In hundert Jahren

Ein Blick auf Kronstadt und seinen grünen Gürtel

In der „Geschichte des Waldwesens“ der Stadt Kronstadt, die Stadtforstmeister E. Zaminer 1891 vor mehr als hundert Jahren schrieb, ist wie ein roter Faden der Gedanke der Verantwortung, des Schutzes und des Bewahrens der Wälder, Waldweiden und Weiden, die den historischen Teil von Kronstadt umgeben, zu finden.

Insbesondere die Zinne, der Stadtberg über den Stadtmauern, hatte 1713, 1860 und 1880 unter Bränden zu leiden und auch immer wieder Holz in Not- und Kriegszeiten zu liefern, bis 1790 ein drastischer Beschluss des Magistrates erfolgte, die Verwüstungen und Holzfällungen betreffend: „Die Übeltäter werden eingefangen und vor einer löblichen Polizei zur körperlichen Strafe vorgeführet“.
Die Wälder, die weiterhin die Obere Vorstadt umgaben, waren nicht so glücklich: Sie wurden Jahrhunderte lang von Ziegen und Kühen beweidet bis zur Zerstörung des Waldbodens, der weggeschwemmt und -gewaschen wurde, so auf dem Rattenberg, Goritza, Fa]a Dracului u. a.

Demzufolge fasste der Magis-trat 1875 den Beschluss, die kahlen Berge, Hutweiden und Öden zur Sicherung der „Speisung der Quellen, der Häuser und Straßen vor verderblichen Wasserfluten …. zum Wohle von Mit- und Nachwelt“ aufzuforsten.
Alles, wie gesagt vor hundert Jahren!

Trotz anfänglichen Verdrusses der Bewohner der Oberen Vorstadt, die ihre Weide für Ziegen in Gefahr sahen, war das Projekt bald sehr beliebt, dadurch dass es in den Krisenzeiten durch die Neupflanzungen eine Verdienstmöglichkeit eröffnete und es wurde so auch sozial ein voller Erfolg.

Das Projekt wurde mit schnell wachsenden Baumarten, standortfremden Arten wie Schwarz- und Gemeine Kiefer, Fichte, Lärche u. a. auf 285,41 ha durchgeführt und erhielt auf der Land- und Forstwirtschaftlichen Ausstellung in Wien 1890 eine silberne Medaille und viel Anerkennung. Man stand in der ersten Linie des Fortschritts!

Vieldeutig schließt E. Zaminer seine Ausführungen mit den Worten: „Wenn man dann, wenn sie durch reichlichen Nadelabfall den Boden hinreichend werden verbessert haben, über diese sagen kann: ‘der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehn’, dann wird es auch in dieser Stadt – so Gott will – an Forstmännern nicht gebrechen, welche keinen Augenblick über die zu treffende Wahl der zukünftigen Bestandesmischungen in Zweifel sein werden“. Man lebte in einem fortschrittsgläubigen Jahrhundert...

Indessen sind über hundert Jahre vergangen – wo stehen wir jetzt?

Die Zinne, der Stadtberg, ist weiter grün und weiter eine Domäne der eingeborenen Buche. Die Zinne ist sogar zum Naturschutzpark aufgerückt, nur weiß keiner, der ihn betritt, so genau, wo dieser beginnt und wo er aufhört. Waldfrevel werden auch immerhin nicht mehr körperlich geahndet, die materielle Not ist weg. Doch Plastikmüll, Serpentinenabkürzungen, kaputte Bänke und Müllbehälter, beschmutzte Informationstafeln etc. sprechen eine deutliche Sprache für einen starken Erziehungs-Notstand.

Dem Bodenschutz und den standortgerechten Baumarten, um die es den Altvorderen ging, geht es leider nicht so gut. Die seinerzeit gepflanzten standortfremden Bäume sind alt und verabschieden sich; es gibt oft Windwurf, aber der ursprüngliche Bestand an Rotbuche, Weißbuche und Steineiche erscheint endlich zaghaft in den Lichtungen, soweit sich die Eichelhäher des Problems annehmen. Sollte E. Zaminer diese gemeint haben; offenbar funktioniert es!

Schlimm ergeht es dem Gürtel von Waldweiden, Weiden und Gärten um die Obere Vorstadt. Vor der Wende größtenteils enteignet, verlassen und verbuscht, jetzt oft in ungeklärten Besitzverhältnissen oder leichtfertig an Immobilienfirmen verhökert, sind sie kommerzielle Spekulationsobjekte, denen gegenüber die Stadtverwaltung hilf-und konzeptlos erscheint. Als Beispiel mögen einige der neueren erbauten oder geplanten „Residenzen“ dienen, stillose Einheitswürfel mit zu vielen Stockwerken, von denen viele leer stehen, zu denen meist keine neue, dem Verkehr genügende Zufahrt existiert und falls diese in irgendeiner Form doch simuliert wird, fehlt oft eine Rinne für Regenwasser oder diese mündet ins Nirgendwo, aber nicht in eine Kanalisisation von passendem Fassungsvermögen oder sie ist eine bloße Wunde, mit dem Bulldozer in die Vegetation gerissen. Überall die bewährte Taktik, Fakten zu schaffen und dann erst, falls überhaupt, Untersuchung der Legalität.

In den meisten Seitentälern, die sich zur Stadt öffnen, fehlen Dämme, die Sturzbäche aufhalten und kontrolliert ableiten, es fehlen Zäune zwischen Wald und Stadt, wo Bären, Wildschweine etc. zum Gaudium unbedarfter Touristen spazieren dürfen, es fehlen Anbindungsmöglichkeiten an den Stadtverkehr, weil die Straßen zu steil und zu eng wären, und zu Kaufhäusern. Es fehlt im Klartext an jeder Infrastruktur, an Bebauungsplänen, an Konzept und urbaner Kultur, aber es wird gebaut!

Was hat sich nun in hundert Jahren eigentlich an Wissen, Können und Verantwortungsbewusstsein in Richtung Fortschritt verändert?