Hirn on/off

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Was zur Wirklichkeit gehört und was nicht – tja, wer bestimmt das wohl? Die Umwelt, unsere Sinnesorgane oder der Löcherkäse in der Schädelkapsel, der das alles filtert und koordiniert?

Die Suche nach der Antwort beginnen wir am besten bei Katzen: Hält man sie von Geburt an in einem Umfeld mit ausschließlich senkrechten Linien, werden sie später keine Querstreifen wahrnehmen können, denn ihr Gehirn glaubt, dass in der Welt bloß vertikale Linien existieren. Für Ringelsocken, Gefängnispyjamas oder Zäune mit Querlatten sind diese Tiere blind. Die Umwelt bestimmt also frühzeitig mit, was Teil der Realität wird und was nicht. Ähnlich entwickeln sich die Sinne des Menschen – durch Wechselwirkung mit der Außenwelt. Die Fähigkeit zum Tastempfinden bildet sich nur aus, wenn der Fötus mit den Extremitäten gegen die Gebärmutterwand stößt, also auf Berührungsreize hin. Was übrigens gegen das Ausbrüten von Babys in Retorten spricht. Es sei denn man schreibt auf das Gefäß: Bitte alle paar Stunden gut schütteln!

Ist die Entwicklung eines Hirnbereichs einmal verpasst, kann man sie meist nicht mehr aufholen. Manchmal kommt es aber auch im Erwachsenenalter zu spontanen Ausfällen. Am männlichen Homo sapiens lässt sich beobachten, dass der simple Akt einer Eheschließung für schlagartige Degeneration jener Hirnbereiche sorgt, die für die Speicherung der Aufbewahrungsorte von Unterhosen, Socken und Oberhemden zuständig sind. Ein schwerer Überlebensnachteil, der nur durch die ständige Anwesenheit einer treusorgenden Ehefrau kompensiert werden kann. So auffällig radikale neurophysiologische Veränderungen auch sind – der zugrunde liegende Mechanismus ist der Wissenschaft bis heute nicht bekannt. Ob der Ehering auf eine Hautzone drückt, die mit der Leibwäsche-verwaltenden Gehirnregion in direkter reflektorischer Verbindung steht? Oder ist es eine Art Pawlow-Reflex? Statt „Glöckchenklingeln – Speichelfluss“ hat man eine „Ja-Wort – Klamotten weg“-Konditionierung, die, anstelle den Umweg über das Gehirn zu nehmen, direkt über ein Rückenmarksganglion geschaltet ist. Im Gegensatz zur Querstreifenwahrnehmung der Katzen ist das Socken-und-Unterhosen-Finde-Areal im menschlichen Gehirn allerdings durch bestimmte Umstände (z. B. Scheidung) spontan regenerierbar.

Ähnlich erstaunliche Zusammenhänge zwischen plötzlicher Zustandsveränderung des neurovegetativen Systems und Umwelteinfluss betreffen die Höhe der Schwelle für Schmerz- und Ekelempfinden: Fällt ein Dreijähriger auf die Nase und niemand ist dabei, steht er einfach wieder auf. Gerät jedoch die Mutter ins Blickfeld, sackt die Schmerzgrenze des Knirpses in Sekundenbruchteilen in den Abgrund und löst markerschütterndes Gebrüll aus. Ein anderes Beispiel betrifft vorwiegend Frauen: Läuft eine dicke Spinne durchs Zimmer, wird sie nur dann Panikverhalten hervorrufen, wenn ein männliches Exemplar derselben Spezies – es funktioniert z. B. nicht mit dem Hund – anwesend ist.

Spontane neurovegetative Zustandsänderungen werden nicht nur durch dritte Personen, sondern auch durch Geräte ausgelöst (niemals jedoch durch Tiere). Bei Männern bewirkt die Berührung einer Fernbedienung mit den Fingerspitzen einen sprungartigen Übergang von analoger, linearer Informationsverarbeitung zu parallelem digitalem High-Speed Processing: Ist er in der Regel völlig überfordert, auf eine einfach formulierte Frage zu reagieren („Schatz, kannst du mal den Müll raustragen?“), selbst wenn er einer wenig anspruchsvollen Tätigkeit nachgeht (z. B. Bier trinken), gelingt es ihm mit der Fernbedienung in der Hand mühelos, das Fußballspiel, mehrere Polit-Talks und die Talentshow auf verschiedenen Kanälen aufmerksam zu verfolgen.

Die Nähe eines Smartphones hat sogar direkt steuernde Auswirkung auf den Wachzustand. Ist das Smartphone abwesend oder still, befindet sich das Bewusstsein im Energiesparmodus. Selbst wildes Herumfuchteln, Anbrüllen, Kopfnüsse oder Ohrfeigen durch anwesende Artgenossen entlocken dem Betroffenen dann nur einen leeren Blick. Vibriert, zirpt oder brummt hingegen das Gerät, egal vor welcher Geräuschkulisse, wird schlagartig der Wachmodus angeknipst. Der Smartphone-Schalter erlaubt dem Individuum freilich nur, mit ebensolchen ausgestatteten Artgenossen wechselzuwirken. Andere Wesen existieren nicht auf seiner Bewusstseinsebene. Höchstens als flüchtig aufblinkende, unerklärliche Erscheinungen, an die man glauben kann oder nicht. Sie gehören nicht zu seiner Wirklichkeit. Für ihn sind sie – Gespenster.