Heimatfotos

Mein Freund Werner ist wie ich in Reschitza geboren und aufgewachsen und wohnt seit Anfang der 80er Jahre in Baden-Baden. Gestern Abend gegen 23 Uhr postete Werner bei Facebook ein Fotoalbum mit 32 Fotos aus Reschitza. Man klickt auf ein Foto, und dann folgt das nächste Foto, und so spaziert man durch das Reschitza von heute, das Werner nach langer Abwesenheit letzte Woche wieder besuchte und dabei diese Fotos schoss, die man sich jetzt anschauen konnte, was ich auch tat. Und nicht nur ich, sondern auch noch zwei andere schon ewig in Deutschland lebende Reschitzarer, Anny und Robert, klickten sich in derselben Zeit wie ich neugierig durch Werners virtuelles Album, wie ich durch die Kommentare, die wie aus der Pistole geschossen unter den Fotos auftauchten, mitbekam. Anny, Robert und ich waren früher in Reschitza Freunde, und heute lebt Anny in Augsburg und Robert in Reutlingen. Wir saßen also zusammen, wie früher in Reschitza, nur dass wir nicht mehr an einem Tisch saßen, sondern an drei Tischen, Anny in Augsburg, Robert in Reutlingen, ich in Düsseldorf, und Werner verweilte an einem vierten Tisch in Baden-Baden.
Reschitza war einmal eine laute Industriestadt voller Hektik und Dreck, und heute ist dort die Luft rein. Viele sind auf der Suche nach Arbeit in den Westen gezogen, und es herrscht nun absolute Ruhe im Karton.
„Jesus Maria und Josef“, schrieb Robert unter einem Foto, „was ist denn das, Werner? Ist das etwa die Lokomotivfabrik?“
Und Werner, der alte Junge, antwortete sofort: „Das, Robert, war einmal die Lokomotivfabrik. Aber heute, wie man hier sehen kann, ist es ein bildhübscher Trümmerhaufen.“

„Hergott im Himmel, was soll denn dieses Foto darstellen, Werner?!“, kommentierte Anny unter einem anderen Schnappschuss. „Sag jetzt bloß nicht, dass sei der erste Hochofen.“
„Genau, Anny, das ist nicht der erste Hochofen, sondern der zweite. Den ersten haben sie schon längst abgebaut, der zweite aber, wie man hier sehen kann, steht immer noch da, als stolze Rostlaube.“
„Man könnte ihn ruhig wieder zum Rauchen bringen“, schrieb dazu der zukunftsorientierte Robert und auf sein Elefantengedächtnis zurückgreifend fügte er nostalgisch hinzu: „Ich erinnere mich noch, wie schön er früher rauchte.“
„Na ja“, kommentierte Werner, „ich fürchte, es hat sich nun ausgeraucht. Ich fürchte, den könnte noch nicht einmal der gute alte Magier David Copperfield zum Rauchen bringen. Und Harry Potter auch nicht.“
 „Und was in aller Welt ist das hier?!“, wunderte ich mich beim Foto einer Ruine, die wie ein verkommener Maya-Tempel aussah, nur dass sie eingeschlagene Fenster hatte.
„Das ist das ehemalige Vorzeigehotel Semenic“, erklärte Werner.

„Hilfe! Ich glaub’, mich laust der Affe!“, kommentierte daraufhin Anny, die nun offensichtlich unter Schock stand.
Ich wiederum wurde ganz nostalgisch und dachte an die Zeit zurück, als ich noch ein kleines Kind war. Die bis zu den Wolken reichenden Fabrik-Schornsteine mitten in der Stadt waren damals magische Riesen, die zaubern konnten. Im Nu verwandelten sie die weißen Blusen und Hemden der Stadtbewohner in schwarze Blusen und Hemden, und spien Asche und Rauch durch die Nasenlöcher, wie Godzilla oder King Kong. Und später, als ich dann zur Schule ging, wohnten im Hotel Semenic meist Bonzen-Delegationen aus Bukarest. Es gab dort sogar einen Devisenshop für ausländische Gäste. In den 90ern, als ich Reschitza dann nur noch als Ausländer besuchte, habe ich auch drei Tage dort gewohnt, und das war nicht nur Spannung pur, sondern auch ein übersinnliches Erlebnis und mein persönlicher Aufstieg in die fünfte Dimension. Der Fußboden in meinem Zimmer reagierte wie ein Wesen aus Fleisch und Blut und begann zu wackeln, wenn ich ihn betrat, und die Decke wurde fuchsteufelswild, wenn ich mal hustete, und drohte dabei einzustürzen. Um an einem solch raffinierten Nervenkitzel auch nur annähernd heranzukommen, musste man hier im Westen nach New York oder Toronto fliegen und als Spiderman auf einen Wolkenkratzer klettern, ohne Sicherungsseil.

Plötzlich entdeckte ich das Foto eines alten, verlassenen Bauernhauses in Doman, einem Dorf bei Reschitza, wohin Werner offenbar einen kleinen Abstecher gemacht hatte. Im sonnenverbranntem Gras vor dem Haus stolzierten vier schneeweiße Hühner und ein Hahn. Diese postmoderne Romantik! Der beinah vollständige Zerfall, das Efeu und die rankenden Reben an den Mauern, wo der Putz größtenteils abgeblättert war, die vernagelten Fensterläden und das schief hängende Eisentor ließen mich in einen regelrechten Rausch geraten.
„Wow!!“, schrieb ich mit zwei Ausrufezeichen.
„Na ja“, folgte auf den Fuß Annys trockener Kommentar, „das ist kein so schönes Bild. Nur die Erinnerungen an früher lassen alles in einem so schönen Licht erscheinen.“
„Von wegen Erinnerungen“, schrieb ich, „Ich finde dieses Haus auch ohne Erinnerungen klasse. Es strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. An modernen Gebäuden aus Glas und Stahl herrscht hier im Westen längst Inflation.“
Sofort bekam mein Kommentar ein like von Frédéric, dem Sohn meines Freundes Thomas. Frédéric lebt als erfolgreicher Filmemacher in unmittelbarer Nähe zur Einflugschneise des Hamburger Airports und möchte nun dringend für ein paar Jahre in die Wüste Atakama ziehen. Und kurz danach tauchte ein Kommentar von Christian auf, einem in Pirmasens geborenen Facebook-Friend, der immer noch in Pirmasens wohnt: „Wer meint, dass dieser morbide Charme des Verfalls eine rumänische Spezialität sei, der kennt Deutschland nicht“, schrieb er. „Ich empfehle zum Beispiel einen Besuch Pirmasens.“

Bei soviel zur Schau getragenem Lokalstolz konnte ich nicht gleichgültig bleiben. Ich dachte eine Weile nach, dann antwortete ich: „Na ja, Christian, so ist das nun auch wieder nicht. In Deutschland muss man schon ein wenig nach dem Morbiden suchen. Nicht jeder hat das Glück, in Pirmasens zu wohnen, ist dir das eigentlich klar?“
Darauf bekam ich aber keine Antwort, es war inzwischen zehn Minuten nach Mitternacht und Werner, Anni und Robert waren wohl inzwischen zu Bett gegangen. Nur Christian saß womöglich immer noch vor dem Bildschirm und dachte über sein Glück nach.