Im Wettlauf gegen den Virus

Was bedeuten die Mutationen aus Großbritannien und Südafrika für die Bekämpfung der Pandemie?

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Der Coronavirus SARS-CoV-2 ist kein sehr wandlungsfähiger Zeitgenosse. Nur ein bis zwei Mutationen pro Monat wurden bisher beobachtet, sagt Maria Van Kerkhove, Epidemiologin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), gegenüber dem Wissenschaftsmagazin „Science“. In der Regel sind sie unbedeutend. Und doch versetzen jetzt zwei Varianten der Urversion die Welt in Aufregung – obwohl die Impfkampagnen längst angerollt sind. Beide weisen ausgerechnet am Spike-Protein – also an dem Fortsatz, mit dem der Virus an die Zelle andockt und sich mit einem molekularen Schlüssel Einlass verschafft – eine Reihe an Veränderungen auf. Weil dieser Mechanismus so typisch für SARS-CoV-2 ist, richten sich Impfungen gezielt gegen ihn. 

Die Mitte Dezember bekannt gewordenen neuen Varianten mit den sperrigen „Kosenamen“ B.1.1.7, entdeckt in Großbritannien, und B.1.351 , erstmals beobachtet in Südafrika, sind dank ihrer Mutationen am Spike-Protein jetzt noch effizienter beim Aufschließen verbotener Türen. Einmal in die Zelle eingebrochen, übernehmen sie das Kommando über deren Proteinfabriken und missbrauchen sie für die Massenproduktion neuer Viren. Besteht nun Gefahr, dass die Impfungen gegen die neuen Varianten nicht mehr wirken? 

Mutationen am Spike-Protein könnten die Impfungen theoretisch sabotieren. Andererseits sind solche Mutationen für den Virus meist nicht vorteilhaft: Die Gefahr, dass der hochpräzise Schlüssel bei einer zufälligen Veränderung kaputt geht, ist viel größer, als dass er verbessert wird. Und doch ist ausgerechnet letzteres geschehen!

Ansteckender, aber nicht tödlicher

Zuerst die gute Nachricht: Die neuen Varianten von SARS-CoV-2 scheinen keine schwerere Form von Covid-19 auszulösen. Es gibt auch keine Anzeichen, dass sie tödlicher wären. Der wesentliche Unterschied zur Urform ist: Sie können in kürzerer Zeit wesentlich mehr Menschen infizieren – und damit die Anzahl jener, die intensivmedizinische Behandlung benötigen oder an Covid-19 sterben um ein Vielfaches erhöhen. Kennt man die Infektionsrate, ist es ein einfaches Rechenbeispiel. 

B.1.1.7 ist nach jüngsten Schätzung um 65 Prozent infektiöser als die bisher dominante Variante. B.1.351 wurde entdeckt, weil eine plötzliche Häufung von Neuinfektionen in einem Krankenhaus in Südafrika ins Auge sprang. 

Die schlechte Nachricht ist, dass die neuen Varianten gegenüber der alten einen Selektionsvorteil haben. Sie breiten sich schneller aus und werden letztere über kurz oder lang ersetzen. Der Druck auf die ohnehin überlasteten Gesundheitssysteme steigt enorm. Großbritannien hat deshalb auf die Bekanntmachung von B.1.1.7 am 14. Dezember mit einem neuen Lockdown am 5. Januar reagiert. Viele Länder schlossen ihre Grenzen für Reisende aus Großbritannien. 

Mittlerweile wurde die  britische Variante in 45 Ländern nachgewiesen, seit dem 9. Januar auch in Rumänien. Die südafrikanische Variante wurde am 12. Januar in Deutschland entdeckt. Beide erhöhen den Druck auf die Impfkampagnen: Wird es gelingen, einen großen Teil der Bevölkerung zu immunisieren, bevor die Zahl der Opfer in die Höhe schnellt?

Eines ist wichtig, zu wissen: Der Ansteckungsweg über Tröpfchen und Aerosole ist derselbe geblieben. Es gelten also immer noch dieselben Schutzmaßnahmen: Distanz, Händewaschen, Masken tragen... Auch wenn die meisten Menschen die Einschränkungen gründlich satt haben, sind sie gerade jetzt essenziell. 

Rätselhafte Mehrfachmutationen

B.1.1.7 und B.1.351 weisen extrem seltene, punktuelle Häufungen von Mutationen auf. Der britische Coronavirus hat 23 Mutationen im Vergleich zur Wildform aus Wuhan, 17 davon sind sinnvoll, 8 führten zu Veränderungen am Spike-Protein. „Das ist etwas nie Dagewesenes“, meint Andrew Rambaut, Molekularbiologe an der Universität von Edinburg, gegenüber „Science“. 

Drei davon gelten als besonders bedenklich: Die erste kommt auch in der Südafrika-Variante vor und ist für ein festeres Andocken des Spike am ACE2-Rezeptor, dem Schloss an der Zellentür, verantwortlich: der Schlüssel passt besser ins Loch. Die zweite ist ebenfalls schon einmal aufgetreten: Sie wurde in einem Patienten in Cambridge entdeckt, der mit Antikörpern von genesenen Infizierten behandelt wurde. Es stellte sich heraus, dass der Patient wegen dieser Mutation schlecht auf die Therapie ansprach, erklärt Virologe Ravindra Gupta in einer Anfang Dezember veröffentlichten Preprint-Studie. Er fand auch heraus, dass die Mutation den Virus doppelt so infektiös machte. Dieselbe Mutation soll bei den niederländischen Nerzen festgestellt worden sein, die daraufhin in Massen gekeult wurden. Sie spiele eine Rolle in der Fähigkeit des Virus, das menschliche Immunsystem zu umgehen, so Genforscherin Lucy Van Dorp auf medicalXpress.com. Die dritte Mutation, warnt der deutsche Virologe Christian Drosten in „Science“, verändert die Stelle des Spike, die den Eintritt des Virus in die Zelle ermöglicht. 
Die südafrikanische Variante hat nur drei sinnvolle Mutationen, doch auch diese sind ausgerechnet an der Stelle des Spike, die an den ACE2-Rezeptor andockt. 

Wie konnte der Virus so gezielt mutieren? Mutationen geschehen nach Zufallsprinzip. Doch je verbreiteter ein Virus ist, desto häufiger treten sie auf und umso wahrscheinlicher werden auch seltene Mehrfachmutationen. Die meisten bieten dem Virus keinen Selektionsvorteil und bleiben daher unbemerkt. Erst wenn eine Variante einen deutlichen Vorteil erhält, verdrängt sie nach und nach alle anderen. Der Einbrecher mit dem besseren Schlüssel dringt schneller in mehr Häuser ein. 

Der Virus verhält sich á la carte

Wie entstehen überhaupt Mutationen? Zum einen durch Fehler beim „Abschreiben“ des Bauplans bei der Reproduktion. Zum anderen durch Rekombination, wenn beim Zusammenbau ein fremdes Stück eingebaut wird, was bei SARS-CoV-2 bisher nicht festgestellt wurde, so Van Dorp. Zum dritten stören antivirale Medikamente den korrekten Zusammenbau der „Virenbrut“. 

Nur selten gereicht eine Mutation dem Virus zum Vorteil. Van Dorp berichtet, in der ersten Pandemie-Welle seien in Großbritannien 50.000 Mutationen untersucht worden, von denen keine zu einer Veränderung der „Virus-Fitness“ führte. Doch egal, wie viele Viren untergehen, für den Erhalt der Spezies sind die wenigen sinnvollen Mutationen ein Riesen Gewinn. Einen solchen Vorteil bietet die Erhöhung der Ansteckungsrate, der Virus kann sich stärker vermehren. Die Todesrate zu erhöhen, nützt ihm hingegen wenig, wenn das Opfer zu schnell stirbt, ist seine Übertragungskette unterbrochen. Bei Viren, die wie SARS-CoV-2 aus dem Tierreich auf den Menschen übergesprungen sind, ist die Zunahme der Infektiösität nicht ungewöhnlich, erklärt  Evolutions-Mikrobiologe Andrew Read von der Penn State University. „In jedem von uns untersuchten Fall, in dem ein Virus auf eine neue Spezies sprang, wurde dieser mit der Zeit infektiöser. Er wird besser durch natürliche Selektion.“ Der Virus verhält sich also á la carte.

Inkubatoren für neue Varianten

Trotzdem ist es extrem unwahrscheinlich, dass mehrere Mutationen zeitgleich stattfinden, die eine einzige Stelle – das Spike-Protein – zum Vorteil verändern. Normalerweise reicht die Zeit nicht aus, um so seltene Mutationen hervorzubringen – entweder stirbt der Patient vorher oder er wird gesund. Es braucht ganz besondere Bedingungen für einen solch kolossalen Zufall. Wissenschaftler glauben daher, B.1.1.7 könnte in einem chronisch infizierten Langzeitpatienten entstanden sein. „Dies ist selten, aber es kann passieren“, meint Van Kerkhove.

Die Preprint-Studie über den britischen Langzeitpatienten, der mit Plasma von Rekonvaleszenten behandelt wurde, erklärt, die Mutation sei eine Reaktion auf die darin enthaltenen Antikörper. Mit anderen Worten: Der Virus hatte ausreichend Zeit, eine so seltene Mutation hervorzubringen und die neue Variante „überlebte“, weil sie resistent gegen Antikörper war.  Der zur Therapie übertragene Antikörper-Cocktail setzte die Viruspopulation mit all ihren mutierten Varianten unter enormen Selektionsdruck. Menschen mit Immundefizit, die chronische Covid-19-Infektionen entwickeln, könnten geradezu Inkubatoren für neue Virusvarianten sein, so die Hypothese.

Sie scheint sich zu bestätigen, wie ein am 28. Dezember veröffentlichter Versuch von Rino Rappuoli von Toscana Life Sciences in Siena zeigt. Er züchtete SARS-CoV-2 in Anwesenheit von Antikörpern in geringen Konzentrationen, um durch Mutation entstandene Varianten zu selektieren – also solche, die gegen die Antikörper resistent sind. Das erstaunliche Resultat: Innerhalb von 90 Tagen entstanden drei solche Mutationen. Eine davon war identisch mit einer Mutation der Südafrika-Variante B.1.351, zwei kamen in dieser und der britischen Variante vor. Das Ergebnis suggeriert, dass sich die gesamte Antikörper-Immunantwort nur gegen den Spike richtet. Aber auch: Wenn es eine Kombination von Mutationen gibt, die das Immunsystem umgeht, dann ist die Chance groß, dass die Natur sie findet.

Sind die Impfungen nun in Gefahr?

Apoora Mandavilli bemerkt in „New York Times“, mindestens eine der Mutationen von B.1.1.7 schwäche die Wirksamkeit der Impfungen leicht. Ein Forscherteam um Jesse Bloom, Evolutionsbiologe am Fred Hutchinson Krebsforschungszentrum in Seattle, analysierte 4000 Mutationen  auf der Suche nach Varianten, die die Wirkung der Impfungen gefährden könnten. Die Südafrika-Variante und eine in Brasilien entdeckte qualifizierten sich dabei als beste Kandidaten. Bestimmte  Mutationen versetzen den Virus offenbar in die Lage, den gegen die Urversion gebildeten Antikörpern zu widerstehen. 

Andererseits äußern sich die meisten Experten eher zuversichtlich: Die Impfungen lösten eine breite Immunantwort aus, ihre Wirksamkeit sei wahrscheinlich nicht in Gefahr. Wenn die neuen Varianten die durch Impfungen oder Krankheit erworbene Immunität aufheben, müsste man außerdem mehr Fälle wiederholter Infektionen sehen. 

Doch je länger der Virus sich unter Ungeimpften verbreitet, desto mehr Mutationen kann er erwerben, die die Effizienz der Impfung unterminieren, warnt Carl T. Bergstrom, Evolutionsbiologe an der Universität von Washington in Seattle, gegenüber „New York Times“. Shane Crotty vom La Jolla Institut für Immunologie hingegen meint: Es gibt Viren wie Masern oder Polio, die nie „gelernt“ haben,  die Impfungen zu umgehen. „Das sind historische Beispiele, die suggerieren, sich nicht verrückt zu machen.“ 

Screening nach Mutationen wichtig

Beide SARS-CoV-2-Mutationen haben sich in der Region ihrer Entdeckung bereits massiv verbreitet. In Südafrika, so der Epidemiologe Salim Abdool Kalim,  sei die erstmals Mitte Oktober nachgewiesene Variante B.1.351 bereits für 90 Prozent aller Neuinfektionen in der Provinz Westkap verantwortlich. B.1.1.7 hingegen wurde am 20. September südöstlich von London entdeckt. In der ersten Dezemberwoche war die Variante bereits für 62 Prozent aller Fälle verantwortlich. Derzeit sind es wahrscheinlich über 90 Prozent,  so „The Economist“. Auch in den USA hat B.1.1.7 bereits Fuß gefasst. Die nach neuesten Erkenntnissen um 56 Prozent infektiösere Variante als die Wildform (anfängliche Schätzungen lagen zwischen 40 und 70 Prozent) werde sich dort bis März als dominante Form durchsetzen, schätzt Trevor Bedford, Evolutionsbiologe am Fred Hutchinson Krebsforschungszentrum in Seattle. Inzwischen wurde B.1.1.7 in 45 Ländern nachgewiesen, von Singapur über den Oman bis Jamaica, berichtet die „New York Times“. 

Die meisten Länder seien jedoch mangels Technologie zur Sequenzierung schlichtweg blind. Doch sogar potente Länder wie die USA schlugen anfängliche Forderungen von Experten nach routinemäßigen genetischen Screenings nach gefährlichen Mutationen in den Wind. Dänemark ist neben Großbritannien eines der wenigen Länder, die in diese Technik investiert haben. In beiden Ländern wurde die britische Variante bereits in mehreren Regionen nachgewiesen. Der dänische Gesundheitsminister äußerte kürzlich, bis Mitte Februar werde sie wohl im ganzen Land dominant sein. 

Auf jeden Fall aber müssten die Länder in den nächsten Monaten versuchen, die Verbreitung um jeden Preis zu verhindern, meint Van Kerkhove. Je mehr Viren zirkulieren, desto größer die Chance für weitere Mutationen. Die Entstehung von B.1.1.7 zeige, wie wichtig es sei, die Evolution von SARS-CoV-2 künftig sehr aufmerksam zu verfolgen, warnt die WHO-Expertin: „Wir spielen hier ein sehr gefährliches Spiel!“