Hier die Flüchtlinge, dort die Hilfstransporte

Das bizarre Hin und Her am rumänisch-ukrainischen Grenzübergang Siret

Übergabe im „Niemandsland“: Der aus Friedrichshafen stammende Thomas Ströhle (links), der seit Jahren in Temeswar lebt, übernahm kostenfrei den Transport der medizinischen Hilfsgüter vom Bodensee an die rumänisch-ukrainische Grenze bei Siret. Der ukrainische Medienstudent Oleksij Protsepko brachte die Pakete in das Militärkrankenhaus der ukrainischen Stadt Wynnizja.
Fotos: Thomas Wagner

In Sicherheit: Der Flüchtlingsstrom aus der Ukraine reißt am rumänisch-ukrainischen Grenzübergang Siret nicht ab.

Und täglich werden es mehr: Über drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben ihr Land verlassen – seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges. So meldet es jedenfalls das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR dieser Tage. Knapp 150.000 davon sind nach Deutschland gekommen. Tendenz: ebenfalls steigend. Auf der anderen Seite nehmen auch die Hilfskonvois Richtung Ukraine zu. Zu sehen ist das alles dort, wo dieser Tage so manches zusammenläuft: Die Hilfstransporte, die Flüchtlinge. Ein solcher Ort ist der rumänisch-ukrainische Grenzübergang Siret inmitten der Bukowina, nicht allzu weit östlich von einem Denkmal, das mal die Mitte Europas symbolisieren sollte.

Vom Bodensee...

Focus 1: Klinikum Friedrichshafen, vor ein paar Tagen: Mit einem Gabelstapler werden medizinische Hilfsgüter in einen Kleinlaster geladen: „Das sind Atemmasken, Atemtuben, Beatmungsgeräte für die Sicherung des Kreislaufes, Infusionssysteme…“

Ein junger Mann im Arztkittel hilft beim Verladen mit – und auch bei der Organisation: „Ich kann nichts anderes machen. Ich bin ein Teil meiner Bevölkerung.“ Dr. Mykhailo Volianjuk stammt aus der Ukraine, arbeitet seit eineinhalb Jahren am Klinikum Friedrichshafen als Narkosearzt. Das Ziel des medizinischen Hilfstransportes, der da gerade verladen wird: Das Militärkrankenhaus in Wynnizja, etwa 300 Kilometer südlich von Kiew.

Dort arbeitet sein Vater, ebenfalls als Arzt. Wenn es sein muss, auch, wenn scharf geschossen wird. „Jeden Morgen und jeden Abend rufe ich meine Eltern an. Ich möchte einfach hören: ‚Alles in Ordnung: Wir sind am Leben!‘“

... in die Bukowina

Focus 2: Ein paar Tage später am rumänisch-ukrainischen Grenzübergang Siret in der Bukowina, Tausende von Kilometern von Friedrichshafen entfernt: Baseballkappe, Trainingsanzug – Thomas Ströhle sitzt am Steuer eines Kleinlasters, er ist die ganze Nacht durchgefahren – auf der letzten Etappe des Hilfstransportes aus Friedrichshafen an die ukrainische Grenze.
Der Hilfstransport mit den medizinischen Gütern hat sein Ziel erreicht – fast erreicht… „Wir fahren gerade in Siret über die Grenze, in die Ukraine. Ja, klar ist das ein wenig ein merkwürdiges Gefühl. Aber wir fahren jetzt ja nicht direkt in die Ukraine rein, sondern treffen uns im sogenannten ‚no man´s land‘ zwischen den Grenzen.“ Dort, zwischen ukrainischem und rumänischem Zollhäuschen, also im Niemandsland, sollen die Pakete aus dem einen in den anderen Kleinlaster gehievt werden – und das hat seinen Grund: Oleksij Protsepko, in den Zwanzigern, kommt mit Freizeitpullover und Sportschuhen zum Treffpunkt: „Ich darf, und das gilt auch für meinen Fahrer, das Land gar nicht verlassen, wegen unseres Alters. Wir sind im passenden Alter, um so ein Soldat zu sein. Ich bin 28, mein Fahrer ist 35.“

Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine  derzeit nicht verlassen – da gibt es auch bei der Entgegennahme eines Hilfstransportes keine Ausnahme.  Schnell sind die großen und kleinen Pakete in das Auto von Oleksij und seinem Team umgeladen;  das leicht verbeulte Rote Kreuz auf dem weiß lackierten Fahrzeug will diejenigen, die drin sitzen, nicht so recht mit Zuversicht erfüllen: „Um an einem Sperrposten der Ukrainer vorbeizukommen, ist es eine Garantie. Aber gegen das russische Militär ist das gar keine Garantie. Weil: Die schießen auf alles.“ Dabei wird Oleksij ziemlich nachdenklich. Schließlich muss er mit dem Auto und dem verbeulten Roten Kreuz drauf ja wieder zurück in seine Heimatstadt. Und von dort kommen gerade keine guten Nachrichten.
„Heute Nacht war in meiner Stadt ein starker Artilleriebeschuss. Jetzt weiß ich nicht: Gibt es Verletzte? Oder gar Tote? Kann alles sein? Kann es noch schlimmer sein…“

Nach Rumänien...

Focus 3: „I dont’t speak englisch, my name? Julia.  Englisch… Katastrophe….“ Sie hat für sich beschlossen, dass es nicht mehr schlimmer werden soll für sie persönlich: Mit einer Handtasche und ein paar Habseligkeiten ist Julia zu Fuß über die Grenze gekommen. Allerdings: Der Empfang im EU-Land Rumänien fällt zwiespältig aus.

Da sind einerseits die vielen Helferinnen und Helfer von Feuerwehr und zahlreichen Hilfsorganisationen. Sie kümmern sich rührend um die, die ankommen. Doch bevor die, die aus der Ukraine flüchten, mit den Helfern reden können, blicken sie, ob sie wollen oder nicht, in mindestens ein halbes Dutzend Foto- und Fernsehkameras, die sich auf ihre Gesichter richten, um, so scheint es, auch die noch so kleinste Träne abzubilden.

Und dann sind da auch noch diejenigen, die im Clownkostüm mit ein paar lockeren Späßchen den Kindern, die gerade vor Bombenhagel und Kriegsterror flüchten, in Kasperlemanier ein Lächeln abringen wollen – meistens vergebens.

... aus Kiew

Focus 4: Schließlich läuft da im Helferkostüm auch Maria Mosert auf und ab, eine selbstbewusst wirkende Frau Mitte 20. Heute Helferin, vor zehn Tagen noch selbst Geflüchtete. Das ist ihre Geschichte: „Vor zehn Tagen, da sind wir hierher, nach Rumänien gekommen. Also, wir haben in der Nähe von Kiew gewohnt. Und dann haben wir diese zahlreichen Explosionen gehört. Das andauernde Geschützfeuer. Und wir hatten Angst um unser Leben. Und wir haben entschieden: Auf nach Rumänien, schließlich haben wir Freunde hier.“

Dann blickt Maria Mosert nachdenklich durch ihre Brille, schaut fragend nach oben, erzählt die Geschichte, die der Krieg geschrieben hat: „Meine Tante lebt in Russland, mein Cousin auch. Und die glauben doch tatsächlich, dass Russland irgendwie auf dem richtigen Weg ist. Sie sagen: Russland hilft uns. Aber ich weiß nicht… Was ist das für eine Hilfe, wenn sie kommen und uns umbringen? Sie glauben, Putin sei super. Und jeder weiß doch, dass es nicht so ist. Und wir versuchen einfach, über solche Themen nicht zu sprechen. Weil: Wir sind ja trotzdem noch… eine Familie.“

Und hoffentlich irgendwann zum Biertrinken

Focus finale: Drüben, an den beiden Lieferwagen, haben sie’s geschafft: Alle Päckchen sind dort, wo sie hingehören – und Augenblicke später Richtung ukrainisches Krankenhaus unterwegs.

Dort ist man sich jedenfalls einig: „Ich wünsche Dir alles Gute, viel Glück. Und ich hoffe, wir sehen uns in friedlichen Zeiten mal wieder.“
„Genau, beim Essen, beim Biertrinken – und alles wird gut.“

Für die ADZ bearbeitet von Werner Kremm