Hermannstadts Reste vom Fest

Pandemie bietet Chancen für das Arbeiten an sich selbst

Abendrot auf dem Hundsrücken Foto: der Verfasser

Die COVID-19-Krise erschwert den Zugang nach draußen, gibt aber den Blick auf lokale, regionale, nationale und internationale Schwachpunkte frei. Hausgemachte Probleme, die nahezu vollständig unbemerkt in der Enge oder abseits des Alltags verkümmern, treten bei Angebots-Knappheit auf dem Markt von Zeitvertreib auf die leerstehende Bühne vor Augen und Ohren des Beschäftigung suchenden Publikums. Manch ein Zuschauer mag erfassen, warum das Schauspiel stockt. Doch wer gerne genau hinschaut und hinhört, darf nicht vergessen, dass ebenso viele Menschen auf tiefschürfendes Suchen nach Ursachen ungesunder Verhaltensgewohnheiten schlicht und einfach pfeifen. Mitbürger halt, die den Anforderungen mündigen Informiertseins in keinster Weise gerecht werden. Die COVID-19-Krise hebt allen schützenden Deckmantel weg und zeigt klar auf, wie es um die ganzheitliche Qualität der breiten Masse eines jeden Staates steht. Im europäischen und weltweiten Vergleich positiv bestätigter Infektionszahlen schneidet Rumänien erstaunlich gut ab. Aber der Schein trügt. Kerngesund war Rumänien selbst vor der Krise noch nicht und wird es auch in naher Zukunft so rasch nicht werden können.

Hermannstadt/Sibiu gilt nicht ohne Grund als eine der glücklichen Ausnahmestädte Rumäniens. Da die Krise jedoch keine Rücksicht auf Wohlstands-Ballungsräume nimmt, hat auch Südsiebenbürgen 2000 infizierte Patienten zu vermelden. Warum und wie es dazu kommen konnte, beantwortet mitunter der nicht aus dem urbanen Bild wegzudenkende Hermannstädter Zibinsmarkt/Piața Cibin. Gemäß Ausgangssperre waren hier einschließlich Gründonnerstag vor dem orthodoxen Osterfest wenig Menschen unterwegs. Karfreitags darauf jedoch, am 17. April, büßte der Ort alle Verantwortlichkeit auf Konsumseite schlagartig ein. Dass ein Sonderaufgebot von Gendarmen und Polizisten auf umliegenden Verkehrsstraßen und am Markt selbst für Ordnung zu sorgen versuchte, konnte die Infektionsgefahr zu Feiertag nicht entschärfen. Wer noch nicht infiziert war, hatte jetzt auf dem brechend vollen Zibinsmarkt ausgezeichnete Chancen, sich mit dem Virus anzustecken. Ein mitten im Gedränge stehender Gendarm unterhielt sich nett mit einem Passanten. Eng von Gesicht zu Gesicht.

Mittlerweile ist es wieder erlaubt, auch ohne ordnungsgemäß ausgefüllte Erklärung einkaufen zu gehen. Ob in den acht Wochen des Notstandes tatsächlich alle Klienten und Händler auf dem Zibinsmarkt immer eine eidesstattliche Erklärung dabei hatten, dürfte ernsthaft bezweifelt werden. Sicher ist, dass die gefühlte Mehrheit der Kundschaft nicht aus krankhafter Verquickung von Nichtverstehen der Gefahr und Überdruss herausfindet. Eine Sachlage, die sich an zahlreichen sauer dreinblickenden Gesichtern hinter halb oder gar nicht aufgesetzter Atemschutzmaske ablesen lässt.

Auf der Sonnenseite steht temporäre Freude über das Ausbleiben internationaler Touristenströme, die zu normalen Zeiten jeweils von Ostern bis Herbst andauerten und täglich gruppenweise die gesamte Innenstadt abliefen. Oft stand auf ihrer Pflichtliste auch der Zibinsmarkt. Verständlicherweise können Hermannstadts gastronomisch Erwerbstätige der Krise nichts Gutes abgewinnen. Vollumfänglicher Neustart wird sich noch eine Weile hinziehen. Hermannstadts Zentrum aber, das sich an italienische und spanische Vokabeln seiner Besuchermassen gewöhnt hatte, wird die Auszeit von der Belagerung durch närrische Touristenführer genießen können. Wie an jedem anderen überfüllten Reiseziel fühlt es sich auch hier ortsfremd an, auf die Fahrstraße ausweichen zu müssen, sooft Reisegruppen Bürgersteige in voller Breite für sich beanspruchen.
In Hermannstadt bestreiten nicht wenige Touristenführer ihren Job auf Deutsch. Sommers ist es nicht möglich, der Rufweite ihrer Stadtführungen rund um den Großen Ring/Piața Mare zu entgehen. Die Museen und Sehenswürdigkeiten, zu denen Touristenströme hingeleitet werden, sind von beschaulicher Anzahl. Stark verunreinigter Sprachakzent, ungelenker Satzbau und simpelster Wortschatz zeugen davon, dass man Gäste aus Österreich, Deutschland und der Schweiz auch ohne stilsicheres Deutsch durch die Innenstadt begleiten kann. Ausnahmekönner lassen sich noch immer an den Fingern einer Hand abzählen. Nutzen Touristenführer die Zwangspause zur Verbesserung ihrer Sprachfähigkeit? Europas Kulturhauptstadt des Jahres 2007 täte es bestimmt gut.

Worauf Hermannstadt ebenfalls eine geraume Zeitlang verzichten wird: Feuerwerke! Für gleich zwei pyrotechnische Lichtspektakel inklusive nicht zu verhindernden Knallbebens hätten sich Tiere, Menschen und Himmel im Frühsommer rüsten müssen, wäre die 27. Auflage des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt (FITS, 12.-21.Juni) nicht abgesagt worden. Intendant Constantin Chiriac wird es sich heuer nicht herausnehmen können, Auftakt und Schluss des größten städtischen Fests mit sprühenden Funken feiern zu lassen. Auch werden dafür keine ausländischen Gäste nach Hermannstadt reisen. Ersatzweise wird es möglich sein, täglich bis zu 12 Stunden lang Vorstellungen von überall auf der Welt digital zu verfolgen. Tanz, Musik und Theater sind Pflicht, Feuerwerk nicht.

Es mag zwar schön anzusehen sein, ist aber teuer und mehr als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit umweltschädlich. Das bislang letzte Feuerwerk Hermannstadts schoss zu Silvester in den Nachthimmel. Die Sprengladungen waren nordöstlich am Großen Ring gezündet worden. Noch am Nachmittag des 2. Januar 2020 hing der beißende Geruch schwer über dem Platz. Haben Feuerwerke im globalen Kontext von Klimakrise sowie Krieg und Armut der Dritten Welt noch ihre Berechtigung? Selbst kleine Orte wie Hermannstadt sollten nicht mehr vor großen Weltfragen wegschauen dürfen. Einmal mehr deckt die COVID-19-Krise auf, dass sozialverantwortliches Ressourcen-Management höhere Ziele als nur Befriedigung des Wunsches ´Brot und Spiele´ ansteuern müsste.

Ein paar Schritte weiter weg vom Ort des Feuerwerks umrahmen Pflastersteine eine Bronzeplakette: „În amintirea celor căzuți în decembrie 1989 pentru libertate și adevăr“ - ´zur Erinnerung an die im Dezember 1989 für Freiheit und Wahrheit Gefallenen´. Es liest sich so einfach. Eine Jahreszahl und zehn Wörter. Aber wie schwierig, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen! Mitte Januar 2020 war der Schnee auf dem Großen Ring geschmolzen. Alle Buchstaben und Ziffern der Bronzeplakette konnte man da bereits erkennen und lesen. Einzig und allein das letzte Wort der Kette – die ´Wahrheit´ (adevăr) – hatte das Eis ringsum noch nicht freigegeben.

„Wir haben immaterielles Leiden angestaut und wissen nicht, wie es in unseren Stoffwechsel einzuspeisen!“, so Theologe Radu Preda, Direktor des Institutes für die Erforschung der Kommunistischen Verbrechen und die Erinnerung an das Rumänische Exil (Institutul de Investigare a Crimelor Comunismului și a Memoriei Exilului Românesc, IICCMER) von März 2014 bis Mitte Januar 2020, während eines Vortrages am Freitag, dem 20. Dezember 2019, im Blauen Haus des Brukenthalmuseums am Großen Ring. Sieben Monate zuvor war er zum Priester der rumänisch-orthodoxen Diasporagemeinde in München geweiht worden. Folglich war Hermannstadt kurz vor Weihnachten wohl der Ort seines vorerst letzten öffentlichen Auftritts in Rumänien. Premierminister Ludovic Orban unterzeichnete am 14. Januar 2020 den Beschluss auf fristlose Entlassung des wortgewandten und Streit nicht scheuenden Geistlichen: „Unser Selbst-Narrativ ist nicht einwandfrei!“

Hermannstadt wird in seine spezifische Normalität zurückfinden. Die aber könnte auf mehr Fortschrittlichkeit zielen. Bessere Gaststätten, Stadtführungen, Ausstellungen, Buchhandlungen, Bibliotheken, Konzerte, Choreografien, Filmvorstellungen und Theateraufführungen als jemals zuvor. Vielleicht ließe sich die Orthodoxe Pfarrdienststelle endlich überzeugen, der Gebetswoche für die Einheit der Christen ihre Teilnahme nicht mehr zu versagen. Etliche Belange, worin Hermannstadt praxiserfahren ist. Dabei aber weder Integrität, Umwelt noch gemeinsame Wahrheitsfindung missachten. Und mit Feuerwerk sparen.