In einer Welt ohne Stimmen

Der vielfach preisgekrönte ukrainische Film „The Tribe“ in den rumänischen Kinos

Szenenbild aus „The Tribe“

So wie der Film „Boyhood”, der bei der jüngsten Oscar-Preisverleihung für mehrere Academy Awards nominiert wurde, ein im buchstäblichen Sinne einzigartiges Werk darstellt – es handelt sich dabei um einen Film, dessen Drehzeit sich über die Dauer von mehr als einem Jahrzehnt erstreckte –, so ist auch der im vergangenen Jahr in der Ukraine gedrehte Film „Plemya“ (international kommerzialisiert unter dem Titel „The Tribe“) ein Opus sui generis, ein Werk einzig in seiner Art.

Der Betrachter dieses Films taucht ein in eine Welt ohne Stimmen, in der ausschließlich mittels Gebärdensprache kommuniziert wird. Ohne Unterstützung durch Voice-over und ohne die Hilfe von Untertiteln muss sich der ‚gebärdenblinde’ bzw. ‚gebärdensprachunkundige’ Zuschauer im Filmgeschehen zurechtfinden und ein Verständnis für die lautlose, aber keineswegs sprachlose Filmhandlung entwickeln.
So wie Gehörlose nicht stumm sind, so ist auch dieser Film kein Stummfilm, denn die Möglichkeit zu hören wird dem Betrachter nicht genommen. Er darf Geräusche aller Art wahrnehmen, Verkehrslärm, Schritte, Brummen, Rauschen, Dröhnen, die Welt der Töne bleibt ihm erhalten. Und die Welt der Laute, die auch von Gehörlosen erzeugt werden: Laute des Schmerzes, der Lust, der Erregung und der Emotion. So nimmt der Zuschauer in einer doppelten Rolle am Filmgeschehen teil. Er hört einerseits mehr als die Schauspieler, die auch im wirklichen Leben gehörlos sind, und versteht andererseits weniger vom sprachlichen Geschehen als die visuell kommunizierenden Akteure.

Schon um dieser einzigartigen Erfahrung willen lohnt sich der Besuch des mit 130 Minuten überlangen, dabei abwechslungsreichen und spannenden Streifens. Auch die Liste der internationalen Auszeichnungen für „The Tribe“ spricht für sich. Allein auf dem Filmfestival in Cannes im Mai vergangenen Jahres gewann der Film mehrere Preise, und im Laufe einer Spieldauer von mittlerweile zehn Monaten wurde er auf über zwei Dutzend internationalen Festivals mit über drei Dutzend Auszeichnungen gewürdigt.

Der ukrainische Regisseur Myroslav Slaboshpytskiy, der auch das Drehbuch zu „The Tribe“ schrieb, führt den Zuschauer in ein Internat für gehörlose Schülerinnen und Schüler am Rande von Kiew, wo diese tagsüber am Unterricht teilnehmen (man erhält Einblicke in den Sozialkunde- und Werkunterricht), in der unterrichtsfreien Zeit aber, besonders nachts, ihren eigenen, vornehmlich kriminellen Aktivitäten nachgehen: Diebstahl, Hehlerei, Raub, Prostitution.

Das von den Lehrern des Internats stillschweigend geduldete und von einigen derselben sogar aktiv mitbetriebene System dieser kriminellen Aktivitäten ist straff und zugleich höchst differenziert hierarchisch organisiert. An der Spitze steht ein Schüler, der die strafwürdigen Aktivitäten plant und mit den beteiligten Lehrern vorher abspricht. Unter den Schülern verfügt er über einen persönlichen Adjutanten und einen Kreis von ihm unterstehenden Anführern, die seine Herrschaft gegenüber der gesamten Schülerschaft sichern und dafür Privilegien (Geld, Ansehen, Vorrang und Vorzüge) genießen.
Die Internatsschüler agieren – dem Titel des Films „The Tribe“ gemäß – wie ein Stamm, eine Sippe, ein Clan, oder, wenn man an die Raubüberfälle auf verschiedene Leute im Zug oder beim Einkaufen denkt, wie eine Horde oder ein Rudel. Inszeniert werden sie dabei wie ganz und gar unedle Wilde, die aus ihrer festen Internatsstruktur ausbrechen und sich bei diesen ihren Ausbrüchen zugleich einer weitaus brutaleren hierarchischen Gruppenstruktur unterwerfen, was zum Beispiel bei den Schaukämpfen der männlichen Schüler untereinander exemplarisch deutlich wird.

Das Drama nimmt seinen Anfang mit der Ankunft eines neuen Schülers (Grigoriy Fesenko als Sergeiy), der in der Hierarchie ganz unten anfangen muss, sich aber aufgrund seiner ‚Qualitäten’ (Unterordnung, Kampfkraft, Intelligenz, Kaltblütigkeit) allmählich hochdient, bis er sogar als Zuhälter der beiden Mitschülerinnen (Rosa Babiy als Svetka und Yana Novikova als Yana) das nächtliche Anschaffen auf Fernfahrerparkplätzen begleiten und überwachen darf. Als Zuschauer erwartet man eine Aufstiegsgeschichte wie etwa in dem französischen Gefängnisfilm „Un prophète“ (2009), wo der Protagonist schließlich die Spitze der Gruppenhierarchie erklimmt und zum ‚Alphatier’ wird.

Doch das Drama nimmt eine unerwartete Wendung, als Sergey sich plötzlich in Yana verliebt und in Zuwiderhandlung gegen seinen Dienstauftrag als Zuhälter die Prostitution seiner Geliebten verhindert. Erwartungsgemäß wird er vom ‚Stammeshäuptling’ (Alexander Dsiadevich) dafür bestraft und erneut auf die unterste Stufe der Hierarchie hinabgestoßen. Durch Geschenke, die er durch Diebstähle auf eigene Faust finanziert, versucht Sergeiy die Gunst Yanas, die ihn gleichfalls liebt, zu erhalten, doch Yana unterliegt sowohl der Gewalt des repressiven Systems als auch sich selbst auferlegten Zwängen.
Als Sergeiy erfährt, dass Yana mit einem italienischen Visum zum Anschaffen in die EU geschickt werden soll, nimmt das Unheil seinen Lauf. Mit Händen und Füßen wehrt er sich gegen das repressive Gruppensystem, mit den Zähnen zerreißt er Yanas Pass und entgeht mit knapper Not einem Mordversuch durch seine Mitschüler, worauf er einen Rachefeldzug unternimmt, dem die Köpfe des Stammes allesamt zum Opfer fallen.

Genial sind die mit der Steadicam aufgenommenen Bilder (Kamera: Valentin Vasyanovych), die den nach Rache dürstenden Sergejy zeigen, wie er durch die Flure des Internats schreitet, um unmittelbar darauf seine grässlichen Gewalttaten zu begehen. Hier wie überhaupt spart der Film nicht mit schockierenden Aufnahmen, die in ihrer Intensität den Zuschauer erschüttern. Die Abtreibung, die Yana im Badezimmer einer Engelmacherin vornehmen lässt, wird nolens volens im Gedächtnis des Betrachters lange haften bleiben.

Zu den gewagten Momenten des Filmes zählen außerdem die mit explizit gezeigter Nacktheit der Protagonisten realisierten Sexszenen, wobei der erste Geschlechtsakt zwischen Yana und Sergeiy, bei dem diese jenem ihre Liebe signalisiert, vor Authentizität leuchtet, während die spätere Neunundsechziger-Szene artifiziell konstruiert wirkt und damit dem unglaublich natürlichen Gesamtduktus des Films zuwiderläuft.

Insgesamt ein verstörender, bewegender, sprachlos machender, dabei höchst sehenswerter und überaus zu empfehlender Film, der neben dem polnischen Streifen „Ida“ und dem russischen Streifen „Leviafan“ eine Oscar-Nominierung für den besten fremdsprachigen Film auf jeden Fall verdient gehabt hätte.