„In memoriam, Weihnachten 1951“

Zum Band Erzählungen des Banaters Béla Büchl, übersetzt von Andrea Schäffer

Béla Büchl: Vertrauliche Nachricht. Biografische Erzählungen. Pop-Verlag Ludwigsburg 2021, ISBN 978-3-86356-331-8, 353 Seiten, 24,50 Euro

Die Liste der Veröffentlichungen verschiedenster Art zu dem einmaligen Ereignis in der Banater Geschichte – die Deportation von über 40.000 Menschen ohne Schuld und Urteil in die Bărăgan-Steppe – ist seit der politischen Wende in Rumänien beachtlich angewachsen, vor allem Memorialistik in vier Sprachen, Forschungsarbeiten, Dokumentationen, Schöngeistiges, darunter ein Roman von Julia Schiff aus dem Jahr 2000. Erinnert werden soll hier aber auch an das Buch, das am Anfang stand, als das Thema im Land noch tabu war: „Sklaven im Bărăgan“ von Heinrich Freihoffer aus dem Jahr 1981, herausgegeben von dem Kleinschemlaker Autor (Deggendorf, im Selbstverlag). Seit Frühsommer 2021 liegt ein weiteres, besonderes (nicht nur) Bărăgan-Buch vor, das bisher unerklärlicherweise kaum Beachtung fand: „Vertrauliche Nachricht. Biografische Erzählungen“ von Béla Büchl. 

Es sind die unvergessenen Erinnerungen aus der Sicht eines Kindes und Jugendlichen, niedergeschrieben in späten Jahren. Sie setzen ein mit denen des Schuljungen im Banater Marktort Detta vor der Zwangsaussiedlung, mit einer Art Lage- und Zeitbeschreibung, mit Einblicken in die verwobene deutsche und ungarische Gemeinschaft in der Kleinstadt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei finden von Anfang an und fast bis zum Ende die sonst bisher in den Schriften zum Thema weniger festgehaltenen sozialen Aspekte und ihre Nachwirkungen entsprechende Beachtung. Aus dem gutbürgerlichen und wohlhabenden Verwandtschaftskreis des Autors waren alle Familien deportiert, die Arzt- und die Rechtsanwaltsfamilie und die des Tafelrichters, aber auch der Kutscher und Mühlenarbeiter. Hinzu kamen in der Bărăgan-Neusiedlung einst reiche, aber auch arme Bauern und Intellektuelle, Menschen unterschiedlicher Konfessionen, ethnischer Zugehörigkeit und regionaler Herkunft.

Charakterbilder und verbale Stillleben

Außer bekannten Geschehnissen hält der Junge bzw. Jugendliche über die fünf Jahre in der „Neusiedlung“ Bordușanii Noi unweit von Fetești viele Besonderheiten des Alltags fest, das Leben in Familien mit Kleinkindern, wo keiner an physische Arbeit gewohnt war. Dabei sind die Charakter- und Personenbeschreibungen aus damaliger Sicht beeindruckende literarische Ausgestaltungen. Zu den gelungensten zählen die Porträts der Mutter, eine Ungarin, und der „Baba-Tanti“. Bei den Landschafts-, Dorf- und Stimmungsbildern gelingen dem Autor wahre „Stillleben“, wie bei der Beschreibung des Wohnzimmers in dem aus Erde gestampften und mit Stroh gedeckten Häuschen mit dem sehr alten, großen und allen Widrigkeiten trotzenden Biedermeiertisch. Oder die Wandlungen des Siedlungsbildes, u. a. durch die Blumen vor den schwäbischen Häusern, an deren abendlichen Duft sich der Jugendliche erinnert. Zuletzt waren vor allen Häusern im Ort Blumen zu sehen.

Zu den vielen unvergessenen, nachhaltigen Erlebnissen zählten ein früher misslungener Fluchtversuch nach Siebenbürgen wegen Schulbesuch, dass das Wasser eimerweise für den Hausbau, den Haushalt und das Trinkwasser gekauft werden musste, die Versuche der Jugendlichen, Zeitvertreib und Unterhaltungen zu improvisieren. Für die ganze Familie in unauslöschlicher Erinnerung blieb das erste Paket, das sie von einer bekannten Familie aus Detta erhielten, zumal es „alles“ enthielt, was für den ersten Heiligabend in der Verbannung fehlte: eine Puppe, Salonzucker, Gebäck, Wurst und Speck… „Die Freude war unbeschreiblich, sie erfüllte den Abend mit Wärme und einem tiefen Glücksgefühl.“ Zum Dank bedachte der Familienvater Dr. jur. und Dr. in Politikwissenschaften Anton Büchl (1908-1980) Jahre später die Absenderfamilie Szivi mit der von ihm erstellten Monographie von Detta (München 1979) und vermerkte in der Widmung „In memoriam, Weihnachten 1951“. Viele Erzählungen haben dokumentarischen Wert, so die über die Einweisung der aus Gefängnissen entlassenen politischen Häftlinge in das Neusiedler-Dorf.

Prägende Lebensmomente

Etwa die Hälfte des Buches, die ersten 13 Kapitel, ist direkt dem Thema Lebenswelten im Bărăgan gewidmet, Nachwirkungen und Folgen tauchen auch im zweiten Teil auf, in den Erzählungen aus den Jahren nach der Entlassung aus dem Bărăgan-Dorf im März 1956, als der fast 18-jährige schon die Traktoristen- und Mechanikerschule hinter sich hatte und ein Studium in Temeswar/Timișoara und dann am Bukarester Konservatorium begann. Stadt- und Studentenleben mit viel Erotik und Sex, Studium, Professorengestalten und sozialpolitische Zustände sind festgehalten, oft humorvoll. Nach dem abgeschlossenen Gesangstudium folgten Jahre als Musiklehrer in Temeswar und Familiengründung. Ungewöhnlich das Kapitel über den Rausschmiss aus dem Lehrwesen nach dem Ausreiseantrag und die erzielte Einweisung in die im Banat sehr bekannt-berüchtigte Heilanstalt in Jebel („Bei den Irren“).

Vielfach Bekanntes, aber hier doch Individuelles und aus anderem Blickwinkel ist über das Thema Ausreise, Ankunft in Deutschland (1978), erster Banat-Besuch zu lesen und über 20 Jahre als Fachlehrer am Nymphenburger Gymnasium in München, wo der Musikpädagoge den Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn als Musiklehrer erlebte. 

Im letzten Lebensabschnitt gelangt der Rentner in ein Dorf im Bakonyer Wald, wo er ein Bauernhaus erwarb, Bienen züchtete und endlich Früchte seiner Obstbäume ernten konnte. Aber auch hier begegnen ihm Entwurzelte, Entheimatete, die ihren Platz in der Dorfgemeinschaft nicht fanden. In das einst schwäbische Dorf waren Ungarn aus der Slowakei, wo sie ihr Hab und Gut lassen mussten, zwangsumgesiedelt worden. Seine Versuche, in dieser Sommerresidenzzeit diese „Jungs“ zu integrieren, scheiterten. Geblieben sind dem Leser aber glaubwürdige Eindrücke aus dem postkommunistischen Leben in einem abgelegenen ungarischen Dorf.

Zurück zum Anfang: Wie tief die Verschleppung in die Bărăgan-Steppe Alt und Jung in dieser Familie geprägt bzw. belastet hat, belegt die ungewöhnliche Situation, dass sowohl der Vater Anton, als auch die Tochter Julia und der Sohn Béla dazu etwas geschrieben haben. Dem Ludwigsburger Pop-Verlag ist zu danken, dass er dieses Buch verlegt hat und der Autor das Erscheinen noch erleben konnte (geboren wurde er am 28.03.1938, gestorben am 8.10.2021). Dank muss ebenso seiner Nichte Andrea Schäffer ausgesprochen werden, die sich in die Denk- und Wesensart des Onkels so eingelebt hat, dass der Leser nicht merkt, dass es eine Übersetzung aus dem Ungarischen ist.