Mit der Kamera auf der Suche nach der Wahrheit

Die Kronstädterin Laura Căpăţână-Juller und ihr Weg zum Dokumentarfilm

Das Plakat des Films ist eigentlich eine Zeichung von Sanda, als sie in die 1. Klasse ging.

Laura und die komplette Familie Berindea

Ani, Sanda und Laura sind Freundinnen geblieben

Die 14-jährige Sanda zeichnet ein Herz an die Wand einer Baustelle. Sie schreibt vier Namen daneben: Ani, Sanda, Mami, Tati. Auf der Baustelle soll ein neues, großes Haus entstehen. Dorthin sollen Sanda und ihre Schwester mit ihren Eltern umziehen. Um Geld für das Haus zu sparen sind Irina und Liviu Berindea nach Spanien gezogen. Ihre Töchter sehen sie höchstens zwei Mal im Jahr. Die Geschichte von Sanda und Ani aus der Maramuresch ist die Geschichte einer elternlosen Generation, die in Rumänien langsam heranwächst. „Eurowaisen“ oder „Erdbeerwaisen“ werden sie von den Medien genannt. Die junge Filmemacherin Laura Căpăţână- Juller hat die beiden Mädchen drei Jahre lang begleitet. So entstand 2012 der Dokumentarfilm „aici...adică acolo“ („hier...ich meine, dort“).

Seit damals ist vieles passiert: der Film war auf Festivals in der ganzen Welt zu sehen. Ani und Sanda sind gewachsen und die Eltern sind nach Hause zurückgekommen. Die Zeit, in der die Familie getrennt war, kann den Kindern aber niemand zurückgeben.  

Das Leben im Internat

„Ich hatte schon immer einen gewissen Draht zu Kindern. Deshalb habe ich in der achten Klasse beschlossen, ins Päda (Anm. Red.: Pädagogisches Lyzeum Hermannstadt) zu gehen. Dort habe ich im Internat gewohnt, in der Kantine gegessen, meine Familie nur an den Wochenenden gesehen“, erinnert sich die heute 35-Jährige. Schon mit vierzehn Jahren war Laura auf sich selbst gestellt, musste alleine auskommen, das Geld einteilen, Entscheidungen treffen. „Es war wie eine kalte Dusche. Wir alle haben geweint, weil wir unsere Eltern und Geschwister vermisst haben“.

Die Zeit, in der sie von ihren Eltern getrennt war, hat Laura geprägt. Im Jahr 2000 absolvierte sie das Lyzeum. Sieben Jahre danach öffnete sich der europäische Arbeitsmarkt für Rumänen und Millionen davon zogen ins Ausland, um dort besser zu verdienen. Die Kinder blieben zu Hause. Laura hat das berührt: „Mit 14 Jahren hatte ich selbst entschieden, dass ich weg von zu Hause will. Diese Kinder aber hat niemand gefragt, ob sie wollen, dass ihre Eltern weggehen. Sie hatten einfach keine Wahl“. Von ihrem Schicksal  war Laura sehr angetan. „Ich wollte ins Detail gehen“. So fing die Geschichte von „aici...adic² acolo“ an.

„Mit der Zeit wurde das Bild wichtiger als das Wort“

Ihre Leidenschaft für den Journalismus hatte Laura während der Jahre in Hermannstadt entdeckt. Am „Päda“ gab es damals die Schülerzeitung „Das 11. Gebot“, wo sie als Redakteurin tätig war. „Es hat mir großen Spaß gemacht. Langsam hat sich der Wunsch, Erzieherin zu werden in den Wunsch, Journalistin zu werden, verwandelt“. Sie entschied sich, in Klausenburg/Cluj Journalismus in deutscher Sprache zu studieren. Während ihrer Studienzeit hat sie begonnen, für die ADZ zu berichten. Später wurde sie Mitarbeiterin von TVR Klausenburg. So entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Kamera. Zusammen mit einem Fernsehteam hat sie ihre Diplomarbeit über Homo-Bi- und Transsexuelle in Klausenburg gedreht. „Das war natürlich ein Tabu-Thema. Mich hat es sehr interessiert, da ich lesbische Freundinnen habe, die kein leichtes Leben führten. Ich erinnere mich, dass wir eine Miss-Wahl gefilmt haben. Und ein Transsexueller im Brautkleid hat uns seine Lebensgeschichte erzählt“.  Nach der Uni folgte ein Masterstudiengang für interkulturelle Kommunikation in Sofia, an einer Abteilung der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, zusammen mit Kollegen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Deutschland, Kanada, Mazedonien und dem Kosovo. Für die Abschlussarbeit wählte sie die szeklerische Autonomiebewegung in Rumänien als Thema.

2006 zog Laura nach Bukarest und arbeitete als Korrespondentin für Rumänien im Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung in Berlin (n-Ost). Dort wurden nicht nur Artikel, sondern auch Fotos verlangt. Sie machte eine Ausbildung und lernte zu fotografieren, kaufte sich einen guten Fotoapparat und Objektive. „Mit der Zeit wurde das Bild immer wichtiger für mich. Wichtiger als das Wort“.

Auf der Suche nach einer Familie

Während der Zeit als n-ost Korrespondentin berichtete Laura über viele Themen. Am meisten interessierte sie aber das Thema der Arbeitsmigration und das Drama der in Rumänien zurückgebliebenen Kinder. „Ein halbes Jahr lang habe ich in Siebenbürgen zu diesem Thema recherchiert, Kinder interviewt, deren Eltern im Ausland arbeiten, mit Großeltern und Verwandten gesprochen, die auf sie aufpassten. Ich war beim Kinderschutz, habe Psychologen, Lehrer und Berater ausgefragt“. So entstand die Reportage „Die elternlose Generation“. n-ost verkaufte sie an mehrere Publikationen in Deutschland und in der Schweiz.

Der Beitrag gewann den Medienpreis der Kindernothilfe, eines der größten christlichen Hilfswerke in Deutschland und den Journalistenpreis Osteuropa des Martin-Luther-Bunds aus Deutschland. Irgendwie ließ das Thema die junge Journalistin nicht los. „Ich fühlte, dass ich den Kern der Wahrheit noch nicht gefunden hatte“, erinnert sie sich. Inzwischen arbeitete sie schon als Regieassistentin für deutsche Doku-Dramen und es wurde ihr langsam klar, dass nur die Schaffung eines Dokumentarfilms ihr die Antwort auf alle Fragen liefern würde. „Mit Hilfe der Saxonia-Stiftung, der ich sehr dankbar bin, habe ich mir die notwendige Apparatur gekauft, um zu filmen. Ich wollte eine Familie suchen und ihre Geschichte erzählen. Es sollte aber kein sensationeller Fall sein, über den die Medien berichten. Ich wollte eine normale Familie“. Ein Jahr lang fuhr die Journalistin durch das Land. Sie organisierte Film-Workshops in Schulen. „Ich habe viele Kinder getroffen. Es waren ganz normale Kinder, mit Wünschen und Träumen, mit besseren oder schlechteren Noten, mit Handys und coolen Klamotten. Aber ich fühlte eine Art Traurigkeit in ihnen“. In Sighetu Marma]iei, Maramuresch, fand Laura dann die gesuchte Familie. Ani, eines der Mädchen in der Familie, die an ihrem Workshop teilgenommen hatte, lud sie an einem Nachmittag nach Hause ein. Nachdem Laura die kleinere Schwester Sanda und die Großmutter kennenlernte, war ihre Entscheidung klar.

Drei Jahre mit Ani und Sanda

Laura hat Ani und Sanda drei Jahre lang gefilmt. Sie hat bei ihnen gewohnt, mit ihnen am selben Tisch gegessen und erfahren, was in ihnen vorgeht. „Nie habe ich meine Meinung gesagt über ihre Familiensituation. Nie habe ich meine Gedanken geäußert über das riesige Haus, das die Familie getrennt hat. Mein Ziel war nicht, zu urteilen, sondern zu beobachten. Solange du dich in das Leben der Leute einmischst, erzählst du nicht mehr ihre eigene Geschichte“, meint die junge Filmemacherin. „Die Mädchen waren gar nicht kamerascheu. Meine Kamerafrau Ancuţa Iordăchescu und ich waren beim Filmen sehr diskret. Wir haben die Mädchen non-stop gefilmt, sie haben mir ihre intimsten Gedanken erzählt“, sagt Laura. In drei Jahren sammelten sich rund 115 gefilmte Stunden. Zusammen mit der Cutterin Dana Bunescu hat Laura ein halbes Jahr am Film geschnitten und davon 76 Minuten ausgewählt. Die Familie Berindea durfte den Film als Erste sehen. Im Herbst 2012 feierte „aici...adică acolo“ beim Astra Film Festival in Hermannstadt Premiere.

Bei der Vorstellung waren einige Lehrer und Kollegen aus der Schulzeit anwesend. Nach der Premiere tourte der Film zwei Jahre lang durch die Welt, konnte in Sarajevo, New York, Island, Spanien, Italien, Estland oder der Türkei auf der Leinwand gesehen werden. „Ich kann die Orte gar nicht aufzählen, wo er überall gezeigt wurde“, sagt Laura. Doch nicht nur auf Festivals war der Film zu sehen, sondern auch in Schulen und Institutionen in Rumänien und im Ausland. Laura hat ihren ersten Film fast überallhin begleitet und an den Publikumsgesprächen teilgenommen. „Es war besonders rührend, wenn die Leute nach dem Film mit Tränen in den Augen zu mir kamen und sagten, dass die Geschichte auf der Leinwand ihre eigene Geschichte seit. Besonders in Rumänien sind die Leute von dem Thema sehr angetan“, erzählt Laura. 2013 erhielt „aici...adică acolo“ den Preis für den besten rumänischen Film beim Internationalen Filmfestival „Transilvania“ (TIFF) in Klausenburg.

Die Rückkehr der Eltern

Doch der wertvollste Preis war für Laura ein anderer: nach elf Jahren in Madrid sind die Eltern von Ani und Sanda nach Hause zurückgekehrt. Laura verwaltet jetzt die Facebook-Seite des Films und ist mit der Familie Berindea weiterhin in Kontakt. Manchmal erhält sie per Post Pakete mit Speck und Nüssen aus Sighetu Marmaţiei. Zu ihren Zukunftsplänen gehört natürlich ein neuer Film. „Vielleicht wird er auch über Kinder sein“. Das wichtigste für die junge Filmemacherin bleibt aber die Zeit mit „ihrer“ Familie. Die Mädchen sind inzwischen junge Frauen geworden. Ani, 23, wird in diesem Sommer ihren langjährigen Freund Ionuţ heiraten, der als LKW-Fahrer in Deutschland arbeitet. Das junge Paar hat vor, ins Ausland zu ziehen. Sanda lernt jetzt an der Uni in Sighetu Marmaţiei und wohnt mit den Eltern im alten Haus. Das neue Haus ist noch immer eine Baustelle. Es gibt kein Geld, um es fertig zu bauen.