„Für Europa ist nationales Denken immer noch ein Problem“

Rundtischgespräch des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Bukarest

Christian Flisek (SPD) ist überzeugt: Europa leidet nicht nur an nationalen Vorbehalten, sondern auch an zahlreichen Vorurteilen. „Viele schimpfen zum Beispiel auf die riesige Brüsseler Bürokratie. Dabei hat allein die Stadt München mehr Beamte als die gesamte EU-Kommission.“
Foto: der Verfasser

Das Informationszentrum des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) lud am Mittwoch vergangener Woche in Bukarest zu einem Rundtischgespräch von besonderer politischer Aktualität: „Wohin geht Europa?“ Dieser Frage stellten sich die Diskutanten auf dem Alumnitreffen ehemaliger Stipendiaten. Besondere Gäste des Abends: der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Werner Hans Lauk, und der SPD-Bundestagsabgeordnete Christian Flisek.
In einem kurzen Grußwort verwies Lauk auf die Probleme, denen sich die Europäische Union gegenwärtig stellen müsse: „In den letzten Wochen und Monaten sind einige Risse unübersehbar geworden: Dies reicht von den Diskussionen über die Flüchtlings- und Asylpolitik über den Disput über die Arbeitnehmerfreizügigkeit bis hin zu den teils gravierenden sozialen Unterschieden innerhalb der Union.“ So verfüge Rumänien über vergleichsweise hohe Wachstumsraten, doch die Sozialstandards ließen noch zu wünschen übrig – gegenüber dem EU-Durchschnitt bestehe noch ein enormer Nachholbedarf. Allerdings ließe sich die Europäische Union nicht ausschließlich auf wirtschaftliche Größen reduzieren: „Sie ist mehr als die Summe aller Mitgliedsländer, und wir müssen den nachfolgenden Generationen ein Europa hinterlassen, welches durch gemeinsame Werte und Solidarität gekennzeichnet ist.“

Christian Flisek, auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Besuch in Rumänien, mahnte: „Die Entwicklung Europas bis zum heutigen Tag war kein Automatismus – mit den falschen oder gefährlichen Leuten an der Macht kann diese jederzeit wieder umgekehrt werden.“ Haupthindernis sei ferner das nach wie vor weit verbreitete nationale Denken, welches sich in der aktuellen Diskussion um die Gewährung neuer Kredite für das pleitebedrohte Griechenland auch in Deutschland Bahn breche. Immer öfter, so Flisek, stehe er in seinem Passauer Wahlkreis mit immer häufigeren Bemerkungen wie „Es müsse doch irgendwann Schluss damit sein“ unter einem immer stärkeren Rechtfertigungsdruck. Dabei werde allerdings das hohe Maß an Solidarität vergessen, welches Deutsch-land in den vergangenen Jahrzehnten erfahren habe. Mittlerweile werde – wie auch im Diskussionsforum – vermehrt die Frage gestellt, wohin Europa gehen solle. Allerdings müsse nicht das endgültige Ziel, sondern der Weg zu einer Solidargemeinschaft auf einem geeinten Kontinent im Mittelpunkt stehen. Für Gabriel Decuble, Leiter der Abteilung für Germanische Sprachen und Literaturen an der Universität Bukarest, besitzt auf dem Weg zu dieser Einheit das europäische Bildungssystem eine Schlüsselrolle. Es garantiere ein hohes Maß an Integration, doch es gebe noch viel zu tun: „In der Vergangenheit wurde in ganz Europa viel in die Quantität und weniger in die Qualität investiert.“ Langfristig müsse sich eine gut ausgebildete Generation ein gemeinsames, länderübergreifendes Bild von Europa machen können. „Es gibt zwar gemeinsame Werte, aber noch keine gemeinsame Vorstellung von Europa“, so der Literaturwissenschaftler.

Die sozial- und bildungspolitischen Aspekte der versuchten europäischen Einigung wurden durch Anmerkungen aus wirtschaftlicher Perspektive abgerundet: „Was passiert bei einer Krise? Beispiels-weise kann Rumänien nur innerhalb eines integrierten europäischen Marktes bestehen“, gab Adrian Tanţău, Dekan der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre mit Unterricht in Fremdsprachen an der Universität Bukarest, zu verstehen. Im Energiesektor seien bereits bedeutende Fortschritte gemacht worden: Das Land besitze gute Strukturvoraussetzungen und stelle die Weichen allmählich auf den Export von Energie und Energiesicherheit um. Kopfzerbrechen bereitet ihm indessen die unmittelbar bevorstehende Liberalisierung der Preise im Energiesektor und die damit verbundene Teuerung für die Verbraucher – zwar sei Energie in Deutschland immer noch dreimal teurer als in Rumänien, doch die zuvor thematisierten sozialen Unterschiede innerhalb der Union verschwänden mit der Freigabe nicht, sondern sie manifestierten sich innerhalb der betroffenen rumänischen Gesellschaft. Das Podiumsgespräch bildet den Auftakt zu einer Reihe weiterer vom DAAD geplanten Veranstaltungen für frühere Stipendiaten. Angedacht seien ab Herbst monatliche Zusammenkünfte zum Gedanken- und Informationsaustausch, so der Leiter des Bukarester DAAD-Informationszentrums, Dieter Müller. Der Austauschdienst vergibt in Rumänien unter anderem Stipendien an Studierende, Graduierte und Hochschulmitarbeiter für Forschungsaufenthalte in der Bundesrepublik Deutschland. Seit seiner Gründung 1925 hat er weltweit etwa 2 Millionen Akademiker unterstützt.