Mauthausen – zwei Leben. Lebenslektionen.

Film von Simon Wieland über das ehemals größte Konzentrationslager in Österreich

Die „Todesstiege“ in der Gedenkstätte Mauthausen heute. Der Film „Mauthausen – zwei Leben“ steht bis 24. Februar mit rumänischen Untertiteln unter dem Link https://bit.ly/MauthausenDouaVieti kostenlos zur Verfügung.Bild: Stefanie J. Steindl

In dem Raum unter den metallenen Duschen habe ich selbst gestanden. Erinnere mich an die Filmszene mit den ausgemergelten Leichen, achtlos auf den Pferdewagen geworfen. Bin die granitene Treppe mit den unzähligen, viel zu kleinen Stufen hinuntergesprungen – und hinauf, behände, ohne Lastenkorb. Wie leicht verstolpert man sich dort! Mein Schulweg führte an einem ebensolchen Steinbruch vor-bei, nur wenige Kilometer von diesem, wo die „Fallschirmspringer“ ohne Schirm in den Tod springen mussten, im Rücken die Aufseher der SS. Der Film „Mauthausen – zwei Leben“ (2020) berührt mich besonders, weil er Erinnerungen aus der Kindheit streift.

Damals wohnte ich nur wenige Kilometer von Mauthausen entfernt. Ich erinnere mich an den Besuch der Schulklasse in der Gedenkstätte des KZ von Mauthausen – es war das größte Konzentrationslager in Österreich und das einzige im Gebiet des Reiches, das der Kategorie III – „Vernichtung durch Arbeit“ – angehörte.  An den Leiter der Kindergruppe, in der ich Mitglied war, und der das, was wir später aus Büchern und Filmen lernen sollten, noch hautnah miterlebt hatte. Er erzählte, wie er als Junge den vorbeiziehenden Gefangenen heimlich Brot zugesteckt hatte. Zu Fuß mussten die zerlumpten Gestalten den Weg vom Bahnhof über Pulgarn, Abwinden und Langenstein nach Mauthausen laufen. Vorbei an der Haltestelle, von der aus ich täglich nach Linz zur Schule pendelte. Ein Kind konnte es riskieren, den Gefangenen etwas zuzustecken, erklärte Herr Weinzinger. Bloß nicht erwischen lassen, hatten die Eltern den Buben eingeschärft! Und gaben ihnen Brot.

Die Menschen, die dort lebten, wussten genau, was in Mauthausen passierte. Doch man traute sich nicht, darüber zu sprechen. Der Geruch, nie würde er den Geruch vergessen, gestand uns der Mann. Und die Knochenstückchen, die man im Asphalt entdecken konnte, wenn man genauer hinsah. Ich erinnere mich daran, dass es solche grob asphaltierten Wege zu meiner Zeit noch gab. Dass ich mich manchmal bückte, überzeugt, ein solches Stück gefunden zu haben – oder war es nur ein heller Stein? Ich war elf. Genauso alt wie einer der Protagonisten im Film, der 1938 den Anschluss von Österreich an NS-Deutschland bejubelte...

Das Schweigen gebrochen, Fragen versäumt

Wir waren die Generation, für die das Schweigen gebrochen wurde. Unsere Eltern hatten nichts davon erfahren. Nicht in der Schule, nicht in der Familie. Was hatte der Opa im Krieg, zu dem er sich mit 15 Jahren freiwillig gemeldet hatte, erlebt? Warum hat er es getan? Tabu. Er schenkte mir als Kind eine Kassette mit jiddischen Liedern; seine Bibliothek war voller Bücher aus allen Teilen der Welt, slawische und russische Märchen, die Nibelungen, Odysseus, Tausend und eine Nacht, das tibetische Totenbuch – ich habe sie alle verschlungen. Mein Linzer Opa war ein weltoffener Mensch, friedlich, sanft, liebenswert. Zu gerne hätte ich aus erster Hand erfahren, wie Hitler der Jugend damals den Kopf verdreht hat. Und wie er später darüber dachte. Versäumt.

Umso wichtiger waren und sind Filme mit Zeitzeugen. Sie machen die abstrakte, unfassbare historische Lektion greifbar. Ihre Erinnerungen sind lebhaft, ungeglättet, hautnah. „Was damals passierte, ist weiterhin und auch heute noch präsent“, motiviert der Regisseur von „Mauthausen – zwei Leben“, Simon Wieland, warum er diesen Film drehte. „Man kann es sehen, auf den Gesichtern der Haupthelden, es ist in die Landschaft eingeprägt, im Lager, im Dorf.“ Der Film soll den Geist dieses Orts durch aufwühlende Bilder wachrufen.

Anfang mit Blumen, Ende mit Leichen

Zwei Menschen erzählen aus wechselnden Perspektiven. Der eine, Franz Hackl, jubelte als Elfjähriger den einmarschierenden deutschen Soldaten zu. Erinnert sich, wie die Kinder den „Befreiern“ übermütig Blumensträuße zuwarfen. Seine Euphorie sollte bald gedämpft werden.

Der andere, Stanislaw Leszczynski, trat mit seinem kleinen Bruder die lange Zugfahrt ins Ungewisse an, aus dem polnischen Lodsch/Lodz nach Linz; ohne Essen, dann den ermüdenden Fußmarsch, bis sich endlich die Tore weit öffnen: Ankunft im Lager Mauthausen. Mit dieser trügerisch einladenden Szene beginnt auch der Film. Es fällt schwer, zu glauben, dass die beiden Kinder, deren Eltern die Juden im Ghetto von Lodsch unterstützt hatten, zu den politischen Feinden des Reichs gehörten, die nicht mehr umerzogen werden konnten. Für solche war Mauthausen als Endstation gedacht, Vernichtung durch Arbeit, schreibt das Österreichische Kulturforum in der Ankündigung des Films, der zum Anlass des Holocaust-Gedenktages noch bis zum 24. Februar online zu sehen ist.

Franz Hackl war ein Sohn des Steinbruchleiters in Mauthausen. Wenn er dem Vater das Essen brachte, sah er die Häftlinge, ihre Wunden, Folgen von Misshandlungen. Sah, wie sie dicht an dicht die Treppe hinauf stolperten, schwerbeladen mit Körben, wer fiel, erwartete den Tod. Vielleicht kreuzten sich seine Blicke irgendwann flüchtig mit denen von Stanislaw Leszczynski.

Stanislaw musste Steine schleppen, hungern, sich aus einer Laune des Lagerleiters in einem ungleichen Boxkampf beweisen, medizinische Experimente über sich ergehen lassen, Willkür und Grausamkeit der Nazi-Aufseher erfahren, aber auch unerwartete Momente der Hilfe durch Mitinsassen, mehrmals entkam er so knapp dem Tod.

Franz erinnert sich mit Grauen an den ersten Tag seiner Lehre im Schlosserwerk von Gusen. Dass er sich nicht aufs Feilen konzentrieren konnte, weil er immerzu aus dem Fenster blicken musste. Auf eine Szene, die sich tief in sein Gedächtnis grub: Leichen wurden auf einen Wagen geworfen, an den Rand eines Abgrunds gefahren, dort stand einer, der sie an Armen und Beinen packte, weit ausholte und in den Abgrund schleuderte. Am Tag seiner Abschiedsfeier – lange ersehnt, obwohl er in die Wehrmacht einrücken sollte, lagen sieben nackte Tote auf der Gasse. Sie waren aus dem übervollen Lastwagen gerutscht. Anfang mit Blumen, Ende mit Leichen.

Franz musste einrücken, sein Bruder noch an die Front, als der Krieg eigentlich schon vorüber war. Kanonenfutter, sagt Hackl. Stanislaw Leszczynski erinnert sich an den Tag, als die Amerikaner das Lager befreiten; noch kurz davor hatte man sich beeilt, 40 Leute in die Gaskammer zu stecken.
Ende, aber nichts ist gut.

Lebenslektionen

Ich sehe die längst vergessene Landschaft, einst so vertraut – den Steinbruch, die Bahnlinie –, jetzt mit anderen Augen. Denke an meine Großeltern, die es nach dem Zweiten Weltkrieg dorthin verschlagen hatte. An die Vertreibung aus dem Sudetenland, den Brünner Todesmarsch, so war die Oma nach Linz gelangt. Anderes Unrecht... Auch darüber hat Wieland einen Film gedreht („Nemci ven! Deutsche raus!“, 2015 ). Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Geschichte, so hautnah, geht einen etwas an. Es ist ein Unterschied, ob man von Völkermord und Kriegsverbrechen aus fernen Schurkenstaaten erfährt, oder aus dem eigenen, vertrauten Kulturkreis. Frieden aber kann nur funktionieren, wenn wir die Erinnerungsfäden entwirren, vergangenes Unrecht annehmen, um künftiges zu verhindern.


Das Lager Mauthausen wurde 1938 als Konzentrationslager für politische Feinde des Reichs gegründet. Als solche galten vor allem intellektuelle und soziale Eliten aus den vom Dritten Reich besetzten Ländern. Mit Fortschreiten des Krieges wurde der Komplex Mauthausen-Gusen auf über 40 Lager erweitert, fast auf dem gesamten Gebiet Österreichs. Die Gefangenen mussten in Steinbrüchen, im Bergbau, in Baumaterial- und Waffenfabriken Zwangsarbeit leisten. Das Lager Mauthausen wurde als vorletztes am 5. Mai 1945 von den Alliierten befreit. Schätzungsweise 90.000 Menschen sollen dort und in den Satellitenlagern ihr Leben verloren haben (www.mauthausen-memorial.org).