Literatur, Sprache und Politik – Bertolt Brecht zum 120. Geburtstag

21. Internationale Tagung der Kronstädter Germanistik

Das 1949 von Bertolt Brecht verfasste Epigramm „Wahrnehmung“ endet mit dem Verspaar: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“ An diesem Motto hat sich der internationale Germanistikkongress orientiert, der aus Anlass der 120. Wiederkehr des Geburtstages von Bertolt Brecht von der Germanistikabteilung der Transilvania Universität Kronstadt sowie von der Kronstädter Zweigstelle der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens vergangene Woche im Gästehaus „Casa Speranței“ in der Kronstädter Moldova-Straße 2 veranstaltet wurde.

Am Abend des Anreisetages wurden die Kongressteilnehmer mit einer Buchpräsentation im Kronstädter Tagungsgebäude willkommen geheißen. Vorgestellt wurde der von der Kronstädter Germanistikprofessorin Carmen Elisabeth Puchianu herausgegebene und gerade eben erst erschienene achtzehnte Band der Kronstädter Beiträge zur germanistischen Forschung, der den Ertrag der letztjährigen Kronstädter Luther-Tagung in neunzehn lesenswerten literatur-, sprach- und kulturwissenschaftlichen Aufsätzen einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich macht.

Der erste wissenschaftliche Vortrag der am vergangenen Freitag eröffneten Brecht-Tagung war dann dem Namen des Gefeierten gewidmet. „Brecht – ein glänzender Name“ lautete der Titel des Eröffnungsvortrages von Adina Lucia Nistor (Jassy), der auf die Herkunft von Brechts Familiennamen aus dem althochdeutschen „beraht“ (hell, strahlend, glänzend) bzw. aus dem mittelhochdeutschen „brëhen“ (leuchten, glänzen, funkeln) anspielte, welche im englischen „bright“ noch durchschimmert. An seinen drei traditionsgebundenen bürgerlichen Vornamen griechischer (Eugen) und germanischer (Berthold Friedrich) Abstammung nahm Brecht aus seiner antibürgerlichen Haltung heraus später entscheidende Änderungen vor. Eugen und Friedrich ließ er gänzlich fallen, und Berthold verwandelte er in Bertolt, dann auch, in Kombination mit dem etymologisch identischen Nachnamen, in Bert Brecht oder gar in B.B., was knapp, nüchtern, präzise und scharf wirkt wie die Intellektualität Brechts selbst.

An diesen onomastischen Eröffnungsvortrag schlossen sich zwei rezeptionsästhetische Vorträge von Maria Sass (Hermannstadt) und Delia Cotârlea (Kronstadt) an, die sich mit dem Einfluss Brechts auf zwei Dichter deutscher Sprache befassten, die beide in Kronstadt zur Schule gegangen waren: den aus Zeiden/Codlea gebürtigen Bernd Kolf und die Kronstädter Lyrikerin und Übersetzerin Anemone Latzina. Ioana Diaconu (Kronstadt) spürte in ihrem Vortrag den intertextuellen Bezügen nach, die den Coriolan-Stoff von Livius und Plutarch über Shakespeare bis hin zu Brecht und Grass kennzeichnen, und Sunhild Galter (Hermannstadt) untersuchte Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ unter dem Aspekt der von Bertolt Brecht geprägten dramatischen Konzeption des epischen Theaters.

Literarische Werke von Bertolt Brecht standen dann im Zentrum weiterer Vorträge des Kronstädter Kongresses. Veronica Buciuman (Großwardein) untersuchte, ausgehend von Brechts Traktat „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ aus dem Jahre 1935, das zwei Jahre zuvor entstandene Brechtsche Lied „Kälbermarsch“, eine bittere Parodie auf das Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne der NSDAP, sowie die Parabel „Wenn die Haifische Menschen wären“ aus Brechts „Geschichten vom Herrn Keuner“. Diskutiert wurde auf dem Kronstädter Kongress ferner über Bertolt Brechts „Buckower Elegien“, in denen der seit ihrer Gründung in der DDR lebende Autor auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 explizit und kritisch Bezug nimmt, zum Beispiel in dem Gedicht „Die Lösung“, welches lautet: „Nach dem Aufstand des 17. Juni / Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes / In der Stalinallee Flugblätter verteilen / Auf denen zu lesen war, dass das Volk / Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / Und es nur durch verdoppelte Arbeit / Zurückerobern könne. Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“

Ioana Crăciun-Fischer (Bukarest) sprach über Brechts zahlreiche Filmprojekte und Drehbücher, von denen allerdings nur wenige auch tatsächlich realisiert wurden, wie z. B. den gemeinsam mit Karl Valentin gedrehten Kurzfilm „Mysterien eines Frisiersalons“ (1923), den Film „Kuhle Wampe“ (1931) oder den gemeinsam mit dem in die USA emigrierten deutschen Filmregisseur Fritz Lang konzipierten Streifen „Hangmen Also Die“ (1943). Delia Eșian (Jassy) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der Zeit, während der Bertolt Brecht sich in der Schweiz aufhielt. Brecht war, nachdem er am 30. Oktober 1947 in den USA vom Komitee für antiamerikanische Umtriebe befragt worden war, am Tag darauf über Paris in die Schweiz weitergereist, wo er nach seiner Flucht aus dem amerikanischen Exil Fuß fassen wollte. Während seines Schweizer Jahres begegnete er in Zürich dem jungen Max Frisch, und im Stadttheater Chur wurde am 15. Februar 1948 „Die Antigone des Sophokles“, Brechts Bühnenbearbeitung der Hölderlinschen Übertragung, uraufgeführt.

Die Initiatorin der Kronstädter Tagung, Carmen Elisabeth Puchianu, hielt nicht nur einen viel beachteten Vortrag zum Thema „Engagement, Spektakel, Selbstdarstellung – Theatermachen à la Brecht“, sondern trat am Abend des 23. März zudem als Autorin, Theater- und Sprachpädagogin, Regisseurin und Schauspielerin in Erscheinung, und zwar gemeinsam mit dem von ihr ins Leben gerufenen studentischen Ensemble „DIE GRUPPE“. Im Theatersaal des Kronstädter Memorandului-Komplexes feierte in Anwesenheit der Kongressteilnehmer und eines zahlreichen studentischen Publikums Carmen Elisabeth Puchianus Sechspersonenstück „Jedermann oder Die Einladung zum Essen“ Premiere. Wie selten konnte man bei dieser Inszenierung das Zusammenspiel von Theater- und Spracharbeit auf der Bühne studieren. Carmen Elisabeth Puchianus Stück modellierte nicht nur die physischen Körper der Studierenden, die sich zu Beginn des Werkes wie bei einer schweren Geburt schwarzen Plastiksäcken oder braunen Pappkartons entrangen, um sich dann als weißgekleidete Bajazzos, Tänzer oder Marionetten allmählich in ihre eigenen Körper zu finden. Vielmehr modellierte das Theater- und Sprechstück zugleich die deutsche Sprache in den Mündern der Akteure, welche phonetisch nahezu perfekt deutsche Wörter zu Sätzen zusammenbauten, umbauten, wieder neu bauten und durch immer andere Betonungen, Varianten und Kombinationen das eigentliche Stück nach und nach erst entstehen ließen. Tanz, Spiel und Bewegung wurden dabei zu Metaphern der Sprachfindung, die denselben Prinzipien zu gehorchen schien wie die Choreografie der Körper auf der Bühne. Unvergesslich etwa die Szene, in der das Wort „Jedermann“ gemeinsam buchstabiert wurde, mit gelegentlichen Ausflügen ins Rumänische, etwa zum Wort „iederă“ (Efeu)! Und bewundernswert, wie die sechs Studierenden (Mădălina Coman, Casian Gherasim, Irina Hoza, Andreea Iordache, Mădălina Matei und Ana Stan) das Deutsche bemeisterten, gerade auch in den zahlreichen Satzvariationen, die immer wieder neue, andere und ständig wechselnde Betonungen erforderten! Dazu kamen dann noch verschiedene Musikeinspielungen, u. a. eine verfremdete Version von Händels „Wassermusik“, und nicht zuletzt die Stimme von Carmen Elisabeth Puchianu aus dem Off, die das Bühnengeschehen begleitete und dirigierte und die am Ende auch den Bogen von der Geburtsszene des Anfangs über das zentrale Festmahl bis zum finalen Zielpunkt des Bühnengeschehens schlug, und zwar mit der Rezitation der Rilkeschen Verse „Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns.“ Das immer von Neuem wiederholte Motto des Stücks „Gleich geht’s los!“ erhielt von daher noch einmal eine ganz andere Tiefe und Bedeutung.

Der zweite Teil der Vorträge des Kronstädter Germanistikkongresses war dann verschiedenen literatur-, kultur- und sprachwissenschaftlichen Themen gewidmet, die, wenngleich sie nur einen lockeren bis peripheren Bezug zu Leben und Werk Bertolt Brechts aufwiesen, gleichwohl von den Kongressteilnehmern mit großem Interesse aufgenommen wurden. Sigrid Haldenwang (Hermannstadt) sprach über das Abstraktum „Mühe“ in siebenbürgischen urkundlichen und mundartlichen Belegen, Mihai Crudu (Suceava), ebenfalls in Anspielung auf das Motto der Tagung, über die Lexeme „Berg“ und „Ebene“, Liane Gudrun Ittu über den siebenbürgischen Maler Karl Ziegler (1866-1945), während Cristina Mihail (Hermannstadt) über literarische Zitate als Mittel der Trauerverarbeitung vortrug und Doris Sava (Hermannstadt) über das Lachen in Zeiten der Krise am Beispiel von im Internet kursierenden bildlichen und sprachlichen Repräsentationen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel referierte. Cornelia Eșianu (Wien) sprach über Kunst und Politik bei Joseph von Sonnenfels und Friedrich Schlegel, Mihaela Zaharia (Bukarest) über Literatur und Politik bei Robert Müller, Alexandra Nicolaescu (Bukarest) über Presse- und Fernsehinterviews mit dem „militanten Pazifisten“ Erich Maria Remarque, dem Verfasser des berühmten Antikriegsromans „Im Westen nichts Neues“, und János Szabolcs (Großwardein) befasste sich in seinem Vortrag mit regionalen Identitätsdiskursen in Esther Kinskys Roman „Banatsko“, jener Autorin, die jüngst mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik für ihren „Geländeroman“ mit dem Titel „Hain“ ausgezeichnet worden war. Ein grammatisches und ein didaktisches Referat beschlossen dann den Reigen der wissenschaftlichen Vorträge auf dem Kronstädter internationalen Germanistikkongress: Bogdana Crivăț (Craiova) beschäftigte sich unter dem schönen Titel „Auf Schusters Rappen seiner Wege gehen“ mit lexikalisierten Genitiven im Gegenwartsdeutsch, und Daniela Turcu (Kronstadt) dachte darüber nach, ob literarische Texte im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache „ein Muss oder ein Plus“ darstellen.