Führerdemokratie, illiberale Demokratie, Scheindemokratie: alles eins?

Wie aus einem Musterschüler ein Sorgenkind wurde / Paul Lendvai über Viktor Orbáns Ungarn

Vieles hat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán seit seinem erdrutschartigen Wahlsieg im Frühjahr 2010 angerichtet – für einiges ist er getadelt worden, für vieles aber, vor allem in seinem Lande, wurde er gelobt. „Der nationale Freiheitskampf“, den er damals vom Zaun gebrochen hat und seit sieben Jahren ununterbrochen führt, hat aus Ungarn jedoch ein autoritär geführtes Land gemacht, eine Scheindemokratie, in der Orbán als Alleinherrscher, gestützt auf einem Haufen Ja-Sager, nach Gutdünken waltet. Einen klugen, gut dokumentierten, im Zeitungsstil geschriebenen Rechenschaftsbericht über die Person Viktor Orbán und ihre Politik sowie über Ungarn unter der Fidesz-Regierung hat der in Österreich lebende Publizist Paul Lendvai vor Kurzem veröffentlicht. „Orbáns Ungarn“, 2016 im Wiener Verlag Kremayr & Scheriau erschienen, ist nicht nur eine Abrechnung mit einem Regime, das sich längst von demokratischen Grundprinzipien verabschiedet und eine für EU-Standards beispiellose „illiberale Demokratie“ errichtet hat, sondern eine dringende Mahnung, ein Wachruf an all jene, die noch immer glauben, dass der Rechtspopulismus, in Westeuropa weiterhin auf dem Vormarsch, eine Alternative bieten kann.

Lendvai, der angesehene Autor einer in Rumänien bereits die dritte Auflage erlebenden Geschichte der Magyaren („Ungurii. Timp de un mileniu învingători în înfrângeri”, Humanitas-Verlag), ist nicht der einzige, der Alarm schlägt. Er reiht sich in die lange Kette jener ein, die bereits 2010 auf das Sorgenkind Ungarn aufmerksam gemacht haben, als Orbán nach zwei verlorenen Wahlen (2002 und 2006) eine Zweidrittelmehrheit erringen konnte und mit dem dramatischen Umbau der Institutionen begann. Nur drei Namen seien genannt, Lendvai lässt sie ausführlich zu Wort kommen, neben amerikanischen Politikwissenschaftlern, ungarischen Journalisten, ehemaligen Orbán-Vertrauten, Oppositionellen u. a.: György Dalos, der in Berlin lebende freie Autor, János Kornai, der hoch geschätzte Ökonom, der als erster osteuropäischer Volkswirt in seinem bahnbrechenden Buch „Economics of Shortage” wie kaum ein anderer erklärt, warum der Sozialismus dem ökonomischen Ruin geweiht und die Mangelwirtschaft nicht zu überwinden ist, oder Lajos Bokros, Finanzminister der Gyula-Horn-Regierung, dessen Maßnahmen Ungarns Wirtschaft Mitte der 1990er Jahre stark ankurbelten. Aber verge-bens, Viktor Orbán und sein Machtapparat sind nicht zu erschüttern, die illiberale Demokratie steht und das Volk sieht (fast zur Gänze) davon ab.

Auch Europa schaut weg, obwohl in seinem Herzen der große Mann eines kleinen Landes die Demokratie mit Füßen tritt, seinem Hofstaat und seinem engeren Familienkreis die maßlose Bereicherung ermöglicht, alle Schaltstellen des Staates strengstens kontrolliert und eine national gefärbte Gesinnung an den Tag legt, die an das Horthy-Regime der Zwischenkriegszeit erinnert und den Grundkonsens Europas weiterhin untergräbt. Ab und zu wird der 1963 in ärmlichen Verhältnissen geborene Orbán von der Europäischen Kommission, vom Europarat, von Abgeordneten des Europäischen Parlaments kritisiert, dann kommt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Besuch, fragt nach den Interessen in Ungarn tätiger deutscher Unternehmen, unterstreicht die Bedeutung der Pressefreiheit und ist weg. Wochen später empfängt der Budapester Regierungschef den russischen Präsidenten Vladimir Putin, verhandelt mit ihm über den Bau von Atomkraftwerken, kritisiert die Sanktionen der EU, poltert gegen den dekadenten Westen, die linksliberale Ideologie, die ihm den einheimischen Gulasch vergiftet, lässt meterhohe Zäune aus Stacheldraht an der EU-Außengrenze bauen und spielt den Retter des Abendlandes. Nur wegen seines mutigen Einschreitens können die Menschen in Österreich und Deutschland ruhig schlafen, sagte Viktor Orbán unlängst, als es galt, die Sicherheitsanlagen an der ungarisch-serbischen Grenze mit einem neuen Zaun zu erweitern und die eingefangenen Syrien-Flüchtlinge entweder direkt nach Serbien zurückzuschicken oder in Containerlager einzusperren. Ungarn, das Land, das West- und Mitteleuropa seit Jahrhunderten vor der Gefahr aus dem Osten tapfer schützt. Ungarn, das vor den internationalen Finanzkreisen um George Soros, dem magyarischen Juden mit US-Pass, geschützt werden muss, weil sie dem Land die Freiheit rauben wollen, die Luft zum Atmen. Hört sich das alles nicht bekannt an? Nun, Orbán hat das Konzept der illiberalen Demokratie 2014 auf rumänischem Gebiet zum ersten Mal erläutert, im siebenbürgischen Bad Tuschnad/Băile Tuşnad, wo er alljährlich aufkreuzt.

Lendvai zeichnet in seinem 240 Seiten langen Buch den gesamten Werdegang des ungarischen Ministerpräsidenten nach, er berichtet über seine Kindheit, seine Jugend, seine Studienjahre in Budapest, als er Freundschaften geknüpft hat, die ihm später genutzt haben und ihm teilweise auch heute noch nützlich sind; alte Kameraden hat er mit wichtigen Posten belohnt, so zum Beispiel den Staatspräsidenten János Áder oder den Vorsitzenden des Parlaments, László Kövér. Mit einigen hat Orbán gebrochen, zum Beispiel mit Gábor Fodor, seinem besten Freund und die Nr. 2 in den Anfangsjahren des Fidesz, bereits im Jahre 1994, als dieser die Fidesz verlassen hatte und eine Koalition mit den Sozialisten unter Gyula Horn eingegangen war. Mit anderen brach er erst später, wie zum Beispiel mit Lajos Simicska, dem umtriebigen Geschäftsmann, der für Orbán ein weit verzweigtes Medienimperium aufbauen ließ, das Orbán nun Stück für Stück zerschlägt.

In seinem inneren Machtzirkel geblieben sind allein die weniger Ambitionierten, die intellektuell Schwachen, die Strohmänner, die Orbán treu dienen und keine Fragen stellen. Für die Parlamentswahl 2014, die Orbán selbstverständlich gewann, hatte der Ministerpräsident alle Kandidaten seiner Partei vorher persönlich befragt, in seinem Privathaus in einer Kleingemeinde bei Stuhlweißenburg/Székesfehérvár, wo er dann später für mehrere Millionen Euro ein Fußballstadion bauen ließ. 3800 Plätze, ganze 1800 Einwohner zählt das Dorf. Sportakademie für Nachwuchsfußballer mit inbegriffen, der Budapester Regierungschef ist leidenschaftlicher Fußballer. Dabei hatte doch alles so gut angefangen. Der junge Orbán hatte im Juni 1989 auf dem Budapester Heldenplatz eine Rede gehalten, die in die Geschichtsbücher einging.

Er kritisierte scharf den untergehenden Kommunismus, die im Auflösen begriffene Sowjetunion, die aber damals noch 70.000 Rotarmisten in Ungarn unterhielt, und die Altbonzen der Magyar Szocialista Munkáspárt, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, die nach dem Abdanken János Kádárs 1988 mit ihrem Latein am Ende waren, aber irgendwann begriffen, dass sie sich an der Macht nicht mehr halten konnten. Kurze Zeit danach schnitt Außenminister Horn mit seinem österreichischen Kollegen Alois Mock den Stacheldrahtzaun bei Ödenburg/Sopron durch, der Eiserne Vorhang wurde Geschichte. Und Orbán ein Hoffnungsträger, dem es im Nachhinein gelang, eine starke Mitterechts-Partei aufzubauen, die 1998 zum ersten Mal die Parlamentswahlen gewinnen konnte. Gedemütigt durch den Machtverlust 2002 und die neue Niederlage 2006, profitierend von den Schwächen der Linksregierung unter Péter Medgyessy und Ferenc Gyurcsány, benutzte Orbán die durchgesickerte „Lügenrede“ Gyurcsánys, um im Oktober 2006 eine Art kalten Bürgerkrieg auszurufen, den Kampf gegen die Regierung setzte er unvermindert fort, die Wirtschaftskrise, die Ungarn in den ökonomischen Abgrund blicken ließ, half ihm sehr.

Seit sieben Jahren also herrscht Viktor Orbán über das westliche Nachbarland, aus dem Musterschüler der 1990er Jahre ist ein halbfaschistoider Staat geworden, über dessen korrekte Einstufung Politikwissenschaftler, Historiker und Ökonomen streiten. Halbfaschistoid? Autoritär? Totalitär? Eine Führerdemokratie? Fakt ist, dass in Ungarn Bürger wegen ihren Meinungen nicht eingesperrt werden, dass Menschen nicht des Landes verwiesen werden, dass das Regime offen kritisiert werden kann, dass Wahlen abgehalten werden. Aber eine Demokratie im europäischen Sinne ist Ungarn längst nicht mehr, die Orbánsche Regierungsmehrheit hat die Verfassung mehrmals geändert, sie hat illiberale Gesetze eingeführt, sie hat treu Ergebene in Schlüsselämter gehievt, die den gesamten Staatsapparat kontrollieren.

Die satte Fidesz-Mehrheit verabschiedet Gesetze im Eiltempo, Parlamentsdebatten dauern mitunter weniger als zehn Minuten. Selbst die Universitäten ächzen unter der Fuchtel Orbáns, seit die Regierung den unabhängigen Rektoren von ihr ernannte Direktoren an die Seite gestellt hat, die vor allem über das Finanzielle bestimmen dürfen. Auch die Lokalautonomie ist stark eingeschränkt worden, die ehemaligen Komitatsselbstverwaltungen wurden aufgehoben. Fidesz-Bürgermeister regieren in allen Großstädten mit Ausnahme von Szeged. Die Macht der Richter ist stark beschnitten worden, die Unabhängigkeit der Notenbank ist längst nicht mehr gewährleistet. Das gesamte System des checks & balances, die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle der Institutionen bestehen kaum noch. Dem Willen Orbáns fügt sich der gesamte Staat. Lendvai dokumentiert dies ausführlich und glaubhaft.

Was sagt also das Lendvai-Buch einem Rumänen? Was sollte Rumänien aus der ungarischen Lektion lernen? Im Grunde, dass die Demokratie ein äußerst fragiles Gebilde ist, um dessen Existenz täglich gekämpft werden muss und das täglich gelebt und gelehrt werden muss. Dass auch der lupenreinste Demokrat zu einem Halbdespoten verkommen kann, wenn die Institutionen nicht stark genug sind, ihn rechtzeitig zu bremsen, und wenn sich das Volk von der Illusion des starken Mannes, des Retters in der Not, der die Nationalwürde wiederherstellt, so einfach verleiten lässt. Fidesz-inspirierte Vorgehensweisen können leicht in der rumänischen Politik ausfindig gemacht werden, man sehe sich bloß die Affäre um die Eilverordnung Nr. 13/2017 oder die zahlreichen Geschäfte politiknaher Unternehmer an, die auch hierzulande zur Tagesordnung gehören. Aber im Vergleich zu Ungarn scheint Rumänien ein zumindest halbwegs demokratisch funktionierender Rechtsstaat zu sein.

Und auch kein rumänischer Politiker hat es so weit gebracht wie der Chefideologe der Fidesz, András Lánczi, Vorsitzender der Századvég-Stiftung, einer Denkfabrik, die die Orbán-Regierung mit Aufträgen in Millionenhöhe füttert. Lánczi erklärte mehrmals, dass die zwielichtige Vergabe von Staatsaufträgen an ungarische Unternehmen, die der Fidesz nahe stehen, keine Korruption ist, sondern die Verwirklichung einer politischen Vorstellung, nämlich jener von einem starken Ungarn. Auf diese Idee kam in Rumänien noch keiner. Obwohl die jüngsten Ereignisse gezeigt haben, dass Staaten wie Ungarn oder Rumänien vor dem Angriff machthungriger Politiker verteidigt werden müssen, bevor es zu spät ist. Und man sich nur noch auf den lieben Gott verlassen kann. Wie die Ungarn eben, in deren Verfassungspräambel Viktor Orbán 2011 die Fürbitte schreiben ließ, Gott möge die Magyaren segnen. Er möge sie auch schützen, am besten vor Orbán selbst.