„Komm! ins Offene, Freund!“

Rüdiger Safranskis Biographie zum 250. Geburtstag von Friedrich Hölderlin

Rüdiger Safranski ist durch seine zahlreichen Biographien über deutsche Dichter und Philosophen bekannt geworden, u. a. über Goethe und Schiller.

Am vergangenen Freitag vor exakt 250 Jahren wurde im württembergischen Lauffen am Neckar einer der größten Dichter deutscher Zunge geboren: Johann Christian Friedrich Hölderlin. Das Jubiläumsdatum, das Hölderlin mit dem im selben Jahr in Stuttgart geborenen Jugendfreund und Tübinger Kommilitonen, dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, sowie mit dem ebenfalls im Jahre 1770 in Bonn auf die Welt gekommenen Komponisten Ludwig van Beethoven teilt, bildet den aktuellen Anlass zu einer Flut von neu erschienenen Publikationen, die sich dem Leben wie dem Werk von Friedrich Hölderlin widmen, sei es in Form von Biographien, von Romanen, von Editionen seiner Dichtungen und Briefe oder seiner theoretischen Schriften.

So beschäftigt sich etwa eine im Psychiatrie Verlag erschienene Studie mit dem „Klischee vom umnachteten Genie im Turm“, und Erich Witschke erzählt im fiktionalen Medium des Romans die Geschichte der „Männerfreundschaft“ zwischen Hölderlin, Hegel und Schelling, den Stubengenossen aus Tübinger Stiftszeiten. Thomas Knubben begleitet den tief enttäuschten und seelisch zerrütteten Dichter auf seiner „Winterreise“ nach Bordeaux 1801/1802, und der Slam-Poet Laander Karuso rückt „Hoelderlin“ in die Welt von Facebook und World Wide Web. Eine Publikation des Urachhauses befasst sich mit „Hölderlins griechischer Seele“ und auch Detektivgeschichten nehmen Hölderlin aufs Korn wie etwa der Stuttgarter Krimi „Hölderlins Fluch“ von Anne-Barb Hertkorn.

Wer sich freilich aus erster Hand, in schöner und verständlicher Sprache, dabei zugleich auf höchstem intellektuellen Niveau über die reale historische Gestalt sowie den Dichter und Denker Friedrich Hölderlin informieren möchte, ist wohl bei Rüdiger Safranski am besten aufgehoben. Der vielfach, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis, ausgezeichnete deutsche Literaturwissenschaftler und Philosoph, der bereits durch seine biographischen Werke über Goethe, Schiller und die Romantik sowie durch seine philosophischen Studien über Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger hervorgetreten ist, hat vor Kurzem eine Hölderlin-Biographie vorgelegt, die biographisches Erzählen, Lektüre von Briefen, Deutung von literarischen Werken, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Forschung sowie die historische und geistesgeschichtliche Verortung des Menschen und Dichters Friedrich Hölderlin auf höchst gelungene Weise miteinander verbindet.

Bereits im Vorwort zu seiner siebzehn Kapitel umfassenden Hölderlin-Biographie betont Rüdiger Safranski die Leidenschaft und den Enthusiasmus, ja die gleichsam göttliche Begeisterung, welche Hölderlins Leben und Dichten prägten. „Poesie war für Hölderlin Lebensmittel, im höchsten Sinne und in Einsamkeit und Verbundenheit.“ (S. 11) Rüdiger Safranski zeichnet in den ersten beiden Kapiteln einfühlsam Hölderlins Kindheit und Jugend nach, seine ersten literarischen Versuche und seinen frühen poetischen Ehrgeiz, dereinst zum ruhmreichen und lorbeerbekränzten Dichter zu avancieren.
Dem Theologiestudenten und seiner Freundschaft mit dem gleichaltrigen Hegel wie auch mit dem fünf Jahre jüngeren Wunderkind Schelling im Tübinger Stift widmet sich Safranski im dritten Kapitel seiner Hölderlin-Biographie. Der Freundschaftsbund hatte das Losungswort „Reich Gottes“, wobei in die von den Dreien propagierte Religion der Liebe auch politische Sympathien für die Französische Revolution mit hineinspielten. In dieser gemeinsamen Studienzeit von 1788 bis 1793 wurden die Grundlagen gelegt für die großen philosophischen Systeme des Deutschen Idealismus, die jeweils unterschiedliche Begriffe ins Zentrum ihres Einheitsdenkens rückten: Hegel den Geist, Schelling die Natur, Fichte das Ich. Hölderlins Begriff der Schönheit wie auch Schillers Begriff der Freude („schöner Götterfunken“) sind in diesem Zusammenhang gleichfalls zu erwähnen.

Safranski zeichnet nicht nur die philosophischen Hintergründe von Hölderlins Denken nach, das vor allem von Kant ausgeht, sondern analysiert auch seine frühe hymnische Dichtung, die auf Schillers Lyrik und ihrer „Gräkomanie“, ihrer Begeisterung für das griechische Altertum, basiert. Schiller, der Hölderlin des Öfteren als seinen „liebsten Schwaben“ (S. 109) bezeichnete, nahm den jungen Theologen und Dichter, der kein Pfarrer werden wollte, denn auch unter seine Fittiche und vermittelte ihm 1793 eine Hauslehrerstelle bei Charlotte von Kalb ganz in der Nähe von Jena. In Jena kommt es dann auch im November 1794 zu jenem denkwürdigen Besuch bei Schiller, bei dem der aufgeregte und ganz auf Schiller fixierte Hölderlin einen weiteren in Schillers Empfangszimmer anwesenden Gast, der mit dem jungen Dichter sogar ein Gespräch anknüpfen möchte, schlichtweg nicht beachtet. Erst später am Tage, im Jenaer Professorenclub, erfährt er, dass dieser Mann Goethe war.

Die Arbeit an Hölderlins Roman „Hyperion“ wird durch Hölderlins Flucht aus Jena 1795 unterbrochen, die Rüdiger Safranski als eine Flucht vor Schiller, aber auch als Flucht vor der Philosophie deutet. Der übermächtige Dichtungsheros Schiller nährt beständig den Minderwertigkeitskomplex Hölderlins, der in Schillers Gegenwart immer nur spürt, dass er diesem „nichts seyn konnte“ (S. 126), und die Philosophie führt ihn, gerade weil sie ihn so sehr gefangen nimmt, von seiner eigentlichen Berufung ab: derjenigen zum Dichter.

Hölderlins nächste Hofmeisterstelle, die er Anfang 1796 im Hause des Frankfurter Bankiers Gontard antritt, wird dann schicksalhaft für Hölderlins ganzes späteres Leben. Gontards Ehefrau Susette, eine auffallende Schönheit der guten Frankfurter Gesellschaft, wird Hölderlins Geliebte, die er unter dem antiken Namen Diotima verehrt und in vielen seiner Gedichte besingt. Bereits in seinem Roman „Hyperion“ hatte Hölderlin der aus Platons „Symposion“ bekannten Gestalt als Verkörperung des Eros und der Schönheit ein Denkmal gesetzt. Dass der Liebe zu Susette keine Dauer beschieden sein konnte, war nicht nur dem eifersüchtigen Ehemann klar. Ob Gontard Hölderlin nun geohrfeigt haben mag oder nicht, jedenfalls kam es im September 1798 zum Eklat, in dessen Folge Hölderlin überstürzt das Haus des Bankiers auf immer verließ. Noch härter als dieser Abschied traf ihn dann der frühe Tod Susettes im Juni 1802.

Weitere Stationen im Leben Hölderlins, das Safranski in seiner Biographie minutiös nachzeichnet, sind dann der Aufenthalt Hölderlins in Homburg in der Nähe seines Freundes Sinclair, die Arbeit an seinem „Empedokles“-Drama, sein gescheitertes Zeitschriftenprojekt, seine großen Hymnen und Elegien (der Elegie „Brod und Wein“ widmet Safranski 13 Seiten in seiner Biographie!), die Winterreise nach Bordeaux, seine „Sophokles“-Übersetzungen, der Hochverratsprozess gegen Sinclair, bei dem auch Hölderlin ins Fadenkreuz gerät, und schließlich der Abtransport Hölderlins in die Psychiatrie im September 1806.

Nach einem acht Monate währenden Aufenthalt im Tübinger Klinikum wurde der als unheilbar diagnostizierte Dichter vom Tübinger Schreinermeister Zimmer in sein Haus aufgenommen, wo Hölderlin die restlichen 36 Jahre seines Lebens am Neckarufer im Zimmer eines Turms verbrachte, der heute den Namen „Hölderlin-Turm“ trägt. Am 7. Juni 1843 starb Friedrich Hölderlin. Bei seiner Beerdigung, die bei Sturm und Regen stattfand, folgte kein Professor seinem Sarg, aber hundert Studenten.

Das letzte Kapitel von Rüdiger Safranskis Hölderlin-Biographie schildert den Nachruhm des Dichters: seine Entdeckung durch die Romantiker und das Junge Deutschland, seine Wirkung auf Nietzsche, Hellingrath, George und Heidegger, seinen Durchbruch, seinen Missbrauch durch die Nationalsozialisten und seine Wirkung in der Gegenwart, in der Hölderlin, wie Safranski meint, merkwürdig fern gerückt scheint: „Erreicht er uns noch, und erreichen wir ihn? Schön wäre es.“ (S. 307) Ein ausführliches Literaturverzeichnis, eine umfangreiche Zeittafel zum Leben Hölderlins sowie ein Personen- und Werkregister runden Rüdiger Safranskis gelehrte und lesenswerte Hölderlin-Biographie gelungen ab.


Rüdiger Safranski: „Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund!“ Biographie, München: Carl Hanser 2019, 336 S., ISBN 978-3-446-26408-3, 28 Euro.