Im Klimawandel jetzt die Notbremse ziehen!

Keine Entwarnung seitens der Wissenschaft – doch ein Vorschlag für einen „fairen Deal“ mit der Natur

Wissenschaftler maßen diesen Sommer die Eisschmelze und korrigierten die Klimamodelle. Symbolfotos: Pixabay

Immer häufgere Waldbrände, eine Folge des Klimawandels, beschleunigen diesen weiter und belasten die Atemluft.

Wenn sich nicht schnell etwas ändert, könnten unsere Enkel die Folgen des Anstiegs des Meeresspiegels ausbaden müssen.

Die Bewohner von Tuktoyaktuk (Kanada) müssen sich ein neues Zuhause suchen, weil ihre Häuser in den Ozean stürzen. Nur eine Hubschrauberstunde entfernt davon liegt Pelly Island. Die Wellen nagen auch dort an den Küsten, krachend fallen ganze Teile der Insel ins Meer. Der Permafrost, der die Landmassen von halb Kanada von unten zusammenhält, hat zu tauen begonnen. Die Folge sind Erdrutsche, Sinklöcher, Küstenerosion. Die Landschaft bricht ein - und auseinander. Für die Menschen dort ist die Erderwärmung bereits bedrohliche Realität.

Der Klimawandel betrifft uns alle. Doch sind die größten Verursacher selten jene, die es zuerst oder am stärksten trifft. Fest steht: Er geht schneller vonstatten als erwartet! Wissenschaftler befürchten, dass einige der sogenannten Tipping Points – Ereignisse, die wie eine Kette fallender Dominosteine ablaufen, ohne aufgehalten werden zu können - bereits überschritten sein könnten. Eine Beispiel dafür ist das Schmelzen des Eisschilds in der Amundsen See, ein Vorgang, der bereits begonnen hat. Er könnte, so eines der Klimamodelle, den Rest des Westantarktischen Eisschildes unaufhaltsam destabilisieren und den Meeresspiegel innerhalb Jahrzehnten oder Jahrhunderten um drei Meter erhöhen.

Ein weiterer Tipping Point könnte das Schmelzen des Permafrosts sein: Wenn die seit zehntausenden Jahren gefrorenen Schichten aus Tierleibern und Pflanzenresten, aus denen Permafrost besteht, auftauen, wenn sich mit ihnen auftauende Bakterien ausgehungert darauf stürzen und diese verstoffwechseln, dann verwandeln sich auch die riesigen Permafrostgebiete, die bisher als klimaschützende CO2-Reservoirs gelten, in kolossale Treibhausgas-Schleudern.

Es gibt Hinweise dafür, dass die verschiedenen Tipping Points bereits bei einer wesentlich geringeren Erderwärmung einsetzen als ursprünglich gedacht, schreibt Timothy Lenton im Wissenschaftsmagazin „Nature“ („Climate tipping points – too risky to bet against“). Noch offen ist die Frage, ob es auch einen einzigen, globalen Tipping Point gibt, der die Erde ab einer gewissen Schwelle unweigerlich in Richtung lebensfeindlichem Hothouse-Szenario führt. Und wenn ja, wie weit sind wir noch davon entfernt? Sind wir noch davon entfernt?

Geld ist gar nicht das Problem!

Der Klimawandel muss gestoppt werden. Darüber sind sich Wissenschaftler längst einig. Der Übergang von klimaschädlichen auf grüne Technologien ist daher unvermeidlich. Warum geht es so schleppend? Warum widersetzen sich Länder und Lobbyisten? Geld ist der Grund, heißt es immer wieder. Die Umstellung kostet astronomische Summen.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Tatsächlich lässt sich auf Basis neuester Erkenntnisse vorrechnen, dass das in die Umstellung zu investierende Geld auf anderer Seite enorme Einsparungen bringt, die den Verlust nicht nur aufwiegen, sondern wahrscheinlich sogar um ein Vielfaches übersteigen. Neu ist aber auch, dass Wissenschaftler nicht nur warnen, sondern erstmals auch eine Lösung anbieten: eine Art Fahrplan, was konkret getan werden müsste, um den - noch - lebensfreundlichen Planeten zu retten.

Schlüsselargument: Luftverschmutzung

Der Geowissenschaftler Drew Shindell erklärt gegenüber „Nature“ („Air Pollution is much worse than we thought“), die Auswirkungen der Luftverschmutzung seien so katastrophal, dass allein die Ersparnis im Gesundheitswesen die Kosten der Transformation in grüne Energien mehr als aufwiege. Die Umstellung würde sich sogar lohnen, wenn es den Klimawandel gar nicht gäbe!

Shindell rechnet vor, dass bei Einhaltung des im Übereinkommen von Paris (2015) angestrebten Ziels, die Erderwärmung unter 2 Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Werten zu halten, von 2020 bis 2070 allein in den USA 4,5 Millionen vorzeitige Tode, 3,5 Millionen Krankenhausaufenthalte und ca. 300 Millionen verlorene Arbeitstage verhindert würden, was eine jährliche Ersparnis von über 700 Milliarden US-Dollar bedeute.
Sein Modell basiert auf gigantischen Datenmengen aus den USA, China und anderen Ländern. Mit diesen könne man den kausalen Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Krankheit unter Herausrechnen anderer Einflüsse – etwa sozialer Faktoren oder Begleitkrankheiten – überzeugend demonstrieren. Nur diese Fälle verwendet Shindell in seiner Argumentation. Würde man auch Fälle einbeziehen, die sich nicht eindeutig als Opfer von Luftverschmutzung belegen lassen, seien die Zahlen fast doppelt so hoch.

Der Klimawandel lässt sich nur durch globales Handeln bremsen. Würden nur die USA ihre Emissionen herunterfahren, gäbe es keine nennenswerte Auswirkung auf die Erdtemperatur. Dies ist die schlechte Nachricht. Doch die gute lautet: Die Vorteile der besseren Luftqualität würden auch dann greifen, unabhängig davon, wie sich der Rest der Welt verhielte, erklärt Shindell.

Dasselbe gilt natürlich auch für andere Länder: Eine Studie, publiziert  in „The Lancet“ (2017), fand heraus, dass Luftverschmutzung im Jahr 2015 in Indien 1,81 Millionen Menschen und in China 1,58 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Opfer, die mit sauberer Technologie, wie sie heute bereits existiert, verhindert werden könnten. Dies trotz der vorliegenden Erkenntnisse nicht zu tun, sei ethisch gesehen vergleichbar mit Krieg, Sklaverei oder Völkermord, meint Shindell.

Eisschmelze: schnell, schneller, am schnellsten

Die Definition der Tipping Points existiert seit rund zwei Jahrzehnten, eingeführt vom  Zwischenstaatlichen Ausschuss für Klimaänderungen (IPCC). Damals hieß es, unaufhaltsame Veränderungen auf breiter Ebene – zum Beispiel der Verlust des Amazonas-Regenwaldes oder das Schmelzen des westantarktischen Eisschilds – würden wahrscheinlich erst ab einer Erderwärmung von 5 Grad Celsius eintreten. Die letzten beiden IPCC-Berichte (2018 und 2020) korrigieren dies dramatisch nach unten: Die Tipping Points könnten bereits bei ein bis zwei Grad Erderwärmung überschritten sein. Die jüngsten Klimamodelle schlagen einen Cluster von plötzlichen Veränderungen zwischen 1,5 und 2 Grad vor, von denen einige das Abschmelzen von Eismassen betreffen. Die neuen Erkenntnisse legen nahe, dass 1,5 Grad Erderwärmung auf keinen Fall überschritten werden dürfen. Dies noch zu erreichen, kommt einem Notfalleinsatz gleich.

Gibt es überhaupt noch ein Zurück?

Wo stehen wir jetzt? Die fünf Jahre 2014 bis 2018 waren bereits um ein Grad Celsius wärmer als die vorindustriellen Temperaturen. Und das Tempo der Erwärmung hat deutlich zugenommen. Zahlreiche Regionen mit einem stärkeren Temperaturanstieg als dem globalen Mittel haben bereits einen Anstieg von 1,5 Grad erfahren.

Lanton schreibt: „Wir glauben, dass wir einigen  Tipping Points, die das Schmelzen von klimakritischen Eismassen betrifft, bereits gefährlich nahe sind.“ Der Eisschild der Amundsen See könnte diesen bereits überschritten haben. Wenn das der Fall ist, wird der Meeresspiegel um drei Meter steigen. Ähnlich instabil könnte jüngsten Daten zufolge die Eisschicht des Wilkes Basin in der Ost-Antarktis sein. Ihr Schmelzen ließe den Meeresspiegel in weniger als einem Jahrhundert um weitere 3 bis 4 Meter steigen. Das Grönland-Eis schmilzt ebenfalls mit zunehmender Geschwindigkeit. Überschreitet es eine Schwelle, die um 2030 mit 1,5 Grad Erderwärmung erreicht sein könnte, bedeute dies weitere 7 Meter.

Allein durch das Abschmelzen des Grönland-Eises würden zwischen 32 und 80 Millionen Menschen Opfer von Küstenüberschwemmungen, heißt es in „Understanding Greenlands Ice Sheet“ („New York Times“).  Das tatsächliche Ausmaß der Schmelze war den Wissenschaftlern bis diesen Sommer nicht bekannt – bis eine Expedition vor Ort Messungen unter lebensgefährlichen Bedingungen durchführte, die die Ergebnisse der Klimamodelle korrigierte. „Das Eis hat Löcher wie Schweizer Käse“, staunte Expeditionsleiter Laurence C. Smith von der University of California. Es schmilzt in riesigen Flüssen, die wie Butter durch das Eis schneiden und in gigantischen Strudeln – Moulins genannt – durch Eistunnel in den Ozean stürzen. Rund 1,6 Millionen Liter pro Minute allein an der Stelle, an der die Forscher ihre Messungen vornahmen.

Es sei möglich, dass die Tipping Points für die Eisschmelze bereits überschritten sind, meinen die Wissenschaftler. Dann müssten zukünftige Generationen mit einem zehn Meter höheren Meeresspiegel leben. Wie schnell er steigt, hängt von der weiteren Erwärmung ab. Bei 1,5 Grad könnte es 10.000 Jahre dauern – bei 2 Grad nur 100 Jahre! Die Zahlen zeigen, wie wichtig es ist, jetzt endlich zu handeln. Denn unsere Enkel, vielleicht sogar unsere Kinder, könnten es noch erleben.

Der Ozean: Artensterben und Methanlecks

Andere Tipping Points betreffen die Erwärmung des Ozeans. Werden sie überschritten, könnten plötzlich gigantische Massen an Treibhausgas in die Atmosphäre gelangen, die den Klimawandel weiter beschleunigen: gefrorenes Methan oder Gase aus dem tauenden Permafrost der Tiefsee. Ein Massensterben der Korallenriffs – 99 Prozent bei 2 Grad Erwärmung – zöge enorme Verluste der Bio-diversität nach sich. Der Ozean würde zum lebensfeindlichen Element.

Diesen Juli berichtete „The Guardian“ von der zufälligen Entdeckung des ersten großen Methans-Lecks im arktischen Ozeanboden, der noch immense Mengen gefrorenen Gases birgt. Normalerweise wird vom Meeresboden entweichendes Methangas – Quelle sind zerfallende Algen aus jahrtausendealten Sedimentschichten - von speziellen Bakterien der darüber liegenden Wasserschichten abgebaut. An diesem Leck besorgt die Forscher das Ausbleiben dieser Bakterien. Wie viele solche Lecks mag es noch geben? Bisher hatte niemand gezielt danach gesucht.

Aufschlussreiches Rechenbeispiel

Die Autoren des Tipping-Point-Artikels rechnen vor: Für eine 50-prozentige Chance, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken, dürften weltweit nicht mehr als 500 Gigatonnen CO2 in die Atmosphäre gelangen. Das begonnene Tauen des Permafrosts braucht 100 Gigatonnen dieses Budgets auf, wobei gefrorenes Gas aus dem Tiefsee-Permafrost noch nicht berücksichtigt wurde. Tipping Points, die den Verlust der Amazonas-Wälder oder der borealen Nadelwälder (Taiga) auslösen würden, kosten weitere 90 und 110 Gigatonnen. Sollten sie bereits überschritten sein und wenn man bedenkt, dass weltweit jährlich immer noch 40 Gigatonnen CO2 vom Menschen in die Luft geblasen werden, könnte das Budget bereits aufgebraucht sein!  

Manche Wissenschaftler halten einen globalen Tipping Point für möglich, der in einem Schneeballeffekt  zum Aufbrechen der Kumulus-Wolkenschicht in der Stratosphäre führt – und damit zu einer Erderwärmung um satte acht Grad! Dann wäre tatsächlich die Menschheit bedroht - das Kippen des Klimas nicht mehr aufzuhalten. Nur  die Geschwindigkeit könnte man noch innerhalb gewisser Grenzen beeinflussen.

Ausstieg aus der Achterbahn

Im vergangenen Jahr gaben Wissenschaftler einen Bericht heraus („Global Deal for Nature“), der Regierungen aufzeigen soll, was getan werden müsste, um Ökosysteme zu retten und die globale Erwärmung aufzuhalten. Bis 2030, heißt es darin, müssten 30 Prozent der Erde vollständig geschützt und 20 Prozent nachhaltig verwaltet werden. Dieser Fahrplan aus der Klimafalle wurde in diesem Jahr aktualisiert und außerdem um gezielte Maßnahmen konkretisiert. Im neuen Bericht „The Global Safety Net“ vom 17. April („Science Advances“) ist jetzt allerdings von 50 Prozent zu schützenden Gebieten die Rede, dies in konkreten Schlüsselregionen, vor allem in Russland, Brasilien, Indonesien, Kanada, Australien und China.

50 Prozent müssten wir der Natur zurückgeben, um den Planeten  auch für die Menschheit  zu retten... 50 Prozent für die Wildnis, 50 Prozent für uns. Ein ehrgeiziges Ziel – aber Hand aufs Herz: Klingt das nicht wie ein mehr als fairer Deal?