Kontroverse Gegenwartsfragen im Blick von Theaterfachleuten

Regisseur Emmanuel Demarcy-Mota im Gespräch mit dem Theaterwissenschaftler George Banu

Emmanuel Demarcy-Mota (links) an George Banu und das Publikum des FITS 2019: „Im 21. Jahrhundert wird sich die Gewichtung der Realisierung von Raum und Zeit verändern. Letztere wird an Bedeutung verlieren, ersterer Begriff wird unser Lebensort sein. Ich freue mich darauf!“ Foto: der Verfasser

Frankreich und Rumänien stehen aktuell in der öffentlichen Bringschuld eines Partnerschaftsvertrages achtmonatiger Dauer, der in den Frühlings- und Sommermonaten vergangenen Jahres von kulturellen Vertretungseinrichtungen beider EU-Mitgliedsstaaten ausgearbeitet und am 27. November 2018 in Paris amtlich besiegelt wurde. Emmanuel Macron und Klaus Johannis stehen dem Saisonbündnis als Schirmherren vor. Theaterbeauftragte jener traditionsreichen Republik des europäischen Abendlandes, die dem alten Kontinent und der aus ihm selbst hervorgegangenen Welt Namen zeitloser Bedeutung wie beispielsweise René Descartes, Marcel Proust oder den als Molière bekannten Jean-Baptiste Poquelin geschenkt hat und anlässlich der Zeitenwende des Zweiten Weltkrieges neue Wahlheimat der illustren Persönlichkeiten rumänischer Herkunft Eugen Ionesco, Emil Cioran, Virgil Ierunca und Monica Lovinescu wurde, gingen im Vorfeld der Unterzeichnung des Partnerschaftsvertrages die Verpflichtung ein, Frankreichs Gastgeberrolle bis Mitte April 2019 inhaltlich auszugestalten. Spitzenereignis der kulturellen Anwesenheit Rumäniens in der Hauptstadt an der Seine war der Dezember 2018 erfolgte Gastaufenthalt eines Schauspielensembles vonseiten des Radu-Stanca-Theaters Hermannstadt/Sibiu (TNRS) am Théâtre de la Ville Paris. Florin Coșuleț, Ștefan Tunsoiu, Marius Turdeanu, Mariana Mihu, Dana Taloș und Ofelia Popii trugen maßgeblich zum sechsmaligen Auftrittserfolg einer Delegation von dreizehn Hermannstädter Interpreten im Theaterhaus an der Place des Abbesses bei.

Seit dem 18. April ist Rumänien offizieller Veranstaltungsort des binationalen Saisonbündnisses kultureller Prägung bis einschließlich Sonntag, den 14. Juli. Folglich fanden sich charakteristische Angebote französischer Hausrezeptur zu wichtigem Anteil auf dem überreichen Programm der diesjährigen Auflage des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt (FITS) wieder. Theaterkritiker George Banu (Jahrgang 1943) und Literat Matei Vișniec (Jahrgang 1956), deren Biografien exemplarisch für den Fortbestand Frankreichs als opportune Auffangheimat führender Intellektueller Rumäniens stehen, begleiteten das FITS 2019 (14.-23. Juni) durchgängig mittels ihrer persönlichen Anwesenheit in Zuschauerreihen und Vortragsräumen.

Dienstag, am 18. Juni, sowie Mittwoch, am 19. Juni, feierten ein mehrere Altersstufen vereinendes Schauspielensemble französischer Interpreten und Emmanuel Demarcy-Mota, führender Theaterregisseur und seit September 2008 Intendant des Théâtre de la Ville Paris, zweifach markanten Erfolg in der Faust-Halle der Kulturfabrik Hermannstadt mit der Inszenierung des Dramas „Belagerungszustand“ (L‘état de siège) von Albert Camus in französischer Originalsprache. Mittags vor dem zweiten Vorstellungsabend empfing George Banu seinen Freund und Theatermitstreiter Emmanuel Demarcy-Mota in der vorübergehend auf unbestimmte Frist geschlossenen Habitus-Buchhandlung am Kleinen Ring/Piața Mică zu einem freien Vortrag in französischer Sprache. Kopfhörerausstattung und simultane Übersetzungsdienste vorab engagierter Dolmetscherinnen in rumänischer und englischer Sprache funktionierten reibungslos und eröffneten die Gelegenheit, künstlerische wie sozialpolitische Zukunftsvorstellungen des Theatermachers Emmanuel Demarcy-Mota deutlich zu erahnen.

„Theater ist nichts anderes als ein Filter, in den menschliche Wahrnehmungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeitgleich einfließen. Mir ist es niemals wichtig, feste Ensembles aufzustellen, sondern mit humanen Einzellebewesen zu arbeiten. Ich gehe stets den Weg gemischter Alterszusammensetzung. Jeder Interpret bringt seine eigene Herkunft und sein eigenes Erwachsenwerden in die Schauspielwerkstatt. Wenn mir jemand von keinen Streitphasen mit seinen Eltern berichten kann oder auch sonst niemals Situationen heftiger Schwierigkeit auf eigener Haut erfahren hat, stimmt etwas nicht. All die Probleme, die unseren Alltag bestimmen, will ich auch im Theater debattiert haben. Brächte die Welt nur Ordnung mit sich, würde ich kein Theater machen“, so Emmanuel Demarcy-Mota auf dem Vortragspodium des FITS.

George Banu wurde in Buz˛u geboren und lebt seit 1973 in Paris. „Als Schüler im kommunistischen Rumänien habe ich seinerzeit dem Lehrer des Gegenstandes Russisch gesagt, wie übel ich diese Sprache finde. Worauf dieser Lehrer verständnisvoll einwarf, dass Russisch mir allein deswegen nicht gefällt, weil Russland für mich und mein Land Besatzungsmacht ist.“ Auch Kommunikationsbahnen zwischen Frankreich und Deutschland sind nicht frei von unterschwelligen Anfeindungen, wie Emmanuel Demarcy-Mota vergleichend anführt: „In Paris führe ich auch Projekte mit Schauspielern von überall her aus Europa durch, arbeite an einem Theater der Nationen. Absichtlich habe ich einen namhaften Gast aus Deutschland eingeladen, der in Frankreichs Hauptstadt auf Deutsch zu uns sprach. Einfach aus dem Grund, um allen zu beweisen, dass die deutsche Sprache tatsächlich etwas Besonderes ist.“

Im Diskurs beider Referenten spielt auch politische Verantwortung eine Rolle. Ob er als Regisseur die Einladung zur Verantwortlichkeit gegenüber vorangegangener Theaterentwicklungen und Einladungen im Bereich Zukunftswunschträume simultan wahrnehmen und erfüllen könne, wollte George Banu von seinem Gesprächspartner wissen. „Wenn wir uns die Stimmergebnisse der jüngsten Europaparlamentswahlen vor Augen führen, zeichnet sich klar ab, wohin sich unser Zeitgeschehen entwickeln könnte. Dass Marine Le Pen und ihre Partei in Frankreich die Wahl gewonnen haben, ist nichts weiter als ein vorübergehender Status, der, und das glaube ich fest, die Zeit nicht überdauern wird. Trotzdem müssen wir alle im Kulturwesen aufpassen, nicht dauerhaft von kurzfristigen Richtungsentwicklungen abhängig zu sein. Überdies bin ich davon überzeugt, dass durch Migration hervorgerufene Veränderungen uns im Theater noch sehr nützlich werden könnten. Dieser Kontext kann das Theater des 21. Jahrhundert nur noch interessanter als bisher auftreten lassen. Hamlet beispielsweise ist eine der ganz großen Theaterfiguren. Er ist physisch tot, und doch wartet er immer gespannt darauf, neu sprechen zu dürfen, weil er bis dato nicht vergessen wurde. Sein Dilemma ist zugleich auch unser Dilemma. Wenn die Menschheit irgendwann einmal auf andere Planeten umzieht, wird sie Personen wie Hamlet mitnehmen. Unter der Bedingung, dass wir uns um die Schauspielszene kümmern, wird es ihr zunehmend besser gehen“, so Intendant Emmanuel Demarcy-Mota, für den Theater ein Quartier menschlicher Verletzlichkeit ist.