„Gott hat in seinem souveränen Handeln ein Ausrufezeichen gesetzt!“

Gespräch mit dem Bischofsvikar Dr. Daniel Zikeli (EKR) über die Herausforderungen der Corona-Krise für Kirche und Menschen

Foto: George Dumitriu

Innerhalb weniger Wochen und Tage ist die uns bekannte Welt zusammengebrochen. In den Medien: Hiobsbotschaften aus den von Covid-19 am stärksten betroffenen Ländern. Auch hierzulande steigen täglich die Fälle. Die Menschen stellen sich bange Fragen: Wie werden wir als Land, als Gemeinschaft, als Individuen aus dieser Situation hervorgehen? Häusliche Isolation stellt uns auf die Geduldsprobe: Sie wirft uns auf den engsten Familienkreis zurück, zwingt zur Konfrontation mit dem Ich. Gerade jetzt, wo die Menschen Gemeinschaft, Empathie und seelischen Beistand bitter nötig hätten, sind viele allein. Gerade jetzt, wo man die Nähe zu Gott wieder sucht, sind die Kirchen in ihrem Wirkungskreis empfindlich beschnitten. Über die Herausforderungen, die diese Krise für Kirche und Menschen bedeutet, spricht der Bischofsvikar und Bukarester Stadtpfarrer der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR), Dr. Daniel Zikeli, mit Nina May. Natürlich am Telefon.

Herr Dr. Zikeli, die Corona-Krise hat auch die Kirchen stark beeinflusst. Die Orthodoxen sollen keine Ikonen mehr küssen, die Katholiken nicht mehr ins Weihwasser tippen. Was beeinträchtigt die evangelische Kirche derzeit am meisten?
Für die evangelische Kirche gibt es zwei große Beeinträchtigungen: Die eine betrifft das Verständnis von Gottesdienst, das auf Gemeinschaft beruht, d. h. der Gottesdienst wird von der versammelten Gemeinde „getragen“: Infolge der Corona-Krise darf und kann dieser nicht mehr in der klassischen Form gehalten werden. Das stellt eine große Herausforderung für uns dar. Die zweite betrifft das Abendmahl: Es sieht vor, dass alle Abendmahlsempfänger aus einem Gemeinschaftskelch trinken. Das ist jetzt nicht mehr möglich und deshalb mussten die Gemeinden Alternativen finden. Eine wäre, nur die Hostie in den Kelch einzutauchen. In Bukarest haben wir den Individualkelch eingeführt. Das ist eine mentale Umstellung, aber die Leute haben es akzeptiert und ich hoffe, dass sie sich an diese neue religiöse Praxis gewöhnen werden.

In welcher Form wurden seit Beginn der Krise Gottesdienste gehalten? Was passiert jetzt, seit Inkrafttreten der letzten Militärverordnung, die uns ein Ausgehverbot auferlegt?
Bis zur Erklärung des Ausnahmezustands hatten wir ganz normale Gottesdienste. Das hat sich ab dem 11. März drastisch geändert. Der letzte Gottesdienst fand in Bukarest am 15. März statt. Da ist die Kerngemeinde schon nicht mehr gekommen, denn das sind hauptsächlich Menschen, die zur Risikogruppe gehören. Es waren dafür erstaunlich viele andere Besucher da - viel mehr als ich erwartet hatte. Wir saßen in jeder zweiten Bankreihe, so dass die Distanz gewahrt war.  Ich konnte spüren, es war eine düstere Stimmung.  Den Leuten war klar, dass das mit den Gottesdiensten nicht mehr lange gehen wird.  In der Predigt habe ich mich natürlich auf die Situation bezogen, die Gemeindeglieder gestärkt, ihnen Zuversicht gegeben und sie ermahnt, ernst zu nehmen, was die Behörden sagen: Zuhause bleiben. Nicht in Panik geraten. Genau prüfen, was im Internet und in den Medien verbreitet wird. Nach dem Gottesdienst gab es eine dringende Sitzung des Presbyteriums, wo wir uns strategische Dinge überlegt haben, die alle Abteilungen der Gemeinde betrafen. Das Presbyterium war noch zuversichtlich und wollte an den Gottesdiensten festhalten. Am Dienstag kam dann die Anordnung, dass alles ausfallen muss.

Die Kirche muss sich umstellen, Alternativen suchen. Eine Möglichkeit sind Online-Gottesdienste (via YouTube, Facebook, oder auf den Internetseiten der Gemeinden). Doch viele unserer Gemeindeglieder, ältere Leute oder die auf dem Dorf, haben kein Internet. Dann gibt es die Möglichkeit des brieflichen Zugangs. In Bukarest gab es eine Briefaktion. Solange das mit der Post noch klappt, werden wir Andachten und Worte der geistlichen Erbauung per Brief an die Gemeinde senden.

Wie sieht dies für kleine Glaubensgemeinden auf dem Dorf aus?
Dort gibt es seit der Erklärung zum Ausnahmezustand keine Gottesdienste mehr, denn die meisten Gemeindeglieder gehören zur Risikogruppe: 70 bis 80 Prozent sind über 65 Jahre alt. Man wollte diese Leute aus Verantwortung nicht mehr zusammenbringen. Außerdem finden die Gottesdienste dort nicht in der Kirche statt, sondern in einer kleinen Kapelle oder einem Zimmer im Pfarrhaus, wo man dicht zusammensitzt und daher steigt die Ansteckungsgefahr.

Haben sich Menschen seit der Pandemie verstärkt mit Sorgen und Nöten an Sie gewandt? Was bewegt die meisten?
Nein, das beginnt erst jetzt, mit der Kundgabe der neuen Militärverordnungen (24. März). Viele Sorgen betreffen die Pflege von alten, kranken und besonders einsamen Personen. In Bukarest hatten wir im Presbyterium beschlossen, nur die Pflegebedürftigen zu betreuen. Doch nach der Verordnung vom 25. März, die den über 65-Jährigen den Ausgang einschränkt, ändert sich die Situation. Es stellt sich das Problem der Versorgung mit Lebensmitteln, da werden sicherlich einige anrufen. Wir haben überlegt, mit Hilfe der Diakonie-Station etwas für die Leute zu tun. Ich bin aber auch sehr dankbar über unsere Partner vom Templerorden. Der Templerorden hat in Bukarest eine strategische Gruppe eingerichtet, die sich um kranke und alleinstehende Menschen kümmert. Da müssen wir nur bekannt geben, wer Hilfe braucht, sie springen ein und ergänzen unsere ungenügenden Möglichkeiten. Die möglichen schweren Fälle versuchen wir auch über die Einsatzgruppen der Bürgermeisterämter zu lösen.

Wo findet man diese Anlaufstellen?
Für die Bukarester gibt es eine permanente Hotline und alle wichtigen Telefonnummern sind im Internet auf www.evkb.ro gelistet, außerdem wurden die Gemeindeglieder brieflich informiert. Auch für die Landeskirche gibt es so einen Telefonseelsorgedienst, sie wird von meinem Kollegen Andreas Hartig in Zeiden betreut und ist von 8 bis 20 Uhr besetzt. Diese Telefonnummern sind auch auf www.evang.ro gelistet. Da geht es auch um nützliche Informationen, um geistliche Betreuung oder konkrete Anfragen, etwa ob Konfirmationen noch stattfinden oder an wen man sich wegen Beerdigungen wenden kann.

Finden denn noch Konfirmationen, Hochzeiten oder Taufen statt?
In vielen Gemeinden der EKR ist es üblich, am Palmsonntag zu konfirmieren. Das ist jetzt nicht mehr möglich, der Termin wird verlegt. Selbst in der Bukarester Gemeinde, die Konfirmation erst zu Pfingsten feiert, wurde der Termin verlegt, weil der Vorbereitungskurs nicht mehr gehalten werden kann. Hochzeiten und Taufen können noch mit maximal acht Teilnehmern stattfinden. Aber viele, die sich dazu angemeldet hatten, haben vorerst abgesagt.

Gibt es einheitliche Richtlinien in der EKR oder entscheidet jeder Pfarrer für sich? Tauscht man sich untereinander aus?
Der Bischof hat mehrere Rundschreiben erlassen, sie finden sich auf der Webseite der Landeskirche. Dort wurde auch ein geistliches Netzwerk eingerichtet mit Beiträgen von Pfarrern und Pfarrerinnen, jeden Dienstag und Freitag gibt es eine Andacht und am Sonntag eine Predigt. Wie sie mit den Gottesdiensten umgeht, muss jede Gemeinde selbst entscheiden. Hier kommt es auf die eigene Kreativität an und die gegebenen Möglichkeiten. Viele nutzen jetzt den virtuellen Raum. Hermannstadt hat schon etwas auf Facebook gepostet, Kronstadt auf YouTube. In Bukarest bereiten wir eine Online-Plattform vor, wir müssen ja auch andere Gemeinden einbeziehen, Ploiești, Câmpina oder Konstanza. Auf dieser, hoffe ich, können wir dann eine Andacht oder einen Gottesdienst übertragen, den die Gemeinde zuhause mitverfolgen kann. Aber, wie Sie sehen, sind das alles Initiativen aus Städten. Die kleinen Gemeinden auf dem Dorf können das leider nicht. Also, es bleibt eine Herausforderung.

Wie wird Ihre Kirche das Osterfest begehen?
Das ist im Moment noch nicht abzusehen. Ein Gottesdienst im Freien, wie ursprünglich geplant, ist jetzt nicht mehr möglich. Das am Gründonnerstag so wichtige Abendmahl können wir nicht feiern. Ich hoffe jedoch, dass viele sich online einschalten werden, und zwar auf YouTube: Biserica Evanghelica C.A. București, so dass wir den Gemeindegliedern die Osterbotschaft verkünden und die so beliebten Passionsandachten in der Karwoche als auch einen Auszug der Osternachtfeier anbieten und feiern können.

Wenden sich die Menschen jetzt wieder mehr dem Glauben und der Kirche zu?
Das kann ich noch nicht beurteilen. Allerdings stelle ich fest, dass die Nähe zur Kirche gesucht wird. Die Pandemie ist überraschend in unseren Alltag hineingefallen, sie hat uns praktisch aus der Bahn geworfen. In solchen Extremsituationen stellt man sich Fragen. Man braucht Orientierung, Beistand, Zuversicht – Hoffnung! Man merkt schon, dass die Leute sich jetzt mehr für die religiösen Angebote interessieren, Fragen stellen und nach Deutungen suchen.

Welche Deutungen?
Da gibt es drei Kategorien: Die einen interpretieren das Geschehen als Heimsuchung Gottes. Es passiert ja immer wieder im Laufe der Geschichte, dass Gott uns mit Kriegen oder Epidemien als Folge unseres Verhaltens heimsucht. Die Folge davon ist, dass die Menschen einsichtig werden und wieder zu Gott zurückfinden. Andere sehen das anders: Die Pandemie als Herausforderung, als ein Eingreifen Gottes, die bisherigen sozialen Verhältnisse und die wirtschaftlichen Entwicklungen neu zu ordnen, aber auch für einen weiterer Fortschritt in der medizinischen Entwicklung. Die dritte Kategorie stellt sich apokalyptische Szenarien vor, sie deuten die Pandemie als ein Zeichen des Gerichtes Gottes und des nahenden Weltuntergangs.

Welche Interpretation bevorzugen Sie?
Ich empfinde es als Heimsuchung. Gott hat in seinem souveränen Handeln ein Ausrufezeichen gesetzt! Oder ein Stoppschild, das uns zeigt, dass wir etwas ändern müssen. Es gibt einen schönen Vers im Brief des Apostels Paulus an die Römer: „Die Schöpfung seufzt unter der Last der Menschen.“ Wir Menschen haben jeden Maßstab verloren. Umweltverschmutzung, Zerstörung der Wälder. Immer wieder fällt mir dabei der Vers von Paulus ein. Es ist ein Warnsignal Gottes: Haltet ein!

Im dritten Jahrtausend prägt der Individualismus den Menschen, er definiert sich nur über vier Pronomen: Ich. Mein. Mir. Mich. Doch wenn Empathie und Nächstenliebe verloren gehen, geraten wir aus dem Gleichgewicht. Theologisch gesehen denke ich, was da über uns kommt, soll uns helfen, wieder ins Gleichgewicht mit unseren Mitmenschen und dem Schöpfer zu finden. Im Laufe der Geschichte des Christentums gab es solche Krisen immer wieder. Eine der größten ereignete sich zur Zeit des Kirchenvaters Augustin, als die Barbaren über Rom herfielen. Er schrieb damals, das Christentum sei am Ende. Aber im vierten Jahrhundert haben Mönche aus Britannien Europa wieder christianisiert – mit Bildung und Entwicklung der Landwirtschaft und allem, was dazugehört. Bis jetzt hat jede Krise dazu geführt, dass man gestärkt und neu weitermachen konnte. Eine Krise setzt neue Prioritäten. Nicht umsonst passiert das alles jetzt in der Passionszeit. Für mich ist das ein Zeichen. Das Symbol des Christentums, das Kreuz, ist ein Ausdruck der Liebe Gottes. Wenn wir das Kreuz anschauen, sollten wir nicht vergessen, dass Gott die Menschen liebt und die Welt nicht einfach sich selbst überlässt.

Wie passt zu dieser Interpretation, dass der Mensch, der sein Ich übermäßig kultiviert hat, jetzt durch die Pflicht zur Isolation auf sich selbst zurückgeworfen wird und alleine zurechtkommen muss?
Das ist eine gute Chance, dass sich jeder selbst wieder entdeckt. Die beschleunigte Zeit, in der wir gelebt haben und der Individualismus, der uns so geprägt und von den Mitmenschen entfernt hat, diese Schnelllebigkeit, die dazu geführt hat, dass sich Familien, wenn überhaupt, nur am Abend zusammenfinden, selbst die Wochenenden waren oft verplant - das ist erst mal vorbei. Jeder von uns hat jetzt die Chance, sich neu zu entdecken, und zwar in der elementarsten Gemeinschaft, in die er hineingestellt worden ist: die Familie. Es ist eine Chance, wieder empathisch zu werden. Die Beziehung zum Partner, zu den Kindern, neu zu betrachten und zu konsolidieren. Das sollten wir kreativ nutzen. Was uns abhanden gekommen ist, ist ja auch die Kommunikation. Selbst in Familien oder mit Freunden lief vieles über die Technik, man hat kaum noch richtig miteinander gesprochen, geschweige denn zusammengelebt. Jetzt sehen wir uns wieder in die Augen, reden, gehen phantasievoller miteinander um. Das ist eine Chance für Familien.

Wie gehen Sie persönlich mit der häuslichen Isolation um? Womit verbringen Sie, Ihre Frau und Ihre beiden Kinder jetzt die Zeit?
Wir entdecken Gemeinschaftsspiele neu, es gibt viele interessante Spiele. Wir sehen gemeinsam Filme an, dazu gibt es jetzt viele Möglichkeiten online (z.B. Netflix). Wir lesen Bücher, jeder hat seine Listen. Wir kümmern uns ums Haus, man kann putzen, schlichten und richten. Man hat wieder Freude daran, gemeinsam am Tisch zu sitzen und sich beim Essen auszutauschen. Und zu bestimmten Zeiten müssen meine Kinder an den Computer, zum Online-Unterricht. Es gibt viele kreative  Möglichkeiten.

Kurz zusammengefasst: Welche Chance liegt für uns alle in dieser Krise?
Ich hoffe sehr, dass sich die Menschen auf das Wesentliche besinnen. Aus meiner Sicht gibt es zwei Dinge: Als Theologe und Pfarrer wünsche ich mir, dass sie sich der religiösen Dimension ihres Alltags wieder bewusst werden. Und, dass das Rennen um Geld und die neueste Technologie nicht das Wesentliche ausmacht. Sobald man gezwungen ist, nur zu Hause zu sein, entdeckt man, dass der Mensch mit Wenigem auskommt und dass er sich von Abhängigkeiten, die ihn wie ein Netz festhalten, lösen kann. Ich hoffe, dass wir neue Prioritäten setzen lernen. Auch die Pflege der eigenen Gesundheit gehört dazu. Der moderne Mensch lebt rücksichtslos, auch sich selbst gegenüber. Am vorletzten Wochenende waren die Parks voller Leute, dabei sind wir alle gefährdet. Wir sollten das Leben als Geschenk annehmen, dankbar sein und es verantwortungsbewusst gestalten.

Vielen Dank für das interessante Gespräch!