Mit einem Lächeln Nützliches fürs Leben lernen

Pilotschulen sollen Rumäniens Schulsystem ins 21. Jahrhundert bringen

Im Smart Lab Măgurele werden junge Leute auf den Stand der Herausforderungen der digitalen Welt gebracht. Fotos: ww.inaco.ro

Im Smart Lab von INACO: Lernen durch Erleben und Entdecken – so macht Schule Spaß.

Nur 30 Prozent von dem, was man liest, bleibt im Gedächtnis haften, und nur 20 Prozent von dem, was man hört, sagen Experten. Doch es gibt Methoden, effizienter zu lernen: durch neugieriges Entdecken, durch aktive Beteiligung des Schülers an der Gestaltung des Unterrichts oder durch Vermitteln von Fähigkeiten, die ihn auf das Leben und die berufliche Zukunft vorbereiten und deswegen auch persönlich interessieren. Statt dessen sind die Lehrpläne an Rumäniens Schulen überfrachtet und unflexibel. Es wird zu viel Wert auf Auswendiglernen und abstraktes Wissen gelegt. Selbst hingebungsvolle Lehrer haben kaum die Möglichkeit, den Unterricht den wahren Bedürfnissen ihrer Schüler anzupassen, die sich von Schule zu Schule, von Region zu Region stark unterscheiden können. Doch wenn Schule beim Schüler nicht ankommt, wenn das Gefühl vorherrscht, dass man nur für Noten und Zeugnisse lernt, dann häufen sich gelangweilte Schulschwänzer, frustrierte Schulabbrecher und junge Leute, die auf die Arbeitswelt nicht vorbereitet sind. Oder jene, die überhaupt nicht wissen, was sie interessiert, begeistert, motiviert  was sie mal werden wollen.

Wenn Schule am Schüler vorbeigeht, dann wird Rumänien weiterhin mit „funktionellen Analphabeten“ glänzen – jene, die Gelerntes nur blind wiedergeben, aber nicht umsetzen oder anwenden können. Fast 40 Prozent sind es laut Regierungsberaterin Liliana Romaniuc – die höchste Rate in der EU! Dann werden wir weiterhin im internationalen PISA-Vergleich so katastrophal abschneiden wie 2015: Nur ein Viertel der Schüler lag im Bereich Naturwissenschaften auf der Skala von 1 bis 6 über 2, in Estland waren es 75 Prozent. Doch dies ist das Innovationspotenzial der Zukunft!  „Die Talentierten, die das Gefühl haben, sie können ihr wahres Potenzial in der Heimat nicht entfalten, wandern aus oder verschwenden ihre Fähigkeiten“, warnt Andreea Paul von der NGO INACO.

Doch nicht nur Lernen zählt, auch Werte soll die Schule vermitteln, meint Răzvan Orășanu, Vorsitzender der NGO „Ține de Noi“. Mit Erstaunen habe er zur Kenntnis genommen, dass im nationalen Lehrplan keinerlei Werteset an der Basis steht und auch nicht am Lehrstoff zu erkennen sei. „Wenn Ehrlichkeit ein wichtiger Wert wäre, auf dem wir aufzubauen versuchten, dann hätten wir jetzt keine Copy-Paste Gesellschaft bis ins höchste staatliche Niveau.“
Am 11. Juni lud die NGO „Ține de Noi“zusammen mit der Hanns Seidel Stiftung (HSS) zur Online-Konferenz zum Thema „Pilotschulen und die Zukunft der Bildung in Rumänien. Zwischen aktueller Untätigkeit und Alternativen zum Lehrplan“ ein. Anlass ist Artikel 26 aus dem Schulgesetz 1/2011, der die Gründung von Pilotschulen per Regierungsentscheidung ermöglicht, doch seit neun Jahren nicht aktiviert wurde. Neun Jahre lang ist nichts passiert! Dabei seien Änderungen dringend nötig, darüber sind sich die zur Diskussion geladenen Experten einig.

Vorbereitung auf globale Herausforderungen

Lernen und Werte – was noch soll Schule vermitteln? Auf jeden Fall soll sie die junge Generation auf moderne globale Herausforderungen vorbereiten. Eine davon ist die zunehmende Digitalisierung: „Unsere Kinder müssen auf dem internationalen Parkett dieselben Chancen haben wie die aus Japan oder den USA“, argumentiert Andreea Paul. INACO hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, mithilfe von EU-Geldern Smart Labs an alle Schulen zu bringen, beginnend mit der Grundschule, damit allen Kindern gratis der Zugang zur digitalen Ausbildung offen steht. Den Behörden hat Paul ein nationales Programm zur Einführung digitaler Bildung an allen Schulen vorgeschlagen, das aus EU-Geldern finanziert werden soll. Modelle für dieses ehrgeizige Vorhaben gibt es bereits: In den im Măgurele Science Park und am Colegiul „Grigore Moisil“ mit privaten Geldern eingerichteten digitalen Labors, in Kürze soll auch in Călărași eines entstehen, lernen Kinder mit großen Augen und einem faszinierten Lächeln: Sie experimentieren am 3D-Drucker, basteln kleine Roboter oder werden mit Techniken zum Schnelllernen konfrontiert. Die Kinder machen begeistert mit und sind hoch motiviert. Warum kann Schule nicht immer so sein?
Freilich, ein Smart Lab kostet rund 100.000 Euro. 4 Millionen Euro wären für die Ausstattung der Schulen im ganzen Land nötig.  Doch die Finanzierung könnte mit EU-Geldern erfolgen, erklärt Paul.

Auch Liliana Romaniuc hält digitale Alphabetisierung für dringend nötig. Antonia Pup, Präsidentin des nationalen Schülerrats, kritisiert: „Digitalisierung wäre an rumänischen Schulen überhaupt nie eingeführt worden, wenn die Pandemie nicht dazu gezwungen hätte.“ Seither ist sie auf einmal ein großes Thema. Dabei hatten viele Schulen während der Zeit des Lockdowns gute Initiativen, lobt Simona David-Crisbășanu, Vizepräsidentin der „Coaliția pentru Educație“, einem Zusammenschluss von NGOs, die sich für mutige Visionen im Bereich Schulbildung einsetzen.

Pioniere für das Schulsystem der Zukunft

Pilotschulen sollen die Schule vom 19. ins 21. Jahrhundert bringen, erklärt Marian Staș  vom „Clubul Liderii Mileniului Trei“, ehemaliger Berater des Bildungsministeriums, das Konzept. Als Vorreiter sollen sie neue Modelle des Unterrichtens und neue Inhalt im Lehrplan entwickeln, die später das gesamte Schulsystem reformieren helfen. Staș zählt zu den begeisterten Unterstützern der Idee. Seine Kündigung im Bildungsministerium am 14. Mai motivierte er in der Presse mit den Verzögerungen des Projekts wegen überbordender Bürokratie und mangelnder Entscheidungsfähigkeit an der Spitze.
Dabei scheint die Umsetzung gar nicht so kompliziert. Denn Pilotschulen sind nicht etwa neu gegründete Schulen, vermittelt Staș, sondern bestehende Bildungseinrichtungen, die die Möglichkeit erhalten, auf freiwilliger Basis in einzelnen Parallelklassen zum gewöhnlichen Unterricht selbst entwickelte Visionen umzusetzen und für einige Jahre zu erproben.

„Wir brauchen Pilotschulen“, bekräftigt Șerban Iosifescu, Präsident der Rumänischen Agentur für die Qualitätssicherung des Unterrichts im voruniversitären Schulwesen (ARACIP). „Doch muss man klar definieren, was man verbessern will: die Rate der Schulabbrecher, die schlechte Teilnahme am Unterricht oder die Ergebnisse bei der internationalen Bewertung.“ Wichtig sei auch die institutionelle Kapazität zur Durchführung und Erfolgskontrolle. Hierfür müssten Management nach Leistung und neue Finanzierungsmodelle eingeführt werden, schlägt er vor. Wertvolle Instrumente für die wissenschaftliche Analyse des Erfolgs könnten jedoch auch Masterarbeiten und Doktorarbeiten über Pilotschulen sein, bemerkt die Direktorin des Lyzeums in Chitila, Ștefania Duminica.

„Das Ziel einer Pilotschule muss klar festgelegt sein“, ergänzt Madlen Șerban, ehemaliger Vorsitzende der „European Training Foundation“. Wichtig sei zudem eine Dezentralisierung des Systems, doch auch hierfür müssten genaue Parameter festgelegt werden. Denn der Staat müsse nach wie vor die Verantwortung tragen. Schüler, die an einem Pilotprojekt teilnehmen, dürfen später nicht benachteiligt sein, im Falle eines Scheiterns des Projekts oder wenn der Schüler die Schule wechselt und wieder ins konventionelle System integriert werden muss.

Etwa acht Jahre seien für jedes Schulexperiment vorgesehen, erklärt Marian Staș. „Doch Pilotschulen enden niemals dort, wo sie begannen“, versichert er. „Das Ganze ist ein offener Prozess.“ Und: „Pilotschulen schaffen Druck für eine andere Realität im öffentlichen System.“

Zeit für Paradigmenwechsel

Drei Aspekte sind essenziell beim Konzept einer Pilotschule, erklärt Staș weiter: „Erstens, dass Werte kultiviert werden. Zweitens, dass es den Kindern nützt. Und drittens, dass es ihnen gefällt.“ Wichtig seien aber auch Paradigmenwechsel: „Schüler müssen lernen, zu wählen, auch wenn sie anfangs nicht wissen, was sie wollen. Im Kommunismus durfte man genau dies nicht  – Lernen zu wählen“, nennt er als Beispiel. „Doch bis heute hat sich dieses Paradigma geändert.“

Lernen zu wählen – dies ist auch eine der Herausforderungen für die Betreiber von Pilotschulen. Am Anfang lähmt die Unentschlossenheit, das Unwissen, das Neue. Doch sollte man sich nicht mit Analysen im Voraus verrückt machen, rät Staș. „Jetzt sitzen wir auf dem Trockenen  – aber der Prozess muss beginnen. Sonst machen wir wieder nichts  – und ärgern uns nach 15 Jahren, dass nichts passiert ist!“

Wer etwas anpackt, demonstriert Initiative und Führungsfähigkeit. Auch in diesem Bereich ist ein Paradigmenwechsel nötig: Es geht nicht darum, alles von Anfang an perfekt zu machen, sondern etwas zu bewegen, zu bewirken, gemeinsam umzusetzen, zu korrigieren und zu optimieren. „Veränderungen darf man nicht mit dem Stift am Schreibtisch machen, sondern in der Praxis“, sagt Expertin Paloma Petrescu, Chemielehrerin und  ehemalige Staatssekretärin. „Ich habe an vielen Projekten teilgenommen und festgestellt, auch auf dem Land wissen Schüler, was sie wollen! Schule kann sich mithilfe von Schülern ändern.“ Dies bestätigt auch Pavel Cerbușca, Vorsitzender des Verwaltungsrats am theoretischen Lyzeum „Aristotel“ in Chișinău (Republik Moldau), das seit drei Jahren erfolgreich ein Pilotschulprojekt betreibt: „Wir haben alles selbst entwickelt und kein bestehendes Modell übernommen. Heute will niemand mehr zurück ins alte System.“

Ein neues Konzept für Lehren und Lernen

Lernen muss faszinieren – dann verlangt der Schüler ganz von alleine nach mehr. So ist es Andreea Paul ergangen, nachdem sie die „Școala Exponențială“, ein Vorgängerprogramm der Smart Labs, als außerschulisches Programm angeboten hatte. Die Kinder hatten sie bestürmt, das Programm unbedingt auch an die Schulen zu bringen. Doch es geht nicht nur um die Förderung der besonders Begabten oder Interessierten. Cerbușca meint, als Pilotschulen dürften nicht nur Schulen ausgewählt werden, die sowieso gute Ergebnisse haben. „Es muss Diversität geben “, bekräftigt auch Simona David-Crisbășanu. „Benachteiligte Kinder dürfen nicht ausgeschlossen sein.“

Aus diesem Grund sei eine Dezentralisierung essenziell, auch in der Verwaltung. Schulen müssen sich an den Bedürfnissen der Kinder, an der lokalen Situation, am Bedarf, vielleicht auch an der lokalen Situation der Wirtschaft entwickeln. Dazu gehört eine Einbindung der Schüler in die Gestaltung des Lehrplans. Antonia Pup bekräftigt, dass sich Schüler genau dies wünschen – mehr Mitspracherecht: „Dann sind wir auch motivierter.“

In Pilotschulen werden auch die Lehrer zum Schüler: „Es muss eine Prozedur für Unterricht und Lernen entwickelt werden“, erläutert Liliana Romaniuc. Als Beispiel nennt sie das Prinzip des „Visible Learning“ (sichtbares Lernen) nach John Hattie. Einer der Hauptaspekte der 2009 erstmals publizierten Methode ist ein neues Verständnis von der Rolle des Lehrers, der seine eigene Leistung zu bewerten lernt, indem er sie aus Sicht des Schülers betrachtet. „Visible Learning“ liefert detaillierte Instruktionen, wie man Lektionen vorbereitet, vermittelt und dann den Erfolg analysiert. Ein wichtiger Aspekt ist Feedback.
„Habt keine Angst, Pilotprojekte durchzuführen“, gibt Andreea Paul den Konferenzteilnehmern mit auf den Weg. In den Smart Labs erlebt sie täglich, wie Kinder mit einem Lächeln auf den Lippen Nützliches fürs Leben lernen.