Kleine Welten am Rande der Stadt

Der Fotograf Petruț Călinescu erforscht die Bukarester Peripherie

Fotos: Petruț Călinescu

Folgender Artikel wurde ursprünglich für das Buch „Fotos für die Pressefreiheit 2019“ verfasst, herausgegeben von „Reporter ohne Grenzen“. Nach einem Interview mit dem Fotografen Petruț Călinescu habe ich auf Wunsch der Berliner Redaktion den Artikel aus der Ich-Form des Fotografen geschrieben. In den von Reporter ohne Grenzen herausgegebenen Fotobüchern kommen nicht nur Bilder, sondern auch Fotografen zur Sprache: Sie erzählen über ihre Arbeit, darüber, was sie antreibt und bewegt, über die Bedingungen, unter denen Fotografen und Journalisten arbeiten und wie sich das in den vergangenen Jahren geändert hat.

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Rumäniens Hauptstadt wächst unentwegt, wild und ungestüm. Am Stadtrand von Bukarest sind die Träume der Menschen aus Beton. In den Aufnahmen von Petruț Călinescu offenbart sich diese Gegend als skurrile Zuflucht – für Familien, Schäfer und Eisangler.

Wer seine Kindheit im kommunistischen Rumänien der 1970er und 1980er Jahre erlebt hat, wuchs meistens am Stadtrand auf: In den typischen Wohnblocks mit genau vier Etagen, davor Bürgersteige voller Kreidezeichnungen und im Hof Metallgestänge, an denen samstags die Teppiche ausgeklopft wurden. Hinter den Plattenbauten lag das weite Feld. Dort spielten wir und waren viel draußen. Um den Hals trugen wir Kinder alle die Wohnungsschlüssel an einer Schnur.

Der Ort meiner Kindheit war an der Schwarzmeerküste in Constanța, aber die Wohnblockviertel sahen überall im Land gleich aus. Heute entstehen auf den Feldern, wo wir einst Verstecken spielten, neue Viertel. Die Städte wachsen und wachsen. Vor 20 Jahren bin ich in die Hauptstadt Bukarest gezogen, aber auch dort immer am Stadtrand geblieben. Diese Peripherie von Bukarest ist eine Welt voller Kontraste: Einige Viertel sind hochmodern, anders-wo sieht es aus wie in einer längst verschollenen Dorfwelt.

In diese Welt habe ich mich jedes Mal mit Freude auf Entdeckungsreise begeben. Vielleicht, weil sie mir so nahe steht. Nur wer selbst in solch einer Gegend aufgewachsen ist, kann mich verstehen.

Das Projekt „Periferia B

Denn in der Randlage triffst du sie alle: Schäfer, Fischer, Liebespaare, Lastwagenfahrer, aber auch Leute,  die vor ihren Wohnblocks Heilpflanzen pflücken oder Alteisen einsammeln. Die Großstadt zieht die Menschen an oder treibt sie in die Flucht. Hier am Stadtrand entstehen eigene Welten, die mich faszinieren. Für mein Fotografie-Projekt „Periferia B“ habe ich sie zusammen mit meiner Frau Ioana Călinescu intensiv erforscht. Sie hat dafür Interviews geführt und ich habe fotografiert - aber getrennt voneinander. Gemeinsam mit zwei anderen Journalisten haben wir in Bukarest vor drei Jahren ein Zentrum für Dokumentarfotografie gegründet. Zuvor waren wir alle im Nachrichtengeschäft, ich selbst habe jahrelang als Fotograf bei verschiedenen Tageszeitungen gearbeitet. Für mehrere Fotografieprojekte gelang es uns, öffentliche Gelder aufzutreiben, und so konnten wir „Periferia B“ finanzieren. In einer Studie habe ich einmal gelesen, dass Bukarest bei der Verkehrsdichte auf dem vierten Platz liegen soll, nach New Mexiko, Bangkok, Jakarta und dem chinesischen Chongqing. Manche Leute verbringen bis zu vier Stunden im Auto, um von ihren Wohnungen am Stadtrand zur Arbeit ins Zentrum zu gelangen – und wieder zurück. Trotzdem ist die Randlage zum Wohnen begehrt. Natürlich hängt das mit der Landflucht zusammen. Während Bukarest immer mehr wächst, schrumpft die Bevölkerung in den Dörfern.

Meistens sind es die jungen Leute, die gehen. Auf der Suche nach Arbeit ziehen sie an die Peripherie von Bukarest oder verlassen sogar das Land.

Bei der Arbeit an meinem Projekt wurde ich mitunter von Straßenhunden verfolgt und erlebte bei den Entdeckungstouren auch viele Pannen. Es gab Tage, an denen alles schief lief. Am Stadtrand trifft man die berühmte rumänische Gastfreundschaft selten an, hier wird man nicht mit offenen Armen empfangen. Im Gegenteil, hier hat jeder etwas zu verbergen: Schäfer lassen ihre Tiere an unerlaubten Orten weiden, Bauarbeiter stehlen Materialien von ihren Baustellen, Obdachlose haben Angst, aus provisorischen Bleiben vertrieben zu werden und die Reichen knallen dir sowieso die Tür vor der Nase zu. „Wer hat dich geschickt?“, das war die Frage, die ich am meisten zu hören bekam. Oft wurde ich gebeten, nicht zu fotografieren. Oder man sagte mir, dass ich auf der Stelle verschwinden soll. Wirklich gefährlich war es aber nie.

Mich fasziniert die Art und Weise, wie der Mensch sein Umfeld verwandelt. In Rumäniens Großstädten wird seit Jahren wie wild gebaut. Immer wieder werden neue Wohnblocks hochgezogen wie riesige Pflanzen, die ganz plötzlich und scheinbar über Nacht auftauchen. Beton und Eisen werden so gut verkauft wie zuletzt 2007, also im Jahr vor der Finanzkrise. Das hat mir ein Bukarester Immobilienentwickler verraten, er nennt sich selbst „der Shogun“. Ich habe ihn auf einem leeren Feld fotografiert. Dort wird demnächst ein neues Viertel entstehen und einige hundert Familien werden sich den Traum von der eigenen Wohnung erfüllen. Viele von ihnen gehören zur Generation der einstigen Schlüsselkinder, die auf den Feldern hinter den Wohnblocks spielten.

Es ist eine Opfergeneration, denn als Staatspräsident Nicolae Ceaușescu und mit ihm der Kommunismus stürzte, waren sie Kinder. Ihre Jugend ist vom postkommunistischen Übergang der 1990er Jahre geprägt. Jetzt fangen sie an, für ein besseres Leben zu kämpfen. In Rumänien bedeutet das vor allem, eine eigene Wohnung zu besitzen. EU-Statistiken besagen, dass schon im Jahr 2015 rund 96 Prozent aller Rumänen eine eigene Wohnung hatten. Mit 30 Jahren nimmt man dafür einen Kredit auf, den man allerdings erst mit 60 fertig abbezahlt haben kann. Am Stadtrand tragen diese Träume schon viele Namen: American Village und Diamond Residence oder Flamingo Park und Confort City. Aber die  Wohnungen sind bei Weitem nicht so luxuriös, wie ihre Namen vermuten lassen.

Hier liegt ein Elefant begraben

Doch scheinen sie die Hoffnung auf ein schönes Leben zu wecken. Wer so eine Wohnung am Stadtrand erwirbt, folgt der Sehnsucht nach frischer Luft, Natur und Ruhe. Doch die Luft riecht oft nach Müll und die Ruhe wird von Baulärm gestört.

Eine Bewohnerin von Confort City hat meiner Frau erzählt, dass es noch keinen Gasanschluss gab, als sie einzog. Deshalb hat sie ihr Badewasser einige Wochen mit einem Campingkocher erhitzt. In der Küche gab es weder Herd, noch Kühlschrank. Sie ernährte sich mit Fischkonserven. Aber sie war glücklich, eine eigene Wohnung zu haben. Hier, am Rande der Stadt, konnte ich die starke Beziehung zwischen Mensch und Tier beobachten. So weiden zwischen den neuen Blocks von Confort City Schafe und Ziegen. Bei meinen Recherchen erzählte mir ein 85-jähriger Mann, dass von seinen 2000 Schafen nur noch 70 übrig geblieben sind. Seine Kinder werden nicht weitermachen. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es diese Bukarester Tradition der urbanen Schäfer, die nun jedoch zu Ende geht.

Bei einer der Wohnanlagen liegt sogar ein Zirkuselefant begraben, der auf einem Privatfriedhof für Tiere bestattet wurde. Bei seiner Beerdigung waren Fernsehteams dabei, die alles festhielten. Auf dem Friedhof liegen sonst vor allem Hunde, aber auch zwei Goldfische fanden hier ihre letzte Ruhe. Besucher kommen jedes Wochenende mit Blumen.

In einem Block lebt ein alter Mann, der auf seinem Balkon zahlreiche Brieftauben hält. Seine Ehefrau erinnert sich noch gut daran, wie sie bei der Hochzeit im Brautkleid auf ihn warten musste, weil ihn ein Brieftaubenwettbewerb aufgehalten hatte.

Auch Bären trifft man, zur Weihnachtszeit. Zum Glück sind es keine echten Bären, sondern nur große Scharen von jungen Leuten im Bärenkostüm, die durch die Gegend ziehen, trommeln und rufen. Sie wollen die bösen Geister vertreiben. Der „Bärentanz“ ist eine dörfliche Tradition, doch in der Großstadt kann man damit mehr Geld verdienen. Die Leute aus den Wohnblocks stecken Geldscheine in Zigarettenschachteln und werfen sie aus ihren Fenstern, als Dank für die Show. Die Bärentänzer kommen aus der Nähe von Bacău im Osten Rumäniens. Sie übernachten in einem Wohnheim und streifen tagsüber durch die ganze Stadt.

Zauber und Magie am Stadtrand

Im Sommer entwickelt Bukarest südliches Flair. Auf den begrünten Verkehrsinseln liegen die Leute in Badehose oder Bikini auf ihren Handtüchern, also wie am Strand, in der Sonne. In den Seen der Stadt gehen sie schwimmen oder angeln. In einer Villa zwischen den Wohnblocks im Viertel Bucureștii Noi wohnt noch die selbst ernannte „Königin der weißen Magie“, Maria Campina, die jeder kennt. Ich habe sie mittlerweile mehrfach besucht. Wer an ihre übersinnlichen Kräfte glaubt, zahlt viel Geld, in der Hoffnung, dass der Ehemann mit dem Trinken aufhört oder der verschollene Geliebte wieder auftaucht. Maria trägt immer eine goldene Krone. An einer Wand ihrer Villa hängt ein Foto, das sie neben Queen Elisabeth zeigt. Natürlich wurden die beiden niemals zusammen fotografiert, aber die Fälschung ist so gut, dass man leicht darauf hereinfällt.

All meine Fotos vom Stadtrand haben wir schließlich in einer Ausstellung gezeigt. Dazu brachten wir die einzige Nummer der Zeitschrift „Periferia B“ heraus, in der wir auch Informationen zu den wichtigsten Bildern veröffentlicht haben. Meine Fotos stoßen auf reges Interesse, aber sobald ich ihren Preis nenne, schreckt das viele Leute ab. Einige Bilder habe ich deshalb verschenkt. Die Leute in Rumänien sind noch nicht bereit, für ein gutes Foto zu zahlen. In den Wohnzimmern über dem Sofa hängen Bilder, die man im Internet kaufen kann.

Mein Lieblingsfoto ist eines, das die erleuchteten Fenster eines Wohnblocks am Abend zeigt, hier in Bukarest. Weil es so vertraut ist, liegt darin eine gewisse Schönheit.