Keinen  „Fortschritt können“

„Was würden Sie denn tun, wenn Ihr Nachbar von der gegenüberliegenden Straßenseite sich auf den Balkon seiner Wohnung setzte, sein Söhnchen auf seine Knie nähme und mit einer Maschinenpistole das Feuer auf Sie eröffnet? Was würden Sie tun, wenn der Nachbar von Gegenüber aus dem Keller seines Hauses einen Tunnel unter ihr Haus graben würde und eine Bombe legt? Oder wenn er Ihre Familie kidnappt?“ Diese Fragen stellte Amos Oz, der 2018 79-jährig starb und zu den linksliberalen Intellektuellen Israels zu zählen ist, die durchaus etwas vom Auseinanderhalten von Links und Rechts, vom Unterschied zwischen Gemäßigtsein und Radikalität verstehen. Oz, ein Mitglied der „Peace Now“-Bewegung, war ein überzeugter Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung, die (noch) von einer knappen Mehrheit der internationalen Gemeinschaft vertreten zu werden scheint. Oz war auch gegen die schleichende Kolonisierung palästinensischer Gebiete, die von Israel gefördert bzw. geduldet wird, Er war aber auch der Überzeugung, dass ein Frieden im Nahen Osten nur durch schrittweise akzeptierte Kompromisse beider Seiten möglich sein wird. Zum 40-Tage-Krieg in Gaza (2014 , Operation Mivtza Tzuk Eitan) schrieb er: „In beiden Fällen hat Israel zu verlieren. Je mehr israelische Opfer es geben wird, umso besser für die Hamas. Je mehr palästinensische Opfer es geben wird, umso besser für die Hamas.“ Das klingt nach jüdischer Weisheit, aber auch nach einem Spruch, der dem Römer Tertulian zuschrieben wird: „Ich glaube, weil es so absurd ist.“

Amin Maalouf, ein französisch-libanesischer Schriftsteller (der ziemlich eifrig ins Rumänische übersetzt wird und Mitglied der Académie Francaise ist), veröffentlichte 2019 einen Essayband unter dem Titel „Schiffbruch der Zivilisationen“. Darin erläutert Maalouf unter anderem, warum der arabisch-israelische Konflikt Gift für den ganzen Erdball ist. Vor allem aber für die arabische Welt, die wegen diesem Konflikt in einer Selbstblockierung erstarrt ist. Einerseits geht es um das Fehlen jedweder umsetzbaren Lösung (was der Schwiegersohn des Wirrkopfs Trump in die Wege geleitet hatte in der Golfregion, war eine Scheinlösung), es geht um das Gefühl grenzenloser Erniedrigung, das den Palästinensern tagtäglich aufoktroyiert wird, es geht um den Druck, der auf der Zukunft beider Völker lastet, meint Maalouf aus seinem sicheren Frankreich. Maalouf: „Es ist dies – neben vielem anderen – der Konflikt, der die arabische Welt daran hindert, eine Aussöhnung zwischen dem Abendland und dem Islam anzubahnen, jener Konflikt, der die Menschheit der Gegenwart  abbremst und zurückstellt auf identitäre Versteifungen, auf religiösen Fanatismus, was wir mit dem Begriff, den ein anderer lanciert hat, Zusammenstoß der Zivilisationen nennen. Hauptsächlich wegen diesem Konflikt stagniert die Menschheit in einer Phase des moralischen Rückschritts, kann keinen Fortschritt.“

Der Westen, die EU, kommt mit der Situation überhaupt nicht zurecht. Dabei spielt wohl sicher die hohe Zahl an Arabern mit, die in Ländern wie Frankreich (die meisten – Frankreich hat auch die größte jüdische Gemeinschaft Europas) und Deutschland oder Italien leben und denen niemand ihre Sympathien für die Palästinenser verdenken kann. Selbstverständlich spielt auch das historische Schuldgefühl (der Deutschen) gegenüber den Juden mit, das nie zum Erlöschen kommen sollte (und es wohl auch nie wird). Der Schock, die Verzweiflung, das Entsetzen von Politik und öffentlicher Meinung, als bei den jüngsten Demos „Tod den Juden“ geschrien wurde, ist sicher auch ein Ausdruck der Hilfslosigkeit angesichts eines Konfliktherds, wo einerseits Steine von Kindern gegen Panzer geworfen werden, andrerseits Raketen auf Zivilisten abgefeuert werden – wie es der „Nachbar“ des A. Oz von seinem Balkon mit der Maschinenpistole tut.