Keine Märchen, sondern Geschichten über hier und jetzt 

Im Zentrum für Erziehungstheater Replika steht das junge Publikum im Mittelpunkt

Das Stück „Foreplay“ handelt von Teenager-Müttern.

Szene aus „RoVegan“, einem Stück über Arbeitsmigration Fotos: Centrul Cultural Replika

„Totul e foarte normal“ ist eine interaktive Theateraufführung für Eltern und Kinder

Ohne ein Wort zu sagen, stellt ein Schauspieler eine Schüssel, die voll mit Papierzetteln ist, vor das Publikum. Niemand steht auf, um einen Zettel aus der Schüssel zu nehmen. Alle warten, dazu aufgefordert zu werden. Und viele hoffen vielleicht insgeheim, dass die Schüssel plötzlich verschwindet, als hätte es sie nie gegeben. Und dann steht endlich jemand auf, geht zur Schüssel, nimmt einen Zettel heraus, öffnet ihn und liest, was darauf steht. 

Im Publikum sitzen Eltern. Auf dem Zettel stehen die Antworten ihrer Kinder auf die Frage: Wo habt ihr das erste Mal von Sex erfahren? Wir befinden uns nicht im Sexualerziehungs-Unterricht, sondern im Theater. Die partizipative Vorstellung unter der Regie von Leta Popescu heißt „Totul e foarte normal“ (Alles ist sehr normal). Partizipativ bedeutet, dass die Theatervorstellung von den Zuschauern mitgestaltet wird. In diesem Fall sind es die Eltern und ihre Kinder, die auf der anderen Seite des Theatersaals sitzen. Beide Zuschauergruppen sind von einem Vorhang getrennt. „Totul e foarte normal“ ist eine etwas andere Aufführung, da die jungen Zuschauer gebeten werden, mit ihren Eltern ins Theater zu kommen. Was die Künstler vom Zentrum für Erziehungstheater Replika aus Bukarest mit dieser Produktion bewirken wollen, ist, dass Kinder offen mit ihren Eltern reden, auch über Themen, die eigentlich zu Hause tabu sind. 

Mutige Themen 

Jette ist gerade zehn Jahre alt geworden. Ihr kleiner Bruder Emil konnte ihren wichtigen Geburtstag nicht mehr miterleben, denn er ist schon mit sechs Jahren an einer unheilbaren Krankheit gestorben.  Eine alleinstehende Mutter hat zwei Söhne, der älteste von ihnen leidet unter einer schweren Form von Autismus. Eigentlich sind Miruna, Irina und Carmen drei ganz normale 16-Jährige. Bis auf eine Sache - alle drei erwarten ein Baby. Ein junger Lehrer ohne Erfahrung bekommt die Aufgabe, einen gewalttätigen Teenager davor zu retten, endgültig aus der Schule zu fliegen. Doch was kann man mit einem Teenager anfangen, dem alles egal ist und der nichts fürchtet? 
Es sind keine Märchen mit Prinzessinen im rosaroten Kleid und tapferen Prinzen, die Drachen bekämpfen. Die Geschichten, die bei Replika auf der Bühne gezeigt werden, haben nicht immer ein Happy End. Und trotzdem ziehen sie Kinder und Jugendliche wie ein Magnet an. 

Vor genau fünf Jahren, am 13. Februar 2015, öffnete das Zentrum für Erziehungstheater Replika auf der Lanariei-Straße im Bukarester Tineretului-Viertel, nicht unweit  der U-Bahn-Station Tineretului. Die Bezeichnung „Zentrum für Erziehungstheater“ mag streng und seriös klingen, in Wirklichkeit geht es dort jedoch immer lustig zu. Replika ist ein unabhängiges Theaterzentrum, das von einem Künstlerverein verwaltet wird und bietet Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, Theateraufführungen zu aktuellen Themen zu besuchen. Oft sind es Themen, die zu Hause und in der Schule tabu sind. Die Stücke handeln nicht von „es war einmal“, sondern von „es passiert jetzt“. 
Workshops, Hospitanzen und Konferenzen 

Doch nicht nur Theateraufführungen werden gezeigt, es gibt auch Filmabende, Workshops, Konferenzen und Treffen mit Lehrern und Erziehern. Oft ist Replika unterwegs und zeigt Stücke in Schulklassen. Und nicht nur professionelle Theatermacher können dort arbeiten, sondern auch Schultheatergruppen- jedes Jahr erhalten zwei Schülerteams die Möglichkeit, bei Replika ein Projekt zu verwirklichen. Ab und zu finden auch szenische Lesungen von Theaterstücken statt.  Letztes Jahr war es eine Auswahl von neuen, ins Rumänische übersetzten Stücken aus Deutschland und Mexiko. „Das Publikum in Rumänien ist noch nicht an Lesungen gewöhnt. Wir haben aber jedes Jahr welche veranstaltet und beim letzten Mal war der Saal so voll wie bei einer Theateraufführung“, meint die Dramatikerin Mihaela Michailov, die von Anfang an im Replika-Team mit dabei ist. Oft hat sie hier eigene Stücke entwickelt, in denen es um Probleme von Kindern im heutigen Rumänien geht: Gewalt in Schulen, Arbeitsmigration, Mobbing. Neben Mihaela gehören der Regisseur Radu Apostol, die Schauspieler Viorel Cojanu, Mihaela Rădescu und Silvana Negruțiu, die Bühnenbildnerin und Architektin Gabi Albu und die Video-Künstlerin Elena Găgeanu zum Team. 

Replika ist ein freier Kulturverein, der nicht vom Staat finanziert wird und trotzdem mit wenig Geld versucht, das zu tun, was staatliche Institutionen nicht schaffen: Man bietet Hospitanzen für junge Künstler an, veranstaltet Projektwettbewerbe und Workshops, zeigt Theateraufführungen in Schulen, setzt viel auf Erziehung durch Theater und bietet Veranstaltungen für ein junges Publikum, das von den staatlichen Institutionen oft ignoriert wird. Das Geld für die Projekte, die hier verwirklicht werden, kommen meistens von der Verwaltung des Nationalen Kulturfonds, wo man zwei Mal im Jahr an einem Projektwettbewerb teilnehmen muss und die Konkurrenz sehr groß ist. 
Replika ist ein unabhängiges Theaterzentrum, wird also nicht direkt vom Staat finanziert. Eine Zeit lang hat das Team pro bono gearbeitet, um Miete, Strom und Heizung bezahlen zu können. Als das Dach des Zentrums bei einem Sturm einstürzte, hat man mittels einer Crowdfunding-Kampagne das nötige Geld für die Reparatur eingesammelt. 

„Manchmal haben Erwachsene mehr zu lernen als Kinder“ 

Als Replika im Jahr 2015 die Türen öffnete, haben die Gründer des Zentrums hauptsächlich an die Bewohner des Tineretului-Viertels gedacht - Kinder und Eltern, die normalerweise nicht im Stadtzentrum ins Theater gehen. Bei allen Vorstellungen ist der Eintritt frei, die Zuschauer können aber auch eine kleine Spende machen, falls ihnen die Aufführung gefallen hat. Und die  Aufführungen fanden schnell ihre Fans: Bei den meisten Vorstellungen ist der Saal voll. „Die meisten Zuschauer, die zum ersten Mal ein Stück bei uns gesehen haben, sind wieder gekommen. Viele von ihnen sind Stammpublikum geworden und manche Teenager helfen uns auch bei unseren täglichen Aktivitäten“, erklärt Radu Apostol. 

Im Zentrum auf der Lânăriei-Straße gibt es noch etwas, was es leider in den meisten Staatstheatern nicht gibt: Fast alle Theatertexte, aber auch die Arbeitsmethoden, die dahinter stecken, werden in Büchern herausgebracht, die man kostenlos (oder ggf. gegen eine Spende) mitnehmen kann. Das ist sehr praktisch - nachdem man eine Aufführung sieht, kann man zu Hause das Stück noch einmal lesen und auch mehr Hintergrundinformationen zum Thema erhalten. 
Es ist kein Wunder, dass die Zuschauer gerne wiederkommen. Replika steht für eine direkte Kommunikation mit dem Publikum. Vor jeder Vorstellung werden die Leute von den Künstlern in den Saal gebeten und nach der Vorstellung plaudert man noch lange miteinan-der. Nach den meisten Aufführungen finden Publikumsgespräche statt und die jungen Zuschauer kommen zu Wort. Oft handeln die Stücke, die hier gezeigt werden, von Tabu-Themen wie Sexualerziehung („Alles ist sehr normal“), Cyber Porn und Cyber Bullying ( „Boyz and Girlz“), Teenager-Müttern („Foreplay“), dem Sterben eines geliebten Menschen („Schlafen Fische?“), Rassentoleranz (Maskar), Arbeitsmigration der Eltern und ihre Folgen („RoVegan“), häuslicher Gewalt und Schulabbruch („Die Familie ohne Zucker“). Die Produktionen des Replika-Theaters wenden sich natürlich auch an Erwachsene. „Manchmal haben Erwachsene mehr zu lernen als Kinder“, meinen die Gründer von Replika. 

Kinder- und Jugendtheater sollte keine Abstriche bei der Qualität machen. Das hat auch Replika in den fünf Jahren seit der Gründung bewiesen - die Produktionen werden jährlich zu wichtigen Theaterfestivals gezeigt und 2018 wurde dem Zentrum ein Spezialpreis bei der UNITER-Gala verliehen. 
Am Ende der Vorstellung „Totul e foarte normal“ soll das Publikum wählen, ob es damit einverstanden ist, dass Sexualkunde in den Schulunterricht eingeführt wird. Die meisten Zuschauer, sowohl in der Gruppe der Kinder als auch in der Gruppe der Eltern, stimmen für „ja“. Nach dem Schlussapplaus verlassen sie zusammen den Theatersaal. „Ich weiß nicht, für wie viele von ihnen der Dialog aus dem Theatersaal zu Hause weitergeht, aber ich hoffe, für viele“, schreibt Alexa Băcanu, die das Stück geschrieben hat, im Vorwort des Buches, das Replika gleich nach der Premiere herausgegeben hat, über die Aufführung. Die Antwort kommt von Regisseur Radu Apostol: „Wir spielen ‘Totul e foarte normal’ seit fast zwei Jahren und immer wieder bekommen wir E-Mails, in denen Eltern uns schreiben, dass sie jetzt besser mit ihren Kindern kommunizieren“.

Mehr über die Projekte des Zentrums für Erziehungstheater Replika gibt es auf der Webseite centrulreplika.com