Kultur auch und gerade in pandemischer Zeit

Buchvorstellung in Hermannstadt nahm losen Faden wieder auf

„Kultur deutet auf das Resultat von Bildung. Oder auf ihr Fehlen.“ Elena Lotrean, Gründerin und Direktorin der Finnischen Schule Hermannstadt, warb auf der Buchvorstellung einmal mehr für ihre Zukunftsvision.
Foto: der Verfasser

Dass die Anfang 2020 ausgebrochene Pandemie selbstverständlich auch Rumänien die Sprache verschlagen hat und Menschen im Allgemeinen einen schier brennenden Durst nach Begegnung und Kommunikation von Gesicht zu Gesicht verspüren, wie man ihn noch vor zwei Jahren kaum für möglich gehalten hatte, ist nichts weiter als eine Binsenweisheit. Aber sie drängt sich unglaublich vehement auf. Außerdem bietet die Welt bereits so viel möglichen und unmöglichen Gesprächsstoff, dass die Frage nach Prioritärem und Zweitrangigem es bestimmt gut gebrauchen kann, neu gestellt zu werden.

Das Bedürfnis, einander Spannendes mitzuteilen, ist höher als jemals zuvor. Was verdient allgemeine Aufmerksamkeit und was nicht? Für Einzelne superleicht zu beantworten. Doch sobald nicht nur Individuen, sondern auch kleine bis große Gesellschaften auf sich selbst angewiesen und zurückgeworfen sind, hört es sich mit dem Konsens gerne mal rasch auf. In Zeiten wie gerade heute auf der Suche nach Rettung aus weltumspannender Dunkelkammer kann es einem glatt passieren, klare Neins zum Kompromiss von genau dort zu vernehmen, wo man sie nie und nimmer vermutet hätte.Künstler und für Kultur Verantwortliche haben es zwar nicht genauso schwer wie Ärzte, doch ihr Bedürfnis nach Publikum ist dennoch berechtigt, genauso wie das Bedürfnis des Publikums nach Kunst. Auch wenn man meint, sie verdrängen zu können – im Terrain sperriger Aktualität sind Kunst und Kultur besonders unverzichtbar.

Eigentlich sieht es Menschen der rekordverdächtig schnelllebigen Welt des 21. Jahrhunderts ganz und gar nicht ähnlich, stundenlang neugierig im Museum, Theater oder Konzert auszuharren. Denn das Hamsterrad der verwöhnten Oberschicht, für die nur noch die Steigerung des materiellen Wohlstands zählt, bringt die Gefahr des Verzichts auf edle Tugenden wie das Üben von Geduld und Rücksicht auf opponierende Meinungen Dritter mit sich. Soziologe und Autor Hartmut Rosa bezeichnet diesen Drang der Moderne frank als Sucht nach der „Verfügbarmachung von Welt“. Früher wie heute gab es auch in den bildungsbürgerlichen Schichten Personen, die keine Bereitschaft zum Einander-Zuhören zeigen, so dass nach und nach Oberflächlichkeiten an die Stelle von tiefer Reflexion treten. Der Grund dafür ist der Fakt, dass Kunst und Kultur ohne das Aufbringen von Zeit und Muße kaum zum Aneignen von Welt befähigen. Für diejenigen, die in einem bereits wohlhabenden statt von Armut gezeichneten Raum zur Welt kommen, ist es ein Leichtes, ohne große Mühe alles zu erreichen, was ein lebenswertes Leben nach dem Bild materieller Sorglosigkeit ausmacht. Zeit aber werden Menschen in Zukunft immer knapper verfügbar haben.

Vor solch rauem Kontext gehen Künstler und Kuratoren, die ihren Zuschauern und Zuhörern auf Vernissagen und Veranstaltungen aller Art deutlich mehr Geduld und Zeit als in mittlerer und junger Vergangenheit abverlangen, ein großes Wagnis ein. Sie riskieren ihr Abrutschen in die Irrelevanz, weil der moderne Mensch, dem es nicht flott genug geschehen kann, sein intellektuelles Sitzfleisch längst aufgezehrt hat und sich überaus frühzeitig langweilt. Ihn für Kunst und Kultur – die Spätzünder auf dem Markt schlechthin – bei der Stange zu halten, ist eine Riesenaufgabe. 

In Hermannstadt jedoch gestaltet sich dieser Auftrag recht passabel. Die Premieren, mit denen das Radu-Stanca-Theater Sibiu (TNRS) seine Türen bald nach Anfang Mai wieder öffnen konnte, waren ausverkauft. Und als Hermannstädter Radu Marţi am 12. Mai im Kartographischen Kabinett des Brukenthalmuseums seine Ausstellung mit Porträts der Mitglieder des Rumänischen Königshauses eröffnete, ließ es sich manch geladener Festredner nicht nehmen, ausdauernd auf das Publikum einzureden. Weil es eben nach viel zu langer Zeit endlich mal wieder eines gab, das sich live zu einer Vernissage treffen durfte.

Die etwa hundert Menschen im Innenhof des Brukenthalmuseums hätten gelangweilt gähnen und noch vor Schluss der Veranstaltung hinaus auf den Großen Ring/Piaţa Mare gehen können. Doch das, was die Ehrengäste der Vernissage ausführlich zum Besten gaben, war derart vielfältig und interessant, dass ein routiniertes Abhaken (rumänisch: „a bifa“) fehl am Platz gewesen wäre. Unter normalen Umständen hätte man sich als Otto Normalbürger nicht gerne Zeit fürs Zuhören vom Leib gerissen. Nach der kulturellen Durststrecke hingegen, die auf das Konto der Covid-Pandemie geht, wirkt jeder detailreiche ad-hoc-Vortrag Wunder, und sei er noch so stark in die Länge gezogen (siehe auch Bericht „Eine besondere Ausstellung an einem besonderen Ort“ auf der Lokalseite der ADZ von Samstag, dem 22. Mai).

Chiriac

„Die Kultur macht den Unterschied aus. Ohne Kultur werden die Menschen Opfer von Dominanz, Ausbeutung und Unterjochung. Ohne Kultur werden den Menschen Freuden vorenthalten, bleiben ihr Raffinement, ihre Perspektive und ihre Vision auf der Strecke.“, sagt Schauspieler und Theaterintendant Constantin Chiriac im Buch „Personalităţi culturale ale Sibiului“, das der lokale Kulturverein „E-Xplorator“ Donnerstagabend, am 3. Juni, im Parterre des Gong-Theaters vorgestellt hat. Erst nach knappen drei Stunden war diese Präsentation an ihrem Ende angelangt. Aber sie hatte es in sich und brachte eine geballte Ladung kultureller Alltagsreflexion auf die Bühne. Ioana Adela Curta, Vereinsvorsitzende und Dozentin an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt (ULBS), Teodor Boant˛, Pressesprecher der ULBS, und sieben weitere Redaktionsmitglieder hatten sich die Buchvorstellung für Januar 2021 vorgenommen, verschoben sie aber auf sechs Monate später. Entstanden ist ein 50 Interviews starker Sammelband, der auf 120 schwarzweißen Seiten in A4-Größe unzählige Schattierungen menschlichen Lebens zeigt, die Hermannstadt mit sich selbst, Rumänien, Europa und der Welt vernetzen.
Regisseur und Theatermacher Bogdan Sărătean kreidet der lokalen Presse Hermannstadts das Fehlen von unabhängig recherchierten statt gekauften Berichten zu kulturellen Themen an. „Du kannst jedes noch so wunderbare Kulturprojekt machen, aber wenn Du nicht für einen Artikel bezahlst, existierst Du nicht. Unglaublich!“ Der Gründer der NGO und des Festivals „BIS Teatru“ schätzt sich glücklich, ausgedehnte Bildungsreisen nach Afrika, Asien und Südamerika unternommen haben zu können. „Jeder Mensch sollte einmal nach Afrika fahren, aber nicht auf Safari, nicht touristisch. Sondern um die Slums und Elendsviertel zu sehen, um Avocado und Zitronen vom Baum zu essen und die täglich viszerale Gefahr zu fühlen.“

„Uns fehlt alles, was uns helfen könnte, uns weniger mittelalterlich und provinziell zu geben“, urteilt Künstlerin Lia Perjovschi. Relativierend soll darauf entgegnet werden dürfen, dass Hermannstadt trotzdem und zumindest in der Abteilung des Brukenthalmuseums für Zeitgenössische Kunst auf der Quergasse/Tribunei sich nicht gerade damit begnügt, nur im eigenen Saft zu schmoren. Zu einer neuen Kunsthalle oder einem „white cube“ für die Ideen von heute aber hat Europas Kulturhauptstadt von 2007 sich noch nicht entschieden. Mit ihrer Kritik liegt die Künstlerin richtig.

Der Kult der Bescheidenheit

In Hermannstadt sind nicht weniger Artisten als in anderen Städten Siebenbürgens zuhause. Viele von ihnen agieren jedoch abseits der staatlichen Institutionen im unabhängigen Sektor – und der hat es in Rumänien besonders schwer. Publikumsliebling Florin Coşuleţ und Star-Interpretin Ofelia Popii hätten ohne das TNRS tatsächlich nicht die Idole werden können, die sie heute sind. Co{ule] stammt aus dem Burzenland/Ţara Bârsei. Zu den Pluspunkten, die ihn vor über 20 Jahren für Hermannstadt gewonnen haben, zählen ganz vorne die Dichter der Stadt am Zibin. „Als Nummer 51 hätte ich vom Start weg gar nicht in dieses Buch gehört. Meinen Platz hätte Poet Iustin Pan]a (1964-2001, Anm. d. Red.) verdient gehabt.“, sagte Florin Co{ule] am Abend der Buchvorstellung am 3. Juni im Gong-Theater.

Maler Alexandru Cînean (Jahrgang 1988), Autor der europaweit gereisten Ausstellung „Vanity and Despair“ mit Porträts von den Konterfeis der Hauptdarsteller der international gefeierten Faust-Inszenierung des TNRS, hat 2020 im Haus Nummer 3 am Kleinen Ring/Piaţa Mic˛ die Kreative Botschaft „No! Hai“ eröffnet und rät zum permanenten Verlassen-Können der Komfort-Zone. Es kommt ihm nicht infrage, für mehr Komfort Abstriche von seinen Idealen zu machen.

Natürlich braucht Hermannstadt mit seinem Renommee als Heimat und Karriere-Startpunkt großer Namen wie Filmemacher Dumitru Budrala, Diplomat Emil Hurezeanu und Dirigent Gabriel Bebeşelea nicht hinter dem Berg zu halten. Aber es ist gut, dass das aktuelle Rumänien nicht nur Berühmtheiten aus vorderster Reihe gehört. Denn ohne feinsinnige Akteure wie beispielsweise Schriftsteller Radu Vancu, Fotograf Rareş Helici, ASTRA-Bibliotheksdirektor Silviu Borş, Historiker Ilie Dan Nanu, ASTRA-Museumsdirektor Ciprian Ştefan, Jazz-Ikone Mircea Tiberian und Journalist Adrian Popescu von der Lokalzeitung „Tribuna“ würde Hermannstadt über kurz oder lang der Kultur-Sauerteig ausgehen. Allein mit der Erinnerung an glorreiche Vergangenheit lässt sich kein Blumentopf gewinnen.

Nicht zu vergessen auch die klerikale Komponente, wo doch die Orthodoxe Kirche Rumäniens (BOR) nicht nur aus sturen Köpfen wie Erzbischof Teodosie von Konstanza spricht. Ein Interview im Buch „Personalitţi culturale ale Sibiului“ hat Priester und Autor Călin Sămărghiţan gegeben, der auf der Buchvorstellung ergriffen beisteuerte, „heute Abend gar nicht hier sein zu sollen. Mein Platz wäre draußen am Gehsteig gegenüber vom Theater. Wir Priester arbeiten nicht im Scheinwerferlicht, sondern mit dem Kerzenlicht.“

Alle füreinander

Wegen der Initiale ihres Familiennamens muss Hermannstädterin Codru]a Vulcu sich formal mit ihrem Raum auf den letzten zwei Seiten des neuen Buches begnügen. Doch dieser Sammelband stellt keine Hackordnung auf. „Ja, es ist möglich, ein Rock-Festival und zugleich auch den Papstbesuch zu organisieren!“, so die Direktorin des Gastaufenthaltes von Papst Franziskus am 2. Juni 2019 auf dem Freiheitsfeld/Câmpul Libertăţii in der griechisch-katholischen Hochburg Blasendorf/Blaj und seit Jahren erfolgreiche Leiterin des ARTmania-Festivals.

Auch Choreografin Silvia Macrea ist dankbar, in Hermannstadt all ihre Vorstellungen umsetzen zu können. Die Intendantin des 77 Jahre alten Folklore-Berufsvereins „Cindrelul-Junii Sibiului“ denkt ehrfurchtsvoll daran zurück, 2019 von Bürgermeisterin Astrid Cora Fodor zur Ehrenbürgerin der Stadt und von Staatspräsident Klaus Werner Johannis zur Trägerin des Kulturellen Verdienstordens im Rittergrad ernannt worden zu sein. „Ich glaube an ein Management auf Basis von Respekt füreinander und keineswegs an eine Führung mit harter Hand.“

Missmut in der rumäniendeutschen Politik könnte erregen, dass in „Personalităţi culturale ale Sibiului“ nur ein einziger Siebenbürger Sachse zu finden ist. Auch kommt die technische Realisation nicht ganz an die Qualität der Drucksachen vom Honterus- oder Schiller-Verlag heran. U-Musiker Adrian Ordean dagegen gratulierte durch Videonachricht am Vorstellungsabend „allen Hermannstädtern, ob sie nun in diesem Buch auftreten oder nicht.“ Gestalterisch lässt es Wünsche offen, inhaltlich aber ist es topp. Ricky Dandel wünscht Hermannstadt das Beste der Welt: „Wir müssen uns gegen die Gewohnheit immunisieren, die alle im Schönen versteckten Geheimnisse tötet.“