„Ich verteidige meine Figuren“

ADZ-Gespräch mit Tatiana Sessler-Toami, Schauspielerin am Deutschen Staatstheater Temeswar (DSTT)

„Hänsel und Gretel“ war eines ihrer Lieblingsmärchen als Kind, heute spielt Tatiana Sessler-Toami die (modebesessene) Hexe in dem Märchenstück in der Regie von Simona Vintilă. Foto: DSTT

Tatiana Sessler-Toami ist seit vor der Wende festes Bestandteil des DSTT-Ensembles. Foto: Ovidiu Zimcea/DSTT

Ihre erste wichtige Rolle war Betia in „Ruzante“, als Spielleiter Diogene Bihoi zwei Schauspielerinnen brauchte, um die Gestalt darzustellen. Damals, 1990, trat Tatiana Sessler-Toami in Doppelbesetzung mit Ildiko Jarcsek-Zamfirescu auf, die später auch ihre Lehrerin an der Temeswarer Theaterhochschule werden sollte. Im Laufe der Zeit schlüpfte Tatiana Sessler-Toami in viele Rollen, und interpretierte unter anderem Eva Braun im gleichnamigen Stück von Ida Jarcsek-Gaza (1997) oder Petra von Kant in „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (Regie: Martin Baucks, 2001). In den vergangenen Jahren konnte man sie in der Farce „Der nackte Wahnsinn“ (Regie: Michael Frayn) und in verschiedenen Musicals oder Kinderstücken bewundern, nicht selten als negative Gestalt. Die Schauspielerin, die im und mit dem DSTT groß geworden ist, wurde für ihr Wirken 2010 mit dem „Pro Cultura“-Preis der Stadt Temeswar/Timișoara ausgezeichnet. Wie sie die magischen Welten des Theaters entdeckt hat und was ihr ihre Rollen bedeuten, erfahren Sie aus folgendem Gespräch, das Raluca Nelepcu mit Tatiana Sessler-Toami führte.

Seit 1988 bist Du Schauspielerin des Deutschen Staatstheaters Temeswar. Wann und wie hast Du das Theater entdeckt?
Ich würde sagen, als Kind. Nicht weil ich das unbedingt wollte. Meine Mutter, die Schauspielerin Hella Sessler-Pălie, war Gründungsmitglied des Deutschen Staatstheaters Temeswar. Ich wurde einfach ins Theater mitgenommen. Mein Vater, der als Lokführer bei der Eisenbahngesellschaft CFR arbeitete, war oft verreist, meine Oma war auch nicht immer zu Hause, und somit wurde ich oft mitgenommen, so wie die meisten Theaterkinder damals und anscheinend auch heute. Dort habe ich dann mehrere Welten entdeckt – ich war dreieinhalb-vier Jahre alt.
Die erste magische Welt war die Welt der Kostüme, die langen Kleider aus Samt und Purpur und Glitzer und andere großartige Sachen. Ich bin in die Garderobe gegangen und die Garderobieren waren sehr nett zu mir und gaben mir verschiedene Hüte zum Anprobieren. Natürlich bin ich dann nach Hause gegangen und habe alle meine Nachthemden und die langen Kleider meiner Mutter aus dem Schrank geholt, wo ich fast drübergeflogen bin, und die Stöckelschuhe, die überhaupt nicht zu mir gepasst haben.

Die zweite Magie war die Requisite – eine Art „Neverland“ für mich. Die Magie der Magie, würde ich sagen. Die verschiedenen Puppen, Mannequins, Laternen, Märchensachen, die dort waren, und nicht nur!
Die dritte magische Welt, das war die Schminke. Dort war Herr Wasch zuständig, der damals die Schminke selbst präpariert hat. Jeder Schauspieler hatte sein eigenes Schminkkästchen. Manchmal habe ich diese Schminke von meiner Mutti genommen und wir haben Indianer im Hof gespielt. Das waren meine ersten Begegnungen mit dem Theater.
Dann gab es die magische Welt hinter der Bühne und im Saal. Ich durfte im Saal sitzen, natürlich war ich sehr brav, und ich habe alles wie ein Schwamm aufgesogen, meistens bei Märchenstücken. Ich kannte jeden Schritt, und es war doch immer wieder neu. Ich habe mich als Kind im Theater nie gelangweilt. Ich kann mich an das Stück „Das kalte Herz“ erinnern, wo viele Herzen auf der Bühne standen. Ich fragte mich damals: Wie kommt das überhaupt nur zustande, dass diese Herzen dort so leuchten? Dann bin ich nach der Vorstellung hinter die Bühne gegangen und dort war nichts. Die haben es mir auch nicht gezeigt, sie haben gesagt, es sei etwas Magisches. Die Schauspieler waren alle sehr nett – die alte Garde des Theaters.
Manchmal bin ich bei den Ausfahrten auf die Dörfer mitgegangen – dort wurden schwäbische, bunte Abende organisiert und die Säle waren voll. Die Leute konnten es kaum erwarten, dass das Theater kommt. So habe ich diese Welt irgendwie entdeckt.

Wann hast Du Dich dann entschlossen, dass Du Schauspielerin werden willst?
Zum allerersten Mal bin ich in einem Stück aufgetreten, wo man ein Kind gebraucht hat – meine Mutter ist mit mir über die Bühne gerannt, ich war viereinhalb. Dann war es das Stück „Meister Jakob und seine Kinder“, wo ich eine Zeit den kleinen Schwab gespielt habe. In der Schule hat mich meine Lehrerin, Anni Billinger, eine sehr liebe Dame aus Billed, gefördert, mir immer Gedichte und Hauptrollen in Kinderstücken gegeben, und es hat sich dann langsam so entwickelt.

Gibt es eine Rolle, die Dir besonders am Herzen liegt, und wenn ja, welche ist diese Rolle?
Ich muss sagen, ohne pathetisch klingen zu wollen: Alle Rollen lagen mir am Herzen. Auch weil ich gute Spielleiter hatte, und ich bin eine Schauspielerin, die einen Spielleiter braucht. Die Charaktere, die ich darzustellen hatte, waren alle sehr interessant, sehr komplex, mit vielen Facetten und das mag ich. Ich mag Figuren, die einen als Schauspieler fördern, die einen zum Nachdenken bringen, die einen Druck auf sich selbst ausüben. Ich hatte auch ziemlich viele negative Rollen. Als Schauspielerin verteidige ich aber meine Figuren, so wie ein Rechtsanwalt, der einen furchtbaren Mörder verteidigen muss – all diese Charaktere, die so komplex und manchmal auch so pervers in ihrem Denken sind. Es ist die Kunst des Schauspielers, nicht nur die Illusion darzustellen, denn Theater ist die perfekte Illusion, sondern auch den Charakter überzeugend darzustellen, aber ihn nicht zu beeinflussen – der Zuschauer soll schließlich selbst entscheiden, was und wie diese Figur ist.

Wie leicht fällt es Dir, diese negativen Rollen zu spielen? Ich denke da an die Hexe in „Hänsel und Gretel“, zum Beispiel, über deren Schicksal das aus Kindern bestehende Publikum am Ende des Stücks entscheiden darf.
Ich liebe es, für Kinder zu spielen! Interessanterweise gibt es diesen Spruch: „Pass auf, was du dir wünscht, denn es könnte dir passieren!“ So waren zum Beispiel „Die Bremer Stadtmusikanten“ und „Hänsel und Gretel“ meine Lieblingsmärchen als Kind und komischerweise war ich später die Katze in den „Bremer Stadtmusikanten“, und jetzt die Hexe in „Hänsel und Gretel“, wie sie die Spielleiterin Simona Vintilă dargestellt hat. Das ist nicht diese alte Hexe, die alle erschreckt, sondern eine Hexe des 21. Jahrhunderts, eine modebesessene Hexe, die eigentlich ihre Schlechtigkeiten mehr aus Langeweile tut.
Für mich ist es die größte Genugtuung, wenn ich in diesem Katzenkäfig hocke und der halbe Saal sagt, verbrennen wir die Hexe, und die anderen einer anderen Meinung sind. In Lugosch war es die größte Genugtuung – ein ganzer Saal, hundert Kinder, wollten mich einfach lynchen! Meine Kollegen und die Lehrerin haben sie kaum aufgehalten. Übrigens finde ich es auch toll, wenn die Lehrer die Kinder agieren lassen, und nicht ständig „pssst!“ und „sch!“ zu ihnen sagen. Lasst sie doch, sie stören nicht! So bekommen wir ein Feedback und das ist wunderbar.

Was empfindest Du als das Schwierigste an Deinem Beruf?
Jeder Beruf hat seine eigenen Schwierigkeiten, seine eigene Komplexität. Aufregend ist die Magie: Dass man in viele Figuren, Personen, ob fiktiv oder reell, schlüpfen kann und den Zuschauer zum Lachen oder Weinen bringen oder sogar nerven kann. Der wahnsinnige Druck, der manchmal auf uns lastet, ist auch nicht leicht. Wir sind z. B. ein Team, das ziemlich große Anforderungen hat. Man muss also sehr gut vorbereitet sein.
Wenn wir spielen, dann ist es oft eine Achterbahn der Gefühle, ein Auf und Ab, ein Kalt- und Heißduschen – natürlich trainiert in der Hochschule, aber das hat manchmal auch seine Grenzen. In drei Sekunden musst du weinen, in sechs Sekunden musst du wieder lachen, so geht das manchmal.
Und: Man hat manchmal kein persönliches Leben. Wenn viele Proben oder Stücke anstehen, dann kann man seinen Tag oder seine Woche nicht so richtig planen. Du hast fast keine Zeit für bürgerliche Kontakte oder Beziehungen, fürs Familienleben. Die Familie muss das auch verstehen, dass man den ganzen Tag im Theater verbringt und dass man nach Hause kommt und nicht immer abschalten kann.
Man muss spielen, egal was passiert. Ich hatte eine solche Situation im Leben, wo mein Vater gestorben ist und einen Tag später hatte ich zwei sehr schwere Stücke – „Der Zauberer von Oz“ und „Eva Braun“. Ich wollte die Sachen nicht absagen, mein Vater hätte das auch nicht so gewollt. Ida Jarcsek-Gaza war bei „Eva Braun“ die Spielleiterin, sie war mein Mentor, sie war bei jeder Vorstellung dabei, und das gab mir einen Halt, eine Sicherheit. Es war der 2. Dezember 2009 und man sagte mir, es sei einer meiner besten Auftritte gewesen – ich bekam Standing Ovation.

In dem Stück „Tagebuch Rumänien. Temeswar“ von Carmen Lidia Vidu erzählst Du von Deiner Kindheit und Jugend in Temeswar. Was bedeutet Dir die Stadt – und wieso hast Du sie nicht verlassen, wie es so viele Deutsche kurz vor und nach der Wende getan haben?
Ohne pathetisch zu sein: Ich würde sagen, es ist Schicksal. Ich bin in Temeswar geboren, ich mag die Stadt sehr. Es war immer eine aufgeschlossene Stadt, die sich sehr viel entwickelt hat. Es tut mir überhaupt nicht leid, hier geblieben zu sein. Ich hatte die Gelegenheit, in Deutschland zu bleiben, als ich mit einem Stipendium in Leipzig war, aber ich habe es einfach nicht gemacht.

Kulturschaffende und insbesondere Schauspieler, die ständig im Rampenlicht stehen, hatten es während des Notstandes, in dem wir gezwungen wurden, womöglich zu Hause zu bleiben, besonders schwer. Wie waren die verstrichenen zwei Monate für Dich?
Ich hatte am Anfang den Eindruck, ich wäre in einem schlechten amerikanischen Science-Fiction-Film. Es war nicht zu fassen. Und der Spielleiter, dieser Coronavirus, ist nicht schlecht, sondern furchtbar! Ich habe mich aber zu Hause nicht gelangweilt, ich hatte viel zu tun, die Zeit ist sehr schnell vergangen, denn ich finde mir immer Aktivitäten. Wir hatten doch ein bisschen Freiheit im Vergleich zu anderen Staaten, man konnte ja ein bisschen rausgehen. Dass wir nicht gespielt haben… na ja, es war in der ganzen Welt so, das musste wahrscheinlich so sein, für den eigenen Schutz und für den Schutz der Leute. Es ist überhaupt nicht erwünscht, aber wir haben uns mit der Situation abgefunden. Ich will nur hoffen, dass wir alle ein Team sind und Ausdauer und Geduld aufbringen, damit wir dann auf unseren Weg zurückkommen können. Brecht schrieb: „Das Gedächtnis der Menschen für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellung für kommende Leiden ist fast noch geringer.“ Man soll nicht vergessen, was passiert, und Vorsicht, Ausdauer und Geduld aufbringen. Man soll sich selbst und die anderen schützen und das dauert wahrscheinlich noch eine Zeit. Wir sind bereit, aber wir warten auf den richtigen Zeitpunkt, um unseren Beruf wieder einwandfrei und sorgenlos ausüben zu können.

Vielen Dank für das Gespräch!