Geerbt, gearbeitet, geschätzt, gealtert, gebrannt

Handwerker Vladimir Tancou aus Hermannstadt hält Rückschau

Vladimir Tancou wünscht seinem Atelier für die Zukunft nur das Beste. Vor allem richtig gute neue Fenster mit Rahmen aus Holz statt billigem Imitat.
Foto: Klaus Philippi

Man muss überhaupt nicht lange hinschauen, um zu merken, dass es schon bessere Zeiten erlebt hat, das Haus von Carl und Michael Brukenthal. Im Erdgeschoss rechts des Eingangsportals zur Straße hin herrscht seit Jahren gähnende Leere, ausgenommen nur noch die jeweils im Herbst einladende Lange Nacht der Galerien. Das Angebot der nicht ganz unumstrittenen Geschäftsgesellschaft S.C. URBANA S.A., den Raum dauerhaft zu mieten, scheint ansonsten nicht wirklich jemanden zu interessieren. Liegt das an einem vielleicht überhöhten Mietsatz, den die vom Rathaus Hermannstadt/Sibiu favorisierte Geschäftsgesellschaft dafür fordert, oder doch eher an den Gittern vor Fenster und Türe? Unmöglich, ein so besonderes Lokal noch unwirtlicher bewerben zu wollen. Dabei könnte jeder Mieter täglich neu das große und über 200 Jahre alte Medaillon an der Raumdecke bewundern. Es lässt den großbürgerlichen Glanz der Epoche Samuel von Brukenthals und seiner Nachfahren Revue passieren.

Auch dem Erdgeschossraum links des steinernen Eingangsportals ist durch die Glasscheiben seiner zwei Fenster eine Vergangenheit anzusehen, mit der das Heute, Hier und Jetzt der fünfzehn Jahre alten Kulturhauptstadt Europas kaum noch etwas gemeinsam hat. Ein feiner Unterschied zum leerstehenden Raum gegenüber jedoch besteht trotzdem, und der hat es in sich: Diese beiden Fenster geben den Blick in eine Allrounder-Werkstatt frei, in der seit mehreren Jahren niemand mehr ein- und ausgeht, die aber bis an die Decke hoch mit allerhand Schränken, Utensilien und Dekoration gefüllt ist. Und zwar so gerappelt voll mit Sachen, dass eines feststeht – hier hat mal ein Mensch gewerkelt, der das Alleinsein bei seiner Arbeit gemocht haben muss. Sonst hielte man beim Stehenbleiben an den beiden Fenstern und einem bloßem Hingucken auf das, was sich einem dort vor den Augen auftut, nicht wie angewurzelt kurz inne.

Es ist ein vom Vergessen bedrohter Schauraum in der Reispergasse. Weil ihre allerersten Steine zur Mitte des 14. Jahrhunderts gelegt wurden, zählt sie zu den ältesten Straßen Hermannstadts. Hätte Rumänien nicht fünfundvierzig Jahre kommunistisches Regime erlebt, würde die 1921 nach Revolutionär Avram Iancu benannte Gasse ihren rumänischen Namen auch bis heute ununterbrochen behalten haben, statt auf der Straßenkarte von 1950 bis 1965 mit dem Datum des 23. August belegt zu werden. Sie hat viel ertragen müssen, ohne Frage. Aber auch der Mann, dem die Drehbank, die zig Handwerkzeuge mit Holzgriffen, die Möbel und die seit langer Zeit kein bisschen mehr gewässerten Kakteen im Atelier hier auf der Reispergasse Nummer 8 gehören, hat im vorkommunistischen, kommunistischen und postkommunistischen Rumänien so einiges mitgemacht.

Bald Zapfenstreich?

Sofort nach Aufmerksamkeit schreit das Holzprofil eines Hahns hoch oben und noch weit vorne im Atelier, sobald man in eines der beiden Fenster hineinlugt. Das unbändige Tier, das im Neuen Testament dreimal laut kräht. Beginnend mit dem Frühjahr oder Sommer 2021 lag auf dem Arbeitstisch vor dem rechten Fenster ein in Holz und hinter Glas gerahmtes Aquarell mit der Kreuzabnahme Jesu. Eine menschenleere, aber vollständige und selbstbewusst tief in sich ruhende Welt starrte aus der Werkstatt hinaus auf die breite Gasse. Jede Woche, jeden Tag. Immer gleich und unverändert, doch genau darum sehr verlockend. Irgendwann im frühen Herbst war das Aquarell mit der Kreuzabnahme Jesu plötzlich weg vom Tisch. Wollte ich den alten Mann treffen und sprechen, dessen Geschichte der Blick in sein Atelier leider nur teilweise erzählen kann, musste ich Glück haben.

Das Glück, im endlich passenden Moment an seinen beiden Fenstern vorbeizulaufen. Spürend, dass die Zeit klar gegen meine Hoffnung läuft, eine nicht planbare Begegnung erleben zu dürfen. Alles, was ich über den dort nicht mehr anzutreffenden Alten wusste, waren sein Name und die Information, er habe vor ein paar Jahren einen Schlaganfall erlitten, wie die Verkäuferin des kleinen Lebensmittel-Ladens „Biocoop“ gegenüber auf Nachfrage berichtete. „Tancou“  ist über dem Briefschlitz der verschlossenen Atelier-Eingangstüre aus Holz ohne Knauf oder Klinke zu lesen. Und der dicke Stapel Stromrechnungen auf einem Tisch musste klar an Vladimir Tancou adressiert sein. Ein anderer Vor- und Nachname konnte auf die alte Brukenthal-Kapelle aus gotischer Vergangenheit im barocken Palais auf der Reispergasse nicht zutreffen, wenn man sich auf der sauber in Plastik eingeschweißten Liste der Hausbewohner kundig machen wollte, die in der Toreinfahrt aushängt – neben einer Kreidetafel für die wöchentlich neue Zuteilung der ständigen Aufgabe, den Hof zu fegen.

Unter allen vierzehn Anwohnern dieser Immobilie kommt Vladimir Tancou dafür längst nicht mehr infrage. Zu hoch sein Alter und viel zu weit fortgeschritten seine chronische Krankheit, als dass er dem Haus von Carl und Michael Bruken-thal noch aus eigener Kraft etwas Gutes tun könnte. Dass er schon seit fünfzig Jahren ganz woanders wohnt, ist also nicht der Grund für sein unfreiwilliges Selbstverbot, sich zur Arbeit aufzuraffen. Den langen Erdgeschossraum mit dem hohen Tonnengewölbe als Kapellen-Decke – ihre Verzierungen der Originalbauzeit sind reich und nach wie vor unverändert erhalten – hat er von seinem Vater Aurel Tancou geerbt. An ihn, der 1951 der Innung der Bildenden Künstler Rumäniens als Mitbegründer ihrer neuen Filiale in Hermannstadt beitrat, zu der auch Hans Hermann, Trude Schullerus, Ferdinand Mazanek, Else Roth, Trude Vandory, Carl Closius und fünf andere zählten, denkt Vladimir Tancou gerne zurück.

In guter Gesellschaft

Im Haus Nummer 8 auf der Reispergasse hat er schließlich seine Kindheit und Jugend verbracht. Erst kurz nach 1970 zog er aus dem wenige Jahre zuvor renovierten Erdgeschoss und Elternhaus frisch verheiratet in das etwa um 1760 erbaute Theresianum-Wohnviertel am nordwestlichen Stadtrand. Drei große Hündinnen – Mutter und zwei Töchter – bewachen Haus und Hof genügend energisch, um einen an der Torklingel das Fürchten zu lehren. Dem Wort der aufschließenden Hausherrin jedoch gehorchen sie auf der Stelle. Drinnen in der guten Stube verbringt Vladimir Tancou den Tag. Zwischen ihm und dem Fernseher gibt es nur noch einen langen Heizkörper.

Er ist körperlich weitaus weniger fit als seine Ehefrau, richtet sich aber erzählend zum Zenit auf. Elektromechaniker war sein Beruf, Tischlern seine Leidenschaft. Sein letzter Arbeitstag für das 1922 gegründete lokale Traditionsunternehmen Flaro Prod S.A. muss wohl um die zwei Jahrzehnte zurückliegen. Das Gedächtnis von Vladimir Tancou ist beachtlich. Denn er hat es dreimal gefährlich brennen erlebt.

Auf Wunsch von Freunden hat er als Hobby-Tischler im Atelier auf der Reispergasse immer wieder mal kleine Möbelstücke angefertigt. Ein paar Jahre vor Rumäniens Beitritt zur EU und Hermannstadts Auftritt als Europäische Kulturhauptstadt sah er sich gezwungen, im Atelier wieder von ganz vorne anzufangen. Genau zwischen Weihnachten und Neujahr hatte ein Brand darin gewütet. Noch bis heute tröstet ihn die Erinnerung an den Besuch von Prinz Charles im Atelier in eben genau dieser Zeitspanne noch vor dem für Stadt und Land entscheidenden Jahr 2007. Auch der Kultur-Botschafter eines afrikanischen Staates habe bei ihm vorbeigeschaut und eine angebrochene Edeltasse nicht mehr aus der Hand legen wollen. „Ich habe sie ihm geschenkt. Er kam doch aus einem Land, wo so etwas als sehr wertvoll galt“, sagt Sammler Vladimir Tancou. Im Atelier liegen noch etliche Fotos als Erinnerung herum. Zum Beispiel ein Porträt, das ein Besucher aus Japan dort von ihm geschossen hat.

Klassischer Fall von Erbstreit

Leider sollte es nicht nur bei dem einen Brand im Atelier bleiben. Es folgten zwei zusätzliche bei ihm privat. Aber nicht etwa zuhause in der Wohnung, sondern dort, wo Schäden am allermeisten wehtun und noch viel schwerer als woanders wiedergutzumachen sind: in der empfindlichen Schaltzentrale von Kopf und Körper. Bestimmt sind es die beiden Schlaganfälle, wegen derer Vladimir Tancou auf dem Tischchen neben seinem Fernsehsessel so viele Medikamente ausgebreitet auf Lager hat. „Mit dem linken Auge sehe ich nichts mehr.“

Umso erstaunlicher, dass ihm zwar das Sprechen erwartungsgemäß nicht leicht fällt, ihn aber auch nicht ermüdet. Was er addierend zu allem bereits geschehenen Übel aktuell durchmachen muss, hält ihn nämlich auf Trab. Auch wenn er sich ein ärztliches Attest ausstellen lassen muss, auf dem seine Unmündigkeit vermerkt sei, also, nicht mehr für sich selbst sprechen zu können. Vladimir Tancou hat das Leben in eine verzwickte Situation gespielt, die ihn zum Abschiednehmen vom Atelier in der Reispergasse zwingt. Das tut – wie kann es auch anders sein – heftig weh. Obwohl seit einem halben Jahrhundert im Haus der Schwiegereltern daheim, ist das Atelier sein heiß geliebtes „Acas[.“

„Das habe ich mir teilweise auch selber zuzuschreiben, dass ich in diese Lage gekommen bin“, räumt Vladimir Tancou nach Einbruch der Dunkelheit im schwach erleuchteten Wohn-zimmer ein. Wie es dazu kommen konnte, darüber verliert er nicht viele Worte. Alles aber deutet darauf hin, dass er das letzte noch lebende von den vier Kindern seiner Eltern ist. Ausgerechnet bei der Frau eines Bruders und Ex-Fotografen, der an Krebs gestorben ist, liegt der Hase im Pfeffer. Als Miterbin des Ateliers, das vor Zeiten noch als Wohnung gedient hatte, versucht sie „deutlich mehr an Land zu ziehen, als ihr paritätisch zusteht“. Was es wert ist und wie viel von seinem Anteil er der „raffgierigen“ Anverwandten bald überweisen muss, könnte bereits entschieden sein. Der Gerichtstermin dafür war, so wusste Vladimir Tancou kurz vor Weihnachten Bescheid, auf Mitte Januar angesetzt. „Ich habe mein Besitzrecht eingebüßt und muss verkaufen.“

Solche Missstände wurzeln tief

„Geld will sie, die Schwägerin, aber keinen Finger gerührt hat sie im Atelier, nie auch nur einen Nagel eingeschlagen!“ Er selbst gibt sich geschlagen, behält aber die Erinnerung. Das vom Arbeitstisch seines Ateliers entfernte Aquarell mit der Kreuzabnahme Jesu hat nicht Vladimir Tancou, sondern eine junge Frau vom freundlichen Team des „St. Andrew´s Scottish Pub“ gegenüber gemalt. Sie war es, die im Herbst 2021 eilig ihre Siebensachen in diesem Atelier auf der Reispergasse packte, ein wenig klar Schiff machte und mir die Rufnummer von Familie Tancou gab. „Viel Glück! Er ist ein guter Redner!“

Bedenkt man, auf wie vielen öffentlich unbekannt schief gelaufenen Biografien Hermannstadts historischer Kern stehen mag, bleibt der Sozialstaat Rumänien auch in der Stadt von Ex-Bürgermeister Klaus Johannis und dem EU-Gipfeltreffen vom Mai 2019 spürbar zurück. Vladimir Tancou wohnt fern der dreifach beringten Altstadt, auf der Schanzgasse. „Strada Ecaterina Teodoroiu“ wurde sie 1937 zu Ehren der 1917 gefallenen Kriegsheldin Rumäniens benannt, die seit dem Nationalfeiertag 2021 auf der neuen 20-Lei-Banknote mit von der Partie ist.

Um die Ecke auf der Doctor-Dumitru-Bagdazar-Straße unweit der Neuropsychatrischen Klinik klebt an einem Haustor ein Sticker von der Wahlkampagne des Demokratischen Forums der Deutschen in Hermannstadt (DFDH) im September 2020: „Împreună“. Ein uralter roter VW-Golf ohne Nummernschild auf einem Parkplatz nebenan kontrastiert den Aufkleber. Gegenüber Vladimir Tancou steht das  DFDH in keiner besonderen Pflicht. Doch weil er im Haus von Carl und Michael Brukenthal daheim gewesen ist, liegt ihm die Stadt am Herzen.

Nicht einmal bei dem Fünfzeiler auf einem anderen Haustor wage ich zu wissen, wie viel und was für Freude noch möglich ist: „Toți cei care trec/pragul acestei uși/aduc fericire./Unii intrând,/alții ieșind.“ Sonnenklar ist mir nur, dass ich drei Tage vor Heiligabend auf Besuch bei einem alten Mann war, mit dem es jede Stunde zu Ende gehen kann. Für mich ging dabei ein Wunsch in Erfüllung, ihm aber stand noch ein Stelldichein in der Zwickmühle der Justiz bevor. „Tribunalul nu-i pentru oameni corecți.“ Der Gerichtshof ist nichts für rechtschaffene Leute.