„Ich bin mit dem Zeichenstift in der Hand auf die Welt gekommen …“

Ein Interview mit dem Künstler Gert Fabritius anlässlich seines 80. Geburtstages (II)

Gert Fabritius: „Transportable Heimat“, Stuhlobjekt 2000, 200 x 78 x 190 cm, hier als Performance im Museum im Kleihues-Bau, Kornwestheim 2007

(Fortsetzung aus unserer gestrigen Ausgabe)

Wie hast Du Dich finanziell arrangiert?
Meine arme Mutter, die aus einem betuchten Haus kam und Klavier spielen konnte, musste in den „neuen Zeiten“ in der Lederfabrik in Mühlbach ihr Dasein fristen. Sie hätte mich nicht unterstützen können. Aber ich habe ein Stipendium bekommen. Und hatte mit einer weiteren Vaterfigur Glück: Als ich aus der Klasse für Malerei in die Grafikklasse wechselte, war László Feszt mein Lehrer. Er sagte zu mir: „Te tudsz rajzolni“ (Du kannst zeichnen) und schickte mich zur „Tribuna“. Mein erster Gedanke war: „Was soll ich als Sachse bei einer rumänischen Zeitung, die jagen mich gewiss davon!“ Aber das haben sie nicht getan: Zweieinhalb Jahre lang bekam ich fast wöchentlich einen Zeichen-Auftrag von der Redaktion. Ich habe also auch in Klausenburg Geld verdient, sodass wir, Eva und ich, im vierten Hochschuljahr heiraten konnten. 

Du bist 1957 mit 17 Jahren nach Klausenburg gekommen. Bis 1959 waren das unter Gheorghe Gheorghiu-Dej die schlimmsten Jahre – mit den spätstalinistischen Schauprozessen wie den Schwarze-Kirche-Prozess und den Schriftstellerprozess. Wie hast Du diese Zeit erlebt?
Es verschwanden laufend Lehrer oder Menschen, mit denen du noch am Vortag zu tun hattest. Zum Beispiel hatten wir an der Kunstschule einen sehr guten Lateinlehrer, der uns viele Geschichten erzählte. Von ihm habe ich zum ersten Mal vom Rosettastein gehört. Dieser Lehrer erschien eines Tages nicht zum Unterricht. Es hieß: „Wir haben vorläufig keinen Lateinlehrer mehr.“

Wie kamst Du nach Bukarest?
Ich war an der Kunstakademie der Jahrgangsbeste und habe bei der „Repartiție“ (Zuteilung) das Unternehmen „Decorativa“ in Bukarest gewählt – das war ein Museumsausstatter, der die Aufgabe hatte, alte Museen neu zu gestalten. Eva wählte als Zweitbeste die UCCom (Uniunea Cooperativelor de Consum) und wurde Textildesignerin in Kronstadt, denn in Bukarest gab es nur den einen Job, den ich bekommen hatte. Bei Ausstellungen hatte ich immer die Schriftgestaltung zu verantworten und sehr schnell haben sich auch hier Nebenjobs ergeben, sodass ich in Kürze so viel Geld verdienen konnte, dass ich Eva mit meiner ältesten Tochter nach Bukarest holen konnte.

Wann habt ihr den Entschluss gefasst, nach Deutschland auszuwandern?
Uns ging es eigentlich gut. In der Zwischenzeit hatte ich auch Kontakte zum „Neuen Weg“ und Kriterion Verlag geknüpft. Das Schillerhaus war gegründet worden; dort bekam ich einen Job als Kurator. Ich habe den Literaturkreis mitgegründet, viele Bücher illustriert. In meinem Atelier trafen sich regelmäßig die Kulturattachés der Bundesrepublik, der DDR, aber auch der Schweiz und Österreichs. Erwin Wickert kam als Botschafter eines Tages auf mich zu und sagte: „Sie müssen Ihr Mutterland kennenlernen!“ Mit seiner Hilfe bekam ich 1972 den Pass und konnte kurz nach der Münchner Olympiade nach Deutschland reisen. Ich habe ganz Deutschland bereist, mich an einigen Ausstellungen beteiligt – ich hatte ja einige meiner Arbeiten im Gepäck –, Interviews gegeben und viele wertvolle Kontakte geknüpft. Nach zwei Monaten ging’s zurück nach Rumänien. Schon an der Grenze erwartete man mich mit dem Satz: „Tu ești ăla, care face nebunie în Germania!“ (Du bist jener, der in Deutschland die Welt auf den Kopf stellt!) – Ab diesem Zeitpunkt ging es bergab. Ich war nie Parteimitglied gewesen. In den Rumänischen Künstlerverband haben sie mich nicht aufgenommen. Bei Ausstellungen wurden sogar Bilder von mir nach der Vernissage entfernt – mit der Begründung, sie seien „nicht kommunistisch“. Bis man mir sogar ein Ausstellungsverbot erteilte. Irgendwann hatte ich es satt. Nachdem wir unsere Papiere zur endgültigen Ausreise eingereicht hatten, habe ich meine Jobs verloren und musste das Atelier sofort aufgeben. 1977 haben wir schließlich Rumänien den Rücken gekehrt. Ich habe heute noch die Worte eines Passbeamten im Ohr: „Țineți gura și pleacă!“ (Halt den Mund und verschwinde!)

Wie war der Start in Deutschland? Du hattest ja bereits einige Kontakte …
Ja, und ich hatte wieder – wie bei allen meinen Neuanfängen – Glück. Wir landeten in Ostfildern. Über einen jungen Grafiker, den ich auf der Grieshaber-Ausstellung 1972 kennengelernt hatte, konnte ich einige Arbeiten von mir ausstellen. Zu dieser Ausstellung kam auch der Direktor des Heinrich-Heine-Gymnasiums. Seine Kunstlehrerin war in Mutterschutz gegangen, und er brauchte einen Kunstlehrer. Er kam auf mich zu und bot mir den Job an. So habe ich angefangen zu unterrichten, und war dann bis zu meiner Rente Lehrer für Kunst und Kunstgeschichte in Teilzeit. Ich bekam die Klassen 10 bis 13 und nach zwei Jahren sogar den Leistungskurs Kunst. Auch er war für mich eine Art Vaterfigur. Als er in Pension ging, sagte er in seiner Rede: „Herr Fabritius war ein Glücksfall für unser Gymnasium.“ Ich hatte mit ihm großes Glück. Aber auch mit Dr. Ernst Schremmer, Leiter der Künstlergilde Esslingen. Er hat mich mit offenen Armen aufgenommen, was der Deutsche Künstlerverbund in Stuttgart nicht getan hat.

So etwas Ähnliches hattest Du ja schon in Bukarest erlebt. Warum hat Dich der hiesige Verband nicht akzeptiert?
Ich bin ein Zeichner durch und durch – und kein abstrakter Künstler. Ich bin mit dem Zeichenstift in der Hand auf die Welt gekommen. Gott sei Dank, habe ich bei der Geburt meine Mutter nicht verletzt. Das Zeichnen ist für mich alles. Aber in unserer Zeit wird die figurative Kunst wenig geschätzt.

Du bist aber auch Holzschneider. Wie kamst Du zum Holzschnitt?
Auf der Hochschule mussten wir verschiedene Techniken erlernen. Mit Lithografien und Radierungen habe ich angefangen. Aber bei diesen Arbeiten konnte ich mich der Kontrolle durch den Professor nicht entziehen, beim Holzschnitt ging das viel leichter. Schon in Klausenburg habe ich HAP Griesbacher, den großen Holzschneider, entdeckt – es war Mitte der 60er Jahre ein Buch in der DDR erschienen, das man auch in Rumänien kaufen konnte. 1975 war Claus Stephanis Buch „Erfragte Wege. Zipser Texte aus der Südbukowina“ mit 17 Holzschnitten von mir im Kriterion Verlag erschienen. Mit diesen Arbeiten war ich 1977 auf der Großen Buchkunstaustellung in Leipzig vertreten. Griesbacher war in der Jury und hat mir eine Arbeit von sich, die bis heute in meinem Arbeitszimmer hängt, geschenkt.

Im Dokumentarfilm von Christel Ungar-Țopescu aus dem Jahr 2018, der Dir und Deiner Arbeit gewidmet ist, wird uns vor Augen geführt, welche Neuerungen Du in den Holzschnitt eingeführt hast.
Ja, ich habe angefangen, mit der Kettensäge zu arbeiten. Ich wollte die freie Linie, die mich immer schon fasziniert hat, in den Holzschnitt einführen, damit dieser die Leichtigkeit einer Zeichnung erhält und das Kantige oder Eckige verliert. Mit anderen Worten: Ich habe die Zeichnung in den Holzschnitt eingeführt. Zudem habe ich den Holzschnitt, der immer hinter Glas steckte, befreit, indem ich ihn auf Leinwand gedruckt habe. Deswegen habe ich mir eine große Druckerpresse nach meinen eigenen Vorstellungen bauen lassen.

Du bist – das veranschaulichen auch die Tagebuch-auf-Zeichnungen der letzten Jahre – kein verspielter Künstler des „l’art pour l’art“, sondern beziehst Stellung. So warst Du auch früher, wenn wir an das Jahr 1983 denken, wo Du nicht ins Lexikon der „Roumanian Artists in the West“ aufgenommen werden wolltest, da deren Herausgeber ein Verband war, der während des Kalten Krieges keine besonders rühmliche Rolle gespielt hat. Ähnlich gelagert ist die Episode 1984, wo Du nach einer Ausstellung in Paris dem Sender Freies Europa ein Interview verweigert hast, weil er Dich als „emigrierter rumänischer Künstler“ vorstellen wollte. Verstehst Du Dich als politischer Künstler?
Ich betrachte mich als politischer Künstler. Immer. Diesbezüglich bin ich ein Marxist. Marx hat gesagt: „Der Künstler ist der Spiegel seiner Zeit.“ Und meine Zeit ist viel zu interessant, viel zu bewegt, als dass ich mich mit bedeutungslosen Abstraktionen beschäftige. Ich habe mich auch immer als deutscher Künstler verstanden – und das habe ich in Klausenburg von den ungarischen Künstlern gelernt, die immer den Mut hatten, zu sagen: „Ich bin ein ungarischer Künstler.“ Mein Lehrer Ion Mitrea hat mir den wichtigen Satz mit auf den Weg gegeben: „Dacă uiți că ești neamț, n-ai să faci artă.“

Du hast aber auch Bücher von Autoren wie Ivo Andric und Romain Rolland illustriert. Die griechische Mythologie hat Dich ebenfalls beeinflusst. In Deinen Tagebuch-auf-Zeichnungen tauchen Zitate von Camus und Sartre auf. Es sind nicht nur die deutschen Klassiker, die Dich geprägt haben.
In Europa haben sich zum Glück Kulturen entwickelt, die sich gegenseitig befruchten konnten und die „in Vielfalt vereint“ blieben. Wenn ich also sage, dass ich ein deutscher Künstler bin, schließe ich das Europäische niemals aus. In einer multiethnischen Landschaft wie Siebenbürgen lernt man so etwas: die fremde Kultur zu respektieren und zu rezipieren, ohne dabei die eigene Identität aufzugeben. 

Wie drückst Du Deine Haltung in Deiner Kunst aus? 
Im Motiv des Stuhls, das in meinen Arbeiten oft vorkommt, schimmert die alte Weisheit durch: Ich bin zwar auf meiner Arche in Bewegung, aber ich habe immer meinen Stuhl dabei. Ich bin eine Person! Auch in der Masse bin ich ein Individuum und habe meinen Stuhl. Der Stuhl verbindet mich auch mit der siebenbürgisch-sächsischen Tradition. Die Siebenbürger Sachsen hatten auch ihre Stühle: Sie waren autonom und keine Leibeigene.

Läutest Du mit Deinem 80. Geburtstag eine ruhigere Phase Deines Lebens ein? 
Ich werde immer zeichnen, ich muss! Das ist meine Ausdrucksweise.