„Ich umarmte die Kunst als Erlösung und Notwendigkeit“

Niki de Saint Phalle – Retrospektive in der Schirn Kunsthalle Frankfurt

„Totenkopf“ Foto: Niki Charitable Art Foundation

„Little Nana“, 1968 Foto: Thomas Gunzenmüller

„L’accouchement rose“, 1964 Foto: Moderna Museet Stockholm

Ausstellungsansicht aus dem Kunsthaus Zürich Fotos: kunsthaus.ch

Filmplakat, 1976 Foto: Kunstmuseum Freiburg

„My love, where shall we make love?“, 1971 Illustrationen, Kunsthaus Zürich

Sie war eine sensible, verletzliche Persönlichkeit, zog sich am liebsten in ihre eigene, innere Welt zurück. Und doch wirkt ihr künstlerisches Werk – ihre „Schießbilder“, ihre Aktionskunst, ihre überlebensgroßen Skulpturen aus hartem Polyester und anderen dauerhaften Materialien, ihre Frauenfiguren in bunten, leuchtenden Farben, „Hon“, die „Ur-Nana“, in die man durch die Vulva eintreten konnte – spektakulär, exorzistisch und – kann man so sagen? -ziemlich marktschreierisch. Die französisch-schweizerische Malerin und Bildhauerin Niki de Saint Phalle, die sich auch mit Literatur, Theater, Film, Architektur und Kunsthandwerk beschäftigte, kannte keine Grenzen, sie provozierte Skandale, schreckte vor sensationsträchtigen Schaueffekten nicht zurück, schuf unbeeindruckt aus alltäglichen Ingredienzen Kunstwerke. „Ich zeige alles“ – sie wollte radikale Selbstdarstellung, schien ihr Innerstes bloßzulegen.

Und doch war das, was sie schuf, von einer inszenierten Unnahbarkeit, nichts ließ sie an sich herankommen, ihre Persönlichkeit schützte sie vor zudringlichen Blicken. Ja, ihre Kunst sollte wahrgenommen, respektiert, gefürchtet und geliebt werden, ihre Formensprache sollte sich dem Publikum als originär einprägen, aber ihr innerstes Wesen hielt sie im Verborgenen. Ihr großes Verdienst: Sie bezog das Publikum in einer bisher noch nicht gekannten Weise in ihr Werk ein, riskierte einen unerhörten Tabubruch, wenn sie den Besucher durch das Genital einer liegenden schwangeren Frau in das Innere des Körpers schickte, um ihn dort durch weitere Kunstüberraschungen noch einmal provozieren zu lassen. Hat das etwas mit Pornographie zu tun? Nein, es ging ihr um eine Entsexualisierung des nackten Körpers, das war ihre Strategie einer künstlerischen Selbstermächtigung. War sie eine Feministin? „Alle Macht den Nanas“, war ihre ironisch-ernsthafte Losung. Ihre unzähligen Nanas, dralle, bunte Frauengestalten, erst aus Wolle, Garn, Pappmaché und Drahtgerüsten, später aus Polyester, dann aber auch unendlich vervielfältigt, auch aufblasbar, wollte sie als Symbol einer fröhlichen, befreiten Frau und Vorbotin eines neuen matriarchalischen Zeitalters verstanden wissen. Sie brachte nicht nur Kunst und Alltag wieder näher zusammen, sondern fügte auch das spielerische Element wieder in die Kunst ein.

Vor 20 Jahren ist Niki de Saint Phalle im Alter von 71 Jahren verstorben. Das Kunsthaus Zürich und die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main gedachten bzw. gedenken ihrer in diesem Jahr in einer großen Retrospektive, die das transportable künstlerische Werk umfasst, aber auf ihre Großprojekte, ihre monumentalen Skulpturen, ihre Figuren-Ensembles, Brun-nengestaltungen und Skulpturen-Parks verzichten muss. Diese können nur in Entwürfen und Vorformen, in visueller Abbildung gezeigt werden.

1951 war die künstlerische Autodidaktin Niki de Saint Phalle aus New York nach Paris zurückgekehrt und hatte begonnen, leuchtend farbige Gemälde in einem naiven Stil zu malen. Ihre traumatischen Erfahrungen und psychischen Krisen vermochte sie durch ihre künstlerische Arbeit zu überwinden. Anfang der 1960er Jahre schloss sie sich dem Kreis der Nouveaux Réalistes an (Yves Klein, Daniel Spoerri, Christo, Mimmo Rotello, Jean Tinguely), die sich wieder an der  tatsächlichen Realität orientierten und die Formen und Objekte dieser Alltagswelt einbezogen. Die Nähe zu Tinguely – 1971 heirateten die beiden – veränderte ihr Schaffen grundlegend.  Tinguely hatte das Moment der Bewegung in seine plastische Arbeit miteinbezogen, und mit ihr Geräusche und Lärm, den Betrachter als Beteiligten sowie die Selbstzerstörung ingeniös auf diesen Zweck hin konstruierter Maschinen.

1961 hatte auch sie ihre ersten „Schieß-Bilder“ produziert: Das waren Relief-Assemblagen aus gefundenen Materialien, die ihre Farbgebung erhielten, indem auf ihrer Oberfläche angebrachte Farbbeutel mit einem Gewehr beschossen wurden. Effektvoll inszenierte sie ein Happening, das einen Ereignisablauf in Zeit und Raum verselbstständigt, indem die Künstlerin andere den Entstehungsprozess ihrer Bilder miterleben ließ. Freunde und auch das Publikum wurden eingeladen, auf ihre Assemblagen zu schießen, sie schoss selbst - die Farbe sollte wie eine offene Wunde auf die Oberfläche des Bildes rinnen. Das konnte als Auseinandersetzung mit der männerdominierten Gesellschaft verstanden werden, aber auch als bewusster Ausdruck eigener Gewaltausübung, als Freisetzung eigener Aggressionen. Sie wollte nicht nur ihrer problematischen Beziehung zu ihrem dominanten Vater Ausdruck geben. Ihr Werk nahm auch politische Dimensionen an, indem sie gegen den Algerienkrieg Anfang der 1960er Jahre protestierte oder sich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzte. Aus Kleidungsstücken entstanden zusammengesetzte Assemblagen menschlicher Figuren mit Zielscheiben als Köpfe. Eine Reihe von Skulpturen  – wie die Gebärende, verschlingende Mütter, Hexen, Huren und Bräute  –  setzten sich mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft auseinander. Und das wurde dann zu ihrem zentralen Thema.

Nachdem sie so bereits provozierende weibliche Figuren aus Abfallmaterialien geschaffen hatte, entstanden 1964 die ersten ihrer „Nana“-Figuren, für die sie Drahtgeflecht mit Pappmaché oder Gips verkleidete und die sie anschließend bunt bemalte. Die spektakulärste und öffentlichkeitswirksamste dieser Figuren war jene Gemeinschaftsarbeit mit Tinguely und Per Olof Ultvedt, „Hon: Sie, eine Kathedrale“, eine 29 Meter lange, liegende „Nana“, die sie 1966 im Moderna Museet Stockholm ausstellte. Die Besucher konnten die Figur durch einen Eingang zwischen den Beinen betreten, darin herumlaufen und Maschinen, Filmvorführungen und andere Installationen betrachten. Nach dieser Ausstellung wurde die Figur demontiert.

Niki de Saint Phalle träumte von einer geheimnisvollen Märchenwelt, von riesigen bunten Nanas, die in Parks und in der Landschaft stehen und die Macht über die Welt übernehmen sollten. Ihre Nanas wurden bald darauf auch auf Plakaten, Schmuckstücken, Parfümflakons als Symbol für das weibliche Selbstbewusstsein angesehen. Seither formte sie leuchtend bunt bemalte Plastiken, von denen einige menschliche Figuren, andere amorphe organische Formen darstellen. Bei vielen handelt es sich um große Skulpturen für den Außenraum oder architektonische Projekte, darunter der „Strawinsky-Brunnen“, den sie 1982-83 zusammen mit Tinguely für den Vorplatz des Centre Georges Pompidou in Paris konzipierte. Ihre surrealen, phantastischen Skulpturen korrespondieren hier wunderbar mit den kinetischen Objekten Tinguelys.

Niki de Saint Phalles Frauengestalten sind dick und ungelenk, sie haben kleine Köpfe und machen ungeschickte Tanzbewegungen. Sie sind alles andere als erotisch anziehende Wesen. Doch in ihrer Einzigartigkeit und Schwerelosigkeit wirken sie höchst befreiend. Die Künstlerin zeigt die Frauenkörper voneinander isoliert oder in Gruppen, aber nie in Interaktion mit Männern. Dann aber arbeitete sie an Figurengruppen wie „Tee-Party bei Angelina“ (1971): Gestikulierend sitzen zwei voluminöse Frauengestalten am Caféhaus-Tisch. Was reden sie? Was erwarten sie? Auf ihren Tellern befinden sich – man übersieht es fast – ein kaputtes Spielzeug-Krokodil und eine verbogene Gliederpuppe. Sind das Symbole einer verstümmelten Männerwelt? Auch diese unförmigen, lustlos wirkenden Frauen-Monster laden nicht gerade dazu ein, mit ihnen Bekanntschaft zu schließen.

Ihr größtes Projekt war der Tarotgarten, ein Skulpturenpark in Garavicchio in der Toskana, 1972 begonnen; zwei Jahrzehnte hat sie, inspiriert vom Park Güell in Barcelona von Antoni Gaudi, mit einem Team von Mitarbeitern daran gearbeitet. Die aufwendigen Großprojekte hat sie ab den 1980er Jahren fast immer selbst finanziert – durch kommerzielle Grafikeditionen, aufblasbare Nanas und auch durch eine Parfümkreation. Ihre 22 überdimensionalen Figurationen, Konstruktionen aus Metall, Beton und Kunststoff, mit farbigen Keramiken  und Spiegeln bedeckt und bemalt – teilweise sind sie begehbar und bewohnbar - verkörpern das Tarot-Spiel, sie stehen in symbolischen Bezügen zu Mythologie, Religion und fremden Kulturen: so der Magier, die Hohepriesterin, das Rad des Schicksals, die Herrscherin, der Wagen, die Mäßigkeit, der Herrscher, der Turm (von Babel), die Liebenden, die Gerechtigkeit, der Hohepriester, die Sonne, der Tod, der Teufel, die Welt. Hinzu kommen die Skinnys, skelettartige Tarot-Plastiken wie der Narr oder der Mond, linienförmige Gebilde, man kann durch sie hindurch auf die umliegende Natur sehen. Die körperhaften Skulpturen bespiegeln sich selbst und ihr Ambiente, die in ihnen neben Glas und Keramik eingefügten Spiegelelemente lösen deren Form auf, und zusätzlich zu diesem visuellen Effekt werden auch Geräusche und Düfte erzeugt. Wasserplätschern, Vogelgezwitscher, Blätterrauschen, aber auch Blumendüfte machen den Tarotgarten dann auch zu einem synoptischen Erlebnis. De Saint Phalle hat ihn als „Ort zum Träumen“, „Garten der Freude und Phantasie“, „Begegnung zwischen Mensch und Natur“ bezeichnet.

Die letzte große Werkserie widmete sie ihrem 1991 verstorbenen Ehemann Jean Tinguely. Die „Explodierenden Bilder“ sind reliefartige Tafeln, deren Motive mithilfe elektronischer Einsätze in Bewegung gesetzt werden; diese Motive zerfallen in einzelne Teile und setzen sich dann wieder zusammen. Leben und Tod im Wechselspiel.

Diese Ausstellung garantiert ein unterhaltsames und zugleich nachdenkliches Betrachten ihrer Arbeiten, dies aber auch beim Lesen des Kataloges, in dem Wissenschaftler, Künstler, Filmemacher, Schriftsteller, vor allem Weggefährten von dieser weltbekannten Künstlerin berichten.

Der Besucher der Ausstellung, die bis zum 13. Januar im Kunsthaus Zürich zu sehen war und seit dem 3. Februar in der Schirn Kunsthalle Frankfurt gezeigt wird, nahm in der Haupthalle des Hauptbahnhofs Zürich mit einer riesigen tanzenden Nana, die, 1997 geschaffen, als Schutzengel über die Reisenden wacht, wehmütig Abschied von Niki des Saint Phalle.