Kulturboykott

Randbemerkungen

Modest Mussorgskis „musikalisches Volksdrama” „Boris Godunow” nimmt das Motiv von Puschkins gleichnamigen Drama auf, die Geschichte des als „Usurpator” auf den Zarenthron Gestiegenen, nachdem er den legitimen Thronfolger ermordet hatte. Godunow wird von einem Mönch entlarvt, der sich als jener Thronfolger ausgibt, der vorgeblich das Attentat überlebte.
Die Geschichte stimmt im Kern: Godunow herrschte im Moskowiterreich zwischen 1598 und 1605, war aber von der damaligen Volksvertretung, der Semski Sobor, gewählt. Die Mailänder Scala wollte die laufende Spielzeit mit dieser russischen Oper und einem russischen Bass-Bariton in der Hauptrolle eröffnen – wogegen der Konsul der Ukraine öffentlich heftig protestierte.
Dieser Protest des nicht allzu bedeutenden Konsuls steht im Kontext der Veröffentlichung eines offenen Briefs des ukrainischen Kulturministers, in welchem dieser zum Generalboykott russischer Kultur aufruft, weil Putin sich der „großen russischen Kultur” „als Propagandainstrument” bediene. Wer sich wirklich vom Ungeheuer Putin lossage, müsse auch zur Kultur Russlands Distanz halten. Tschaikowski, Tschechow, Tolstoi, Gogol oder Dostojewski, implizite Anna Achmatowa, trotz all ihrer Widersprüche: Maxim Gorki und Majakowski, Malewitsch, Rodtschenko, Lisitzki, Chagall und Kandinskij, Schostakowitsch und Skrijabin, sie alle müssten demonstrativ gemieden werden, als Nachweis, dass man Putin gegenüber auf Distanz geht, dass man ihn für verfemenswert hält.

Boykott einer großen Kultur zur Ächtung eines Kriegsverbrechers?

Das klingt wie die 50-jährige Verbannung Richard Wagners von den Bühnen Israels, weil er Hitlers Lieblingskomponist war. Zum Glück gibt´s Daniel Barenboim.

Sicher haben jene Russlandkenner recht, die behaupten, dass die  Propagandamaschine Putins geschickt auch die russische Kultur (unter vielen anderen: Tolstoi...) nutzt und – zumindest im russischen Inland – damit Erfolg hat. Der ukrainische Kulturminister schlägt aber über die Stränge: Er bietet der Welt als „ERSATZ” für die russische Kultur die ukrainische an. Was man beim Konsul der Ukraine in Mailand als Naivität oder Diensteifer abtun könnte. Der Scala-Premiere waren drei Jahre Vorbereitungen (inklusive Kosten...) vorausgegangen. Sie hatte einen durchschlagenden Erfolg, sogar vor den Spitzen italienischer Politik im Premierenpublikum (die – mit Ausnahmen - ukrainefreundlich ist...). Der Boykottaufruf des Ministers rückt flagrant in die Sphären mangelhafter Bildung: Nichts gegen die Kultur der Ukraine, aber der Ersatz der russischen Kultur durch diese schießt weit über Patriotismus hinaus.

Keine Frage, die Ukraine muss in ihrem gerechten Kampf gegen einen brutalen Aggressor mit allen verfügbaren Mitteln – materiell, geistig, psychologisch, strategisch – unterstützt werden, nicht nur, weil sie einen Stellvertreterkrieg führt, indem sie Europa vor propagandistisch und ideologisch vollgepumpten primitiven Horden schützt (die in ihren brachialsten Verbänden seit Tschetschenien Erfahrung im Kriegführen gegen Militärs und Zivilisten haben), sondern auch, weil sie zum Bollwerk der Zivilisation gegen die Barbarei wurde. Doch glaubt ein Kulturminister wirklich, dass man Barbarei, Kinder- und Frauenmörder und -schänder, kaltblütige Berufskiller und  verzweifelte Soldaten durch Kulturboykott bekämpfen kann?

Für den Minister gibt es bloß eine Entschuldigung; er hat es, kontextgezwungen, gut gemeint. Aber für jeden, der nicht wie ein Ukrainer impliziert ist, ist Kulturboykott Unsinn. Keine einzige Wunde der Ukraine wird verheilen, wenn die Mailänder Scala den „Boris Godunow” Mussorgskis aus ihrem Spielplan streicht. Aber vielleicht denken tausende Opernbesucher über Russland nach und verstehen die Ukraine besser.

Und was sonst noch auf dem Spiel steht.