„Man muss sehr gute Beine haben, um auf seinen Kopf verzichten zu können“

Interview mit dem Cronica-Violetă-Blogger Stefan Cârpanu

Ştefan Cârpanu und die Cronica Violetă
Fotos: Robert Tari

Rumänien saß während der Europameisterschaft 2021 auf der Reservebank. Der rumänische Fußball befindet sich in der Krise. Gründe dafür findet man bereits auf lokaler Ebene. Auch Temeswars geschichtsträchtige Fußballmannschaft Poli weiß seit fast zehn Jahren nicht mehr so recht, wer sie ist. Im Gespräch mit Stefan Cârpanu, ehemaliger „Fotbal Vest“-Redakteur, Autor und Fußball-Blogger, wollte ADZ-Redakteur Robert Tari mehr über die Vergangenheit und Zukunft von Poli, ihren Fans und dem rumänischen Fußball erfahren.

Als Laie muss ich die obligatorische Frage stellen: Wann wurde Ihre Leidenschaft für den Fußball entfacht?

Ich bin vermutlich keine Einzelerscheinung: Viele Menschen verlieben sich in Fußball in ganz jungen Jahren, wenn sie 7, 8 oder 9 Jahre alt sind und zusammen mit ihrem Vater oder mit Freunden das erste Mal zu einem Spiel gehen. Bei mir war es mein Großvater, der mich zu den Spielen mitnahm. Als ich die ersten Spiele von Poli sah, das war 1995-1996, ging es der Mannschaft ziemlich schlecht. Sie war kurz vor dem Abstieg aus der Ersten in die Zweite Liga. Eigentümer war ab 2000 ein Italiener und nach dem Abstieg ging es Poli von Saison zu Saison immer schlechter. Im Oktober 2001 erreichte die Mannschaft einen neuen Tiefpunkt. Das war der Moment, als ich anfing, über Poli zu schreiben. Bis zum Ende der Saison, im Sommer 2002, war der Club am Boden und ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass es das Ende für Poli bedeutete. Paradoxerweise traf das Gegenteil ein: Es fand eine Wiedergeburt mit Poli AEK statt. Und fast über Nacht spielte die Mannschaft nicht mehr in einem leeren, sondern in einem ausverkauften Stadion. Wir hatten die größten Besucherzahlen landesweit. Das zeigte, dass sich die Temeswarer nach ihrer Mannschaft sehnten und nach Fußball allgemein. Und das hat mich auch dazu bewegt weiterzumachen. 

Sie haben in den letzten 20 Jahren ununterbrochen über Poli geschrieben. Sie haben die Höhen und Tiefen dieser Fußballmannschaft dokumentiert. Und es gab viele Höhen und sehr viele Tiefen. Wie haben Sie es geschafft, konsequent zu bleiben?

Natürlich hat sich auch in meinem Leben vieles geändert. Aber über Poli zu schreiben, war für mich das Natürlichste der Welt. In gewisser Weise war es etwas, das ich gebraucht habe. Ich musste über die Spiele schreiben. Andere Fans suchen sich Foren oder unterhalten sich inzwischen über ihre Mannschaft und die Spiele auf Facebook. Früher, als sich Menschen in Foren austauschten, war es meiner Meinung nach besser. Es entstanden Gemeinschaften dadurch, was auf Facebook nicht der Fall ist, oder zumindest oberflächlicher. Für mich ist es Therapie, etwas, das ich nötig habe. Seit etwa 2006 habe ich auch einen Co-Redakteur, Andrei Vajna, der mich unterstützt. Zu dem Zeitpunkt, als er dazukam, ging es Poli so gut wie nie: Sie hatte zwei Mannschaften und einige Jugendzentren. Man hatte, worüber zu schreiben und jeder hatte eine Meinung über Poli. Vieles hat sich in späteren Jahren verändert, vor allem seit 2012, seitdem es in Temeswar zwei Mannschaften gibt, die beide den Anspruch erheben, die echte Mannschaft zu sein: ASU Poli und ACS Poli. Ich habe immer ACS Poli unterstützt und die Mannschaft hat auch Höhepunkte erreicht. Sie hat es in die Erste Liga geschafft. Als dann aber der Abstieg folgte, schaffte es der Club nicht mehr, sich von einer Reihe von Niederlagen, sowohl auf dem Fußballfeld als auch hinter den Kulissen, zu erholen. Darum befindet sich die Mannschaft auch gegenwärtig in einem noch schlechteren Zustand als vor 20 Jahren. 

In den letzten zwei bis drei Jahren habe ich auch weniger geschrieben auf dem Blog, weil auch die Leserschaft stark gesunken ist. An die hundert Personen lesen in der Regel einen Artikel, auf Facebook sind es an die 10-15 Personen. Je schlechter die Ergebnisse sind, desto mehr sinkt das Interesse. Ich habe in dieser Zeit für „Fotbal Vest“ geschrieben und erlebe den erneuten Fall der Mannschaft. Die Mannschaft ist in die Dritte Liga abgestiegen. Analysen über Spiele aus der Dritten Liga zu schreiben macht einfach keinen Sinn. Das ist vergleichsweise so, als würde man über die Siebte Liga in England schreiben, obwohl es wahrscheinlich nicht der beste Vergleich ist: Die Siebte Liga in England ist vermutlich wesentlich besser als die rumänische Dritte Liga. 

Eine Krise folgte der nächsten in den letzten zehn Jahren. Es scheint, dass Temeswars Fußballmannschaft ständig Probleme hatte?

Oh, schon immer. Alle zwei oder drei Jahre fand eine radikale Änderung statt. Als 2004 Marian Iancu die Mannschaft aufkaufte, fand ein unglaublicher Wandel statt. Es schien, als gebe es keine Grenzen, als wäre alles machbar. Als könne sich Poli jeden Top-Spieler leisten. Und danach folgte der komplette Absturz. In den letzten Jahren verfolgte man als Fan mit Hoffen und Bangen, welche neuen Spieler unter Vertrag genommen werden, ob sich in der kommenden Saison was ändern, die Mannschaft vielleicht einen Comeback schaffen wird. Zwischen 2002 und 2011 spielten wir konstant in der Ersten Liga und dann folgten zehn Jahre Chaos. Als Fan reicht es einfach nicht mehr aus. Es ist eine Lebensweise, seine Mannschaft zu unterstützen, aber viele fragen sich irgendwann, wie lange noch? Und Poli ist kein Ausnahmefall. Der rumänische Fußball kränkelt. Viele Traditionsmannschaften befinden sich in der Krise. In den letzten 15 Jahren wurden viele Clubs geschlossen, wurden dann wiederbelebt, es fand in vielen Fällen, genau wie in Temeswar, eine Spaltung statt. Wir sind nicht die einzige Stadt, wo sich zwei Clubs da-rum streiten, wer sich eigentlich die Geschichte der ursprünglichen Mannschaft aneignen kann. Wir sprechen von einem Scheitern des rumänischen Fußballs. Was passiert, ist ungesund. Und es zeigt nur, dass das Fundament, auf dem der rumänische Fußball nach der Wende aufgebaut wurde, schlecht ist.

Es scheint, als gebe es keinen Gemeinschaftssinn in den Reihen der Temeswarer. Dass die Mannschaft von ihrer Stadt nicht unterstützt wird.

Die Fans, die ASU Poli weiterhin unterstützen, würden es als eine Beleidigung empfinden. Sie sehen sich als eine Gemeinschaft. Aber, es ist unbestreitbar, dass wir von nur hunderten aktiven Fans reden im Vergleich zu früher, als es tausende gab. Finanziell können Fans einen Club nicht tragen. Das passiert auch im Westen selten. In westlichen Ländern zahlen Fußballfans 20 Euro oder mehr für ein Ticket und es gehen zu den Spielen regelmäßig über zehntausend Personen. Währenddessen lebt unser Fußball von Spenden und Almosen, ein Fußballticket kostet 10 Lei. So kann man schwer seine Kosten decken. Es ist nicht billig, 30 Angestellte zu haben, die Profisportler sind. Selbst wenn man auf Sparflamme läuft, kommen doch vielleicht eine halbe Million Euro Kosten auf einen Club zu in der zweiten Liga. Mit den 1000 bis 2000 Euro Einnahmen aus dem Kartenverkauf pro Spiel kann man die Ausgaben schwer decken. 

Und es fehlt bei uns die Kultur. Man hat kaum Familien, die zu den Spielen gehen, wo die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Team generationsübergreifend ist. In Rumänien fehlt diese Denkweise. Es gibt Gelegenheitsfans, die zu einem Spiel gehen, weil sie die Atmosphäre mögen oder einfach Teil der Erfahrung sein möchten. Und was die Hardcore-Fans betrifft: Ihre Beziehung zur Mannschaft kann man mit der Beziehung zu einer Geliebten vergleichen. Man ist ihr treu, aber wenn sie dich ständig hintergeht, fühlt man sich irgendwann betrogen und die Kommunikation zwischen Fans und Team ist oft so mangelhaft wie bei einem Paar. Es ist natürlich kompliziert auf andere Weise, als Clubesitzer kann es schwer werden, ständig auf die Gefühle der Fans zu achten, während man noch zahlreiche andere Feuer zu löschen hat. Und selbst wenn man die Zeit findet: Nicht jeder Fan ist gleich. Manche begnügen sich vielleicht damit, eine Mannschaft zu verfolgen, um den Aufstieg junger Spieler mitzuverfolgen. Viele aber wollen, dass ihre Mannschaft gewinnt, dass ihre Mannschaft an der Spitze ist. Sie haben kein Interesse daran, eine Mannschaft zu unterstützen, die nur für die Zweite oder Dritte Liga gut ist. Viele Fans, die ein normales, durchschnittliches Leben führen, erhoffen sich einen Platz an der Spitze mittels ihrer Wahlmannschaft. Das Scheitern der Mannschaft wird somit zum persönlichen Scheitern und man distanziert sich dann davon.

In den letzten Jahren fällt der Fokus im rumänischen Fußball zunehmend auf die Jugend. Gibt es da Potenzial?

Jeder träumt davon, an der Spitze zu sein. Besonders junge 16-jährige Fußballspieler. Oft sind es besonders die talentierten Spieler, die dazu neigen, unrealistische Erwartungen zu haben, die ihre Karriere gefährden. Es ist schwer, mit 16 die richtige Entscheidung für seine Zukunft zu treffen. Vlad Dragomir ist ein Beispiel: Er wechselte 2015 von ACS Poli zu Arsenal. Es ist ein Wechsel, dem man kaum widerstehen möchte. Aber Arsenal ist eine große Mannschaft mit hunderten von Spielern, zahlreichen Mannschaften, die in allen Ligen spielen. Nach zwei Jahren bei Arsenal ging er nach Italien. Dort spielte er für eine Mannschaft in der Serie B. Dann folgte für die Mannschaft der Abstieg. Er wechselte zu einer anderen Mannschaft aus der Serie B, diese stieg dann aber auch ab. Es gibt also keine Garantie dafür, dass ein Wechsel ins Ausland dir eine erfolgreiche Karriere verspricht. Junge Spieler sehen das aber nicht ein. Sie überschätzen sich. Die meisten Junioren haben ein klassisches Problem: alle halten sich für besser als der Mannschaftsdurchschnitt. Auch bei ACS Poli, viele haben es nicht weiter geschafft. Die, die wirklich Potenzial hatten, wechselten, weit weg von Temeswar.

Erfolgsgeschichten sind zum Beispiel Deian Sorescu – der erste Spieler, mit dem wir ein Interview gemacht haben für den Blog. Er hat dieses Jahr in der rumänischen Nationalmannschaft debütiert. Ein anderes Beispiel ist Marius Marin, er ist Kapitän der rumänischen Jugendnationalmannschaft sowie der olympischen Nationalmannschaft. Aber sie sind Ausnahmen. Die Regel, dass Mannschaften obligatorisch zwei U21 Spieler haben müssen in der ersten Liga, ist ein zweischneidiges Schwert für junge Spieler. Mannschaften suchen verzweifelt nach jungen Spielern, einfach nur, um die Voraussetzungen zu erfüllen. Dabei spielt das eigentliche Potenzial des Spielers eine zweitrangige Rolle. Das kann keine positiven Auswirkungen auf einen jungen 16-Jährigen ausüben, der sich ohnehin überschätzt. Er hält sich sowieso für einen der Besten, wird dann auch noch mühelos von Mannschaften aufgestellt, muss sich dann aber nach einigen Jahren mit der Realität konfrontieren, dass, sobald er über 21 ist,

Mannschaften ihn fallen lassen und es plötzlich keinen Platz mehr für ihn gibt. Darum sehe ich auch immer mehr Spieler, die sich auf ihre Ausbildung konzentrieren, als Plan B sozusagen. Ein Spieler von Rapid hat dieses Jahr das Abitur mit der Note Zehn bestanden, was großartig ist. Viele ACS Poli Spieler waren auch an Hochschulen eingeschrieben. Immer mehr verlassen sich nicht ausschließlich auf Fußball und geben auch der Schule eine Chance. Die Clubs allerdings unterstützen diese Herangehensweise noch nicht. Aber das sollten sie tun. Denn Fußball allein wird vielen jungen Spielern keine Zukunft sichern. Man muss sehr gute Beine haben, um auf seinen Kopf verzichten zu können.