Geld und Profit sind nicht alles

Hermannstadt baut Hamsterrad statt urbane Geborgenheit

Das Zentrum für Baukultur der Kreisfiliale Hermannstadt des Verbands der Architekten Rumäniens – ein neuer und spannender Ort auf der Fingerlingsstiege, der noch auf Publikumszustrom wartet. Foto: Klaus Philippi

Die Tage werden länger und die Gäste auf der Lügenbrücke/Podul Miniciunilor in Hermannstadt/Sibiu zahlreicher. Abends lebt der Ort des EU-Gipfeltreffens vom 9. Mai 2019 auf, als ob das Drama um Krise und Infektionszahlen nicht Tage, sondern Jahre zurückliegen würde. Optimale Außentemperaturen und der zur Hälfte autofreie Kleine Ring/Piața Mică tun ihr Übriges zur Rückkehr in eine vermisste Normalität. Statt zig PKW-Parkstellen vor dem Schatzkästlein/Casa Artelor locken jetzt zusätzliche Gaststätten-Schirme zur Einkehr. Erwartungsgemäß haben Anrainer sich nicht zweimal zur Erweiterung der gastronomischen Bedienungsfläche bitten lassen.

Was noch vor Ausbruch der Krise am Platz vor den fast 600 Jahre alten Häusern rege genutzt wurde, schickt sich an, die Gegenwart unbeschadet zu überdauern. Obwohl Bürgermeisterin Astrid Cora Fodor und der Stadtrat gelobten, den Gaststätten geschlossene Konstruktionen zu untersagen (siehe ADZ von Mittwoch, dem 20. Mai), hat die neue Pflichtvorgabe, allein Stühle, Tische und Schirme zu verwenden, keinen Anbieter zu einschließlich rückwirkender Reaktion darauf bewegt. Leider wurden die geschmacklosen Zeltgärten nicht entfernt. Zwar stehen jetzt geforderte Sonnenschirme am Platz, doch wurde nicht darauf geachtet, auf ausnahmslos vollständigem Ersatz stilloser Markisen und großflächiger Kunststoff-Sonnendächer zu bestehen. Darum bleibt es dabei – werden gastronomisch Erwerbstätige nicht gezielt angehalten, ihr Stilgefühl gründlich zu revidieren, halten sie es mit altbewährter Bequemlichkeit. Warum auf Nichtverletzung der Authentizität von historischer Kulisse achten, wenn der Rubel auch ohne rollt?

In der nordöstlichen Ecke des Kleinen Rings schützt ein Torturm mit gotischem Kreuzgratgewölbe den höchsten Punkt der 62 Stufen zählenden Fingerlingsstiege/Pasajul Aurarilor. Sie eröffnet schmucken Zugang zur Unterstadt und ist nicht weniger reich an Geschichte als die Wohnhäuser des Viertels ringsum, das im 16. Jahrhundert gezeichnet wurde und dem schnöden Mammon touristischer Geschäftigkeit trotzt. Dunkelgrüne Fensterläden und Haustüren, weiß bestrichene Fensterrahmen und das matte Rosa der hoch aufragenden Hauswände schaffen eine sättigende Einfachheit, die dem kosmopolitischen Überreiz des kulinarischen Angebots auf dem Kleinen Ring abgeht. Seit November 2019 führt die 2011 wiedergegründete Kreisfiliale Hermannstadt des Verbands der Architekten Rumäniens (Uniunea Arhitecților din România, UAR) ein Studio auf der Fingerlingsstiege. Es trägt den Namen „Centrul de Cultură Arhitecturală“ und soll – so das hehre Ziel lokaler Mitglieder der UAR – die „geistige Sanierung unserer Gesellschaft“ nähren.

Abendveranstaltungen, Ausstellungen und bebilderte Vorträge von Architekten, Künstlern, Musikern und Literaten aus Hermannstadt und gesamt Rumänien könnten helfen, Künste in den Alltag zu integrieren. „Kohäsion der schöpferischen Kräfte sämtlicher Zünfte“, lautet der Selbstauftrag der UAR zwischen Kleinem Ring und Fingerlingsplatz/Piața Aurarilor. Sie ist ein eigenständiger Verein und nicht mit der Innung der Architekten Rumäniens (Ordinul Arhitecților din România, OAR) zu verwechseln. Die von Hermannstadt aus gestaltete Monatsschrift „Buletinul Informativ editat la Sucursala UAR Sibiu (BIUAR)“ bietet in- wie ausländische Recherchen und kann kostenlos auf der Homepage www.uarsibiu.ro gelesen werden.

Jelena Mitov (Serbien) gibt der Kommunikationskampagne Building Home 2020 des International Good Living Forums ein Interview für die aktuelle Mai-Ausgabe der BIUAR: „Die Qualität des Wohnens hängt in hohem Maße vom Wert der Nutzung eines Wohnraumes ab. Leider wird der Wert der Nutzung häufig mit dem Marktwert gleichgesetzt (…) Somit kaufen und bauen Menschen sich Residenzen in Abstimmung mit der Nachfrage des Marktes statt nach eigenen Bedürfnissen. Einige Forschungen belegen, dass der gemeine Appartement-Käufer mehr Zeit für den Autokauf als für den Kauf einer Wohnung aufwendet. Folglich bereuen über 60 Prozent der Menschen den Kauf eines Eigentums minderer Qualität.“

Auf die Frage, was man aus der COVID-19-Krise lernen könne, antwortet Jelena Mitov, dass „diese Situation uns daran erinnert hat, wie wichtig unsere Häuser sind und wie empfindlich wir ohne ein Zuhause sind. ´Wir haben das Gefühl für unser Privatleben verloren und waren genötigt, fern von zuhause nur noch öffentliche Leben zu leben´, hat Luis Barragan einmal gesagt. Wir neigen stets, zwecks Zerstreuung, Lebensfreude, Ausruhen und Wiederaufladen hinauszugehen. Aber wir haben vergessen, dass wir all dies in unseren Häusern mit unseren Familien tun können. Einer der Punkte, die wir in diesem diffizilen Augenblick lernen, ist die Tatsache, dass wir den Vorteil des Zuhause-Seins erneut entdecken (…) Entgegen der sozialen Distanzierung glaube ich, dass wir aus dieser Krise mehr als jemals zuvor anhänglicher hervorgehen werden – anhänglicher gegenüber unseren Lieben und unseren Häusern.“

Die Ausgabe der BIUAR Hermannstadt für Mai 2020 bietet einen Vorgeschmack auf das Anfang Juli anstehende Projekt „Street Delivery“. Erstmals in 15 Jahren wird das von der Fundația Cărturești und der OAR veranstaltete Wochenend-Festival nirgendwo im Land Tausende Menschen auf die Straße einladen, aber vom 3. bis 5. Juli Insel-Projekte in Bukarest, Temeswar, Jassy/Iași, Baia Mare, Bacău, Craiova, Großwardein/Oradea, Hermannstadt und Klausenburg/Cluj-Napoca testen. Auch in Chișinău wird eines von zehn Street-Delivery-Pilotprojekten ausprobiert. „Die Pandemie hat nichts weiter als nur einige unvermeidliche Prozesse beschleunigt. Individueller Komfort und Sicherheit verdienen es, auf Wohnviertel-Ebene ausgeweitet zu werden“, so Architektin Dorothee Hasnaș, Mitglied der OAR.

Auf dem Link street.delivery schlägt das Manifest für das Jahr 2020 eindeutige Töne der Richtlinie „ReSoluții“ an: „Wir wollen nicht zurück zur erstickenden, gedrängten und chaotischen ´Normalität´. Wir wollen Städte mit mehr Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse der Menschen, mit mehr Nähe zu Natur, mit mehr Bewusstsein für die Querverbindung gesellschaftlicher Probleme. Wir wollen unsere Straßen zurück für Interaktion von Gesicht zu Gesicht, nicht von Stoßstange zu Stoßstange. Wir wollen realen, grünen und gesunden öffentlichen Raum, um jeder Krise begegnen zu können, ohne es nötig zu haben, uns in Häusern einzuschließen, um festzustellen, dass bei fehlender Verschmutzung Sterne sichtbar werden!“

Seine üppige Linde mit Sitzbank braucht der Fingerlingsplatz dringender denn je, da von der urbanen Szene am pittoresken Örtchen mit Kopfsteinpflaster nicht mehr allzu viel übrig ist. Eine von Architekt Hermann Fabini gezeichnete Altstadtkarte merkt an, dass hier vormals ein öffentlicher Brunnen stand. Um ein Stück Erinnerung an das sanfte Plätschern des städtischen Herzschlages unter freiem Himmel so sauber wie nur möglich vernarben zu lassen, hat Hermannstadt im Herbst 2007 als Luxemburgs Partner- und Europäische Kulturhauptstadt zugleich ein Präsent der Handwerkskammer (HWK) Rheinhessen geschenkt bekommen: auf dem Fingerlingsplatz steht seit 13 Jahren ein Trinkbrunnen aus Granit und Stein, von Steinmetzmeister Ludwig Stollenberger und lokalen Teilnehmern eines Fortbildungskurses gebaut. Hermannstadt steht es mehr schlecht als recht, dass ihm aktuell jede Spur einer Armatur fehlt und er somit kein Wasser spenden kann.

„Am Brunnen vor dem Tore/da steht ein Lindenbaum“ – seine Zweige rauschen, und auch der Wind geht; ob er aber in gesunde Richtung bläst? Am Fingerlingsplatz parken Anwohner und Gäste ihre pechschwarz glänzenden und mit dunklen Fensterscheiben ausgestatteten Kombi-PKWs einfach mal so hin. Es vergällt einem „so manchen süßen Traum“, den man gern im Schatten der Linde träumte. Protzige Autos und rauer Vorstadt-Umgangston kleckern auf das Lied von Sitzbank und Baumkrone, die ihre Buchstaben gar neu sortieren müssen: „Lauf weg von mir, Geselle, / hier findst du keine Ruh!“

Florian Stephan von Teppner und Anke Martina von Teppner, laut Bauprojekt-Plakat wohnhaft in München, sind Nutznießende der Renovierung eines beträchtlichen Teilstückes der nördlichen Fassade der Fingerlingsstiege. Die dafür nötigen Gerüste und Planen gegenüber des „Centrul de Cultură Arhitecturală“ stehen seit dem 23. April an Ort und Stelle und müssen spätestens am 22. April 2021 entfernt werden. Florian Stephan von Teppner und die Lokalfiliale der internationalen Beratungsagentur für Wasser und Landwirtschaft KHAR SRL (www.khar.eco) sind bereits über Briefkasten auf der Fingerlingsstiege erreichbar. Auf einem anderen Briefkasten wenige Stufen weiter oben an derselben Hausfront des 15. und 16. Jahrhunderts klebt ein Aufdruck der Annonce von Anglistin Corina Crăciun, Dozentin an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt (ULBS) und Sprachlehrerin mit über zwanzig Jahren Erfahrung in allen Schwierigkeitsgraden: „elite englisch house – Cursuri și meditații limba engleză – tel. 0773398640“.

Wäre die COVID-19-Krise vom Tisch, würde das „Centrul de Cultură Arhitecturală“ der UAR-Kreisfiliale Hermannstadt erneut zur Ausstellung über Fachikone Julius Doppelreiter (1878-1954), „dem Österreich-stämmigen Architekten, der den Kreis Gorj nobilitiert hat“, einladen. Das ungebetene Virus hat auch die 8. Auflage des lokalen Klavierwettbewerbs für Kinder und Jugendliche „Prietenii Muzicii / Pro Piano“, der alljährlich mit Unterstützung der UAR im März stattfindet, vereitelt. Als Bühne dafür dient traditionell der Jugendstil-Festsaal der ASTRA-Bibliothek, dessen Kammerflügel zwar weder das teuerste noch beste Instrument der Stadt stellt, aber in einem akustisch unübertroffenem Raum steht. Kammermusik schätzende Ohren verteidigen seine Einmaligkeit sowohl im Vergleich mit dem Thaliasaaal der lokalen Staatsphilharmonie als auch vor dem Spiegelsaal des Demokratischen Forums der Deutschen in Hermannstadt (DFDH).

Noch nie war Geldausgeben in Hermannstadt so einfach wie heute. Einwohner und Touristen zehren auf dem Huetplatz/Piața Huet, der Heltauergasse/Str. Nicolae Bălcescu und dem Kleinen wie dem Großen Ring/Piața Mare vom Auftrieb unter Ex-Bürgermeister Klaus Johannis. Die Idylle hat über Jahre hinweg hohen Umsatz eingefahren, jedoch ihren Charme verloren. Schön gepflasterte Plätze und restaurierte Baudenkmäler sichern nur die halbe Erfolgsmiete. Einige Bürger haben Geld in Fülle auf dem Konto, bei vielen stellt sich kaum gähnende Leere in der Brieftasche ein und andere wiederum sind knapp bei Kasse, stehen aber in der gefühlten Minderheit. Doch die Frage nach dem Wo, Wie und Wofür der Moneten könnte bald mehr Menschen als gestern beschäftigen. Wohlstand bereitet der Gefahr von Beliebigkeit ein weiches Himmelbett. Es wäre schade, Hermannstadt nicht wachrütteln zu können.