drängt sich die Frage auf, warum der Bibliotheksdirektor nicht gleich vom Start weg mit einer Gegenforderung auf die vorgeschlagene Fonds-Kürzung geantwortet hat? Denn im EU-Mitgliedsstaat Rumänien, wo laut der Eurostat-Behörde 93,5 Prozent der Menschen pro Jahr kein Buch kaufen, ginge jede Kürzung von Staatshaushaltsmitteln für öffentliche Bibliotheken unweigerlich mit einer Vertiefung der allgemeinen Bildungsschwäche einher. In genau diesem Punkt hat Astra-Biblio-theks-Büroleiterin Laura Buc˛taru nicht unrecht: „Es gibt doch Familien, die sich keine Bücher leisten können und uns dringend brauchen!“

Hat Silviu Borş am Ende vielleicht gar auf das Einverständnis eines Parteikaders warten müssen, ehe er dem Hermannstädter Kreisrat die Forderung nach Aufstockung der Staatshaushaltsmittel für die Astra-Bibliothek unterbreiten durfte? Nicht auszuschließen. Denn als Letztere am 21. November 2020 mit der Urkunde und Medaille zum 100. Jubiläum der Gründung Großrumäniens am 1. Dezember 1918 ausgezeichnet wurde, war auch Historiker Răzvan Codruţ Pop (PNL) zugegen, und zwar in Doppeleigenschaft: Als einer der fünf ranghöchsten Beamten im Organigramm der Astra-Bibliothek und als Berater von Ex-Vizepremierministerin Raluca Turcan. Die Stelle als Regierungsberater hat der Ex-Vizebürgermeister Hermannstadts unterdessen eingebüßt, aber Mitglied im Team der Astra-Bibliothek ist er laut deren Homepage nach wie vor. Und noch im Januar 2021 wurde Răzvan Codruţ Pop zum Generaldirektor der Rumänischen Behörde für Autorenrechte (Oficiul Român pentru Drepturile de Autor, ORDA) berufen.

Niemand wollte schuld sein in der Causa der Kürzung der Mittel für die Astra-Bibliothek Hermannstadt, und alle politisch mit der Macht betrauten Organe wollten ihre Gegner dafür verantwortlich machen. Zur Not gar die Bibliothek selbst, was der PNL auch fast gelungen ist. Beinahe zu spät, aber eben doch noch rechtzeitig hat Bibliotheksdirektor Silviu Borş das einzig Richtige getan und den von der PNL dominierten Kreisrat Hermannstadt um mehr Fonds für die von ihm geleitete Institution gebeten. Die Liberalen mögen weitaus effizienter als ihre sozialdemokratischen Gegner regieren können, aber in Sachen Kultur und Kulturpolitik müssen auch sie dazulernen.