Im Einmachglas

Zu Balthasar Waitz’ Erzählband „Krähensommer“

Eine junge Frau setzt sich mit ihren unpraktischen Röcken in den Nachtzug, der reihum die Dörfer nach Arbeitern abklappert. Der Schaffner träumt davon, im Schnellzug zu zwicken. Ein Pfarrer (ver)zweifelt an seinen Gläubigen. Sie sterben ihm eh weg. Ein Kind erlebt den Tod seiner Mutter, in einem langsamen Sommer, in dem die Krähen von den staubigen Feldern des Staates flüchten, um den Mais in den Hausgärten zu zerpicken.

Es sind „Geschichten aus dem Hinterland“, die Balthasar Waitz in seinem 2011 im Temeswarer Cosmopolitan Art Verlag erschienen Buch „Krähensommer“ erzählt; so verrät es der Untertitel. „Hinterland“, das ist ein vieldeutiger Begriff. Gemeint sind Gebiete abseits, in der Terminologie des Kriegs hinter der Front, im kolonialen Kontext hinter einem schon „zivilisierten“ Küstenstreifen gelegen oder einer Stadt vorgelagert (man sieht, wessen Perspektive den Begriff geprägt hat). Man kann dafür auch das Wort Peripherie verwenden, als solche steht das Hinterland hoch im literaturwissenschaftlichen und feuilletonistischen Kurs. Aber Hinterland kann man auch als etwas hinter dem Land verstehen, und diese Bedeutung passt hier besser. Eine Peripherie der Peripherie sozusagen, oder überhaupt etwas, das ganz aus der Welt ist. Darum geht es in Waitz’ Geschichten: „Vater schafft das Zeug, allerhand Flaschen, aus der Welt, wie man bei uns die Stadt nennt, herbei.“ Und wenn in den Banater Dörfern von der Stadt die Rede ist, in die irgendjemand fährt, dann ist Busiasch gemeint, vielleicht sogar Reschitza, nicht Temeswar.

 

Hinterland, passt für den Raum, in dem Waitz seine Geschichten verortet, aber auch besser, weil es so ein deutsches Wort ist. So eines nämlich, das auch in andere Sprachen Eingang gefunden hat, weil es eben treffend beschreibt, was gemeint ist. Einen Mikrokosmos, vielleicht sogar ganz nah am Geschehen und trotzdem kaum messbar entfernt. Der vom Zentrum aus überhaupt nur mit einem gewissen Exotismus im Blick betrachtet werden kann. Dem entkommt nicht einmal der verordnet zur Schau gestellte Patriotismus der Staatsfarm: „Die Bändchen mit der Trikolore, die man den Kühen um die Hörner gebunden hatte, zitterten lustig. –Ce romantic, Aristide, sagte der mit der dunklen Hornbrille, wie romantisch!“ Und das Wort passt auch so gut, weil es eben so deutsch ist, und die Bewohner der Banater Dörfer, die Waitz beschreibt, Deutsche sind (oder wenigstens sein wollen) und nichts anderes. Vielleicht gewesene Bauern oder auch nur Knechte. Aber das zählt ja nichts mehr, in der Zeit, um die es geht, und hat doch auch schon vorher nichts mehr gezählt, in der Zeit der „Volksgemeinschaft“. Außer in den Köpfen natürlich, da mögen noch solche Finessen bestehen, aber die rechtfertigen nur umso mehr den Hass auf die Kommunisten. Und überhaupt haben es die Leute nicht so mit dem Kopf. „Unser Bahnhof ist weit draußen, im freien Feld hin gebaut. Wenn unsere Leute zum Bahnhof gehen, seufzen sie viel. Man muss auch immer ein tüchtiges Stück in die Fremde gehen.“ Im Banater Hinterland, wo man glaubt manchmal bis nach Wien sehen zu können, so weit ist der Himmel, bleibt der Horizont beschränkt.

Unmittelbare Eindrücke und Reflexion vermischen sich in Balthasar Waitz’ Erzählweise; an ihren besten Stellen in einem Wort. Wenn etwa das Kind Georg im titelgebenden „Krähensommer“ vom Turnlehrer Augustin erzählt, der keine „schwere Hand“ gehabt habe. „Dieser Oberidiot liebte es jedoch, den Kindern zum Spaß die Ohren zu verdrehen.“ „Oberidiot“ – gehobenem Stil entspricht das wohl nicht, aber um als Provokation durchzugehen, ist es wiederum zu harmlos. Und doch, was könnte treffender sein? In diesem einen Wort verknüpft sich die aufgestaute Wut des Kindes, das noch keine böseren Schimpfwörter kennt oder sich nur noch nicht getraut, sie gegen eine Person, die noch immer Respektsperson ist, zu verwenden, und die spontane des erwachsenen Erzählers, der eigentlich gerade über die Theateraufführungen im Kulturheim spricht, bei denen der Lehrer immer die Rolle des bösen Großbauern bekam. „Wir Kinder wussten warum.“


Überhaupt die Theateraufführungen im Kulturheim. „Dort, auf der Bühne, mussten unsere Leute jetzt auch die Genossen spielen. Obwohl sie alle als schwäbische Bauern verkleidet waren.“ In diesem kleinen Bonmot offenbart sich die ganze Farce, die Waitz beschreibt. Man gelangt wieder zum Begriff der Peripherie und den Theorien, die ihn gern verwenden. Der indisch-britische Kulturwissenschaftler Homi K.  Bhabha hat dort die „Mimikry“ als Strategie ausgemacht, durch das Imitieren der Herrschaftspraktiken diese zu untergraben. An der Peripherie der Peripherie, als die Waitz das Banater Hinterland beschreibt, wird eine doppelte Mimikry angewandt: Der Bauer wird Genosse wird Bauer. Alles bleibt beim Alten und bricht dabei zusammen. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass die kurzen Erzählungen, die in der jüngeren Zeit – „nach der Wende“ – spielen, weniger überzeugend ausfallen.

Die „Geschichten“ sind oft nur kurze Szenen, Momentaufnahmen. Und auch die längeren Erzählungen, wie der titelgebende „Krähensommer“, sind wenig spektakulär – wie auch im Hinterland? Die Gedanken, Gefühle, Wünsche der Figuren stehen im Vordergrund. Oder eigentlich nicht, denn auch sie blitzen nur augenblicksweise hervor in den Beschreibungen des Hinterlands. Das Hinterland und was es aus einem macht, wird als Hinterland und durch die Brille, die einem das Hinterland aufsetzt, gezeigt. Anderes gesagt: Waitz dechiffriert es in Gleichnissen, die jener Welt entstammen. „Meine selige Mutter liegt auf der Großmutter mit der schmalen Brust drauf. Und auf dem Großvater, den schon alle vergessen haben. Unser Grab ist ein Familiengrab. Ich stell mir das Ganze wie ein riesengroßes Einmachglas vor.“ Waitz findet mehrmals solche treffenden Bilder, das vom Einmachglas ist wahrscheinlich das beste. Wunderbar passt es in diese Landschaft und in den Alltag der Menschen.

Aus dem Hinterland geerntet, säuberlich eingeschlichtet und sauer haltbar gemacht, sind die Gurken in Sicherheit und die Toten (nur die?) auch: Da kommt kein Verderbnis von außen mehr rein, aber der eigene Saft, der gärt halt noch vor sich hin. Waitz urteilt nicht über seine Figuren, manch einem gelingt der Blick über den Einmachglasrand, wenigstens für einen Augenblick; wenn auch unbewusst. Das heißt nicht, dass man ihm entkommt. „Ich hab das lange geheim gehalten. Nur eins möchte ich sagen: Ich bin nicht Georg“, sagt der kleine Georg. Er hat seinen Namen vom totgeglaubten Onkel geerbt. „Der Name darf nicht verlorengehen. Es ist ein deutscher Name.“ Als der Onkel dann wieder auftaucht, wird dessen Sterbejahr am Familiengrabstein flugs zum Geburtsjahr des Kindes umgemeißelt.


Häufig schließen die Geschichten mit einem apodiktischen Resümee: „Das waren alles Männerangelegenheiten. Sowieso.“ „Wie schon gesagt, ich weiß Bescheid über Leichen.“ Gut, hier spricht ein Kind, das sich der Sprache der Erwachsenen bedienen muss. Aber gerade deshalb reflektieren auch diese Formeln eine Welt, die glaubt, selbstgewiss zu sein und offenbaren gleichzeitig, wie wenig sie es ist. Sie perforieren das Erzählte, denn wer müsste solcherart über sich selbst sprechen, wenn er  seinen Augen selbst nicht mehr traute? In diesen Sentenzen schwingt aber auch mit, dass es eigentlich müßig ist, das alles aufzuschreiben. Und hier könnte man hinzufügen: das, zumindest Ähnliches, wurde doch schon beschrieben und hat zu Recht Aufnahme in den Kanon der deutschsprachigen Literatur gefunden. Ja, aber gilt das, nämlich, dass eh schon alles einmal gesagt wurde, nicht für das Zentrum genauso wie für das Hinterland? „Ich weiß genau, was hier gespielt wird,“ heißt es am Ende eines Kapitels aus „Krähensommer“. Gerade weil sie sich aus dem literarischen Hinterland in die Schusslinie begeben, sollten Waitz’ Geschichten gelesen werden.