Mutter und ihr Friedhofsblümchen

Aus Erinnerungen an die Deportation

Nach mehrwöchiger Quarantäne und einem halben Jahr Arbeit auf Bauernhöfen in der „Ostzone“, machten sich viele Entlassene aus der Deportation über Österreich auf den Heimweg. So entstand dieses Bild einer Gruppe Jahrmarkter aus dem gleichen Krankentransport und Lager 1947 in Wien, bevor sie sich in kleineren Gruppen Richtung Banat aufmachten. Foto: privat

Meine Mutter zählte zu denen, die nicht gern über die Deportation sprachen. Aber danach gefragt, hat sie recht viel berichtet. Irgendwo in meinem Archiv muss noch eine Tonbandaufnahme existieren mit Bericht-Ausschnitten, weil ich ihre Stimme festhalten wollte. Durch die Umsiedlung und das viele Dienstlich-Bukowinische ist jedoch vieles zeitweilig verdeckt und verschollen …

Leider ist viel vom Erzählten vergessen, denn für uns Kinder bzw. Jugendliche war das damals nicht so wichtig, meist nicht nachvollziehbar, die Tragweite nicht vorstellbar. Daher wurde oft nicht aufmerksam zugehört. Einige Aspekte sind jedoch unauslöschlich in der Erinnerung haften geblieben, weil sie wiederholt erzählt wurden oder für mich doch etwas Besonderes bedeuteten. Hier einige davon.

Das beste Beispiel ist ein Datum, eingebunden in den alten ländlichen Bauern- und Kirchenkalender: der Jahrestag Maria Lichtmess. Jedes Jahr erinnerte sie sich und uns daran, dass sie an dem Marienfeiertag des Lichtes und der Zuversicht nach langer, schwieriger Fahrt in „Russland“ im erbarmungswürdigen Unterkunftsort Lager Iljanowka mit einem großen Bahntransport angekommen sei.

Dann waren es außer den primitivsten Unterkunfts- und hygienischen Verhältnissen die Erlebnisse, die alle Betroffenen immer wieder aufgezählt haben: der plagende Hunger, die eisige Kälte bei ungewohnt schwerer Arbeit im Steinbruch, beim Gleisbau oder beim Transport der Bruchsteine und Erde mit von Hand geschobenen „Waggonettln“. Viel sprach sie über die Krankheiten, das Ungeziefer und das Sterben.

Eine andere Besonderheit war die, dass meine Mutter überzeugt war, dass sie angeblich nicht auf der Liste stand (es hat diese unseres Wissens bis heute keiner im Dorf zu Gesicht bekommen!), denn man hat sie erst spät vom Mittagstisch bei ihren Pfleger-Eltern in der Karlsgasse abgeholt. Sie war unvorbereitet abgeführt worden. Meine Mutter Annemarie Geier hatte drei minderjährige Kinder, das kleinste noch keine zwei Jahre alt. Es hieß in der Familie oft, dass sie für eine andere Person gehen musste, damit die vorgegebene Zahl laut Liste stimmte.

Zu den großen Belastungen zählten das Dauer-Heimweh und die berechtigte Sorge um die Kinder. Es herrschte totale Nachrichtensperre. Wenn sie über diese seelische Last sprach, verwies sie auf den Unterschied, den es in ihren Augen zwischen Schwaben und Siebenbürgern gab. Sie behauptete, dass die Sachsen nicht so schwermütig waren wie die Banater, sich durch Unterhaltung, viel Gesang und sogar Tanz abzulenken versuchten, während die Schwäbinnen in der „Ecke saßen und weinten“. Ebenso betonte sie den Verhaltensunterschied Frauen-Männer. Die letzteren, vor allem die älteren, ließen sich gehen, die „schweren Raucher“, die ihr Brot für Zigaretten eintauschten, zählten mit zu den frühesten Toten. Da half auch die Hilfsbereitschaft russischer Männer nicht, die oft „ihre letzte Zigarette“ mit den deportierten Arbeitskollegen teilten.

Die Dauer-Unterernährung, die wiederholten Erkrankungen und schweren Gliedmaßenerfrierungen führten dazu, dass unsere Mutter nach zwei Jahren als arbeitsunfähig eingestuft und 1947 zur Entlassung mit einem Krankentransport vorgeschlagen wurde. Diese Leidensspuren begleiteten sie ein Leben lang, sie wurden immer akuter und waren fortschreitend. Die unheilbare Gicht an Händen und Füßen wurde in den letzten Lebensjahren zu einer schweren Mobilitätsbehinderung, Schmerzen waren ständige Begleiter und die betreuende Pflegehilfe durch die Tochter war nötig. Eben die jüngste Tochter Anna, die damals im Januar kurz vor dem zweiten Geburtstag stand und die sie auf dem Arm hielt, als man sie abholte. Das Kleinkind hatte Keuchhusten, wie die Mutter ihr später erzählte.

Der große Krankentransport 1947 hatte die Schwerkranken jedoch nicht nach Hause, nach Rumänien, gebracht – angeblich hieß es damals von sowjetischer Seite, alle sollen zu „ihrem Volk“ –, sondern über Frankfurt an der Oder in die damalige sowjetische Besatzungszone. Nach einer Quarantänezeit erfolgte für unsere Mutter und weitere Jahrmarkter Landsleute die Zuteilung auf Ortschaften im Raum Dresden. Viele Heimkehrerinnen erholten sich relativ schnell und dachten bald an Flucht in Richtung Heimat bzw. zu den Kindern oder Eltern.

Auch aus der Zeit des Aufenthalts in der „Ostzone“ vermittelte mir meine Mutter einige unvergessene Erlebnisse. Der Ackergrund war dort im Vergleich zur Banater oder ukrainischen Schwarzerde für sie erschreckend schlecht für den Feldbau. Da mussten die Landwirte Steine vom Acker einsammeln, etwas bis dahin nie Gesehenes. Dann pflegten die Bauern den Misthaufen vor dem Wohnhaus zu haben, davon war sie entsetzt und konnte kein Verständnis aufbringen oder sinnvolle Erklärung finden. Die Häuser und Hofstellen lagen recht weit voneinander entfernt im Unterschied zur Banater Häuser-Nachbarschaft und engeren Gemeinschaft.

Ein dritter Aspekt aus dieser Zeit wirkte jedoch weit über die Erinnerung, sehr nachhaltig und konkret, denn er hatte seelische Wunden hinterlassen: Von vielen Dorfbewohnern wurden die Entlassenen nicht als Deutsche akzeptiert, sondern als rumänische Zigeuner abgestempelt. Das hatte zur Folge, dass unsere Mutter nicht nach Deutschland aussiedeln wollte. Erst nachdem die zwei ältesten Kinder mit ihren Familien ausgereist waren und nach der politischen Wende in Rumänien, als die Ausreise leichter geworden war, willigte sie 1990 ein. Sie fand in Rastatt in der Nähe der Töchter-Familien eine neue Heimat und mit 81 ihre letzte Ruhestätte auf dem dortigen „Waldfriedhof“. Die Aussiedlung hat sie nicht bereut: „Dort wär ich net so alt wor!“

Viele Erinnerungen übermittelte meine Mutter in Verbindung mit der Flucht nach Hause, die erst beim zweiten Versuch gelang. Aus Wien brachte sie für die Kinder als Erinnerung eine farbige Ansichtskarte mit, die lange in der Familie überlebt hatte: eine breite Faltkarte mit dem Riesenrad. Und ein Foto, das es in allen Familien der Betroffenen gibt. Von Wien machten sich die kleinen Gruppen Jahrmarkter im Herbst 1947 auf den Heimweg. Nachts überschritten die Frauen und Männer bei Tschanad illegal die ungarisch-rumänische Banater Grenze, an der es damals Schießbefehl gab. Aus der Grenzgemeinde Deutsch-Tschanad wurden die versteckten Rückkehrer von benachrichtigten Angehörigen abgeholt und traten dann die Heimfahrt mit der Bahn oder mit dem Pferdewagen an.

Ob meine Mutter ihre Kinder noch erkannt hat, ist nicht überliefert. Jedenfalls kamen die drei nun wieder nach Hause, denn bis dahin waren sie getrennt in der Obhut von Verwandten bzw. Nachbarn in der Karlsgasse. Bei der Pfleger-Großmutter waren schon Kinder der anderen deportierten Schwestern meiner Mutter hinterlassen. Angeblich soll das nun strengere Regime der Mutter nach einer Ohrfeige dazu geführt haben, dass die größere Tochter ihr sagte, sie solle doch wieder gehen …

Eine Folge der Deportation war sehr wohl auch eine baldige ungewollte oder gewollte Schwangerschaft. Ihr folgte im Spätherbst 1948, bei der schweren Feldarbeit des Maislaubschneidens mit der Sichel, die Geburt des vierten Kindes, das letzte und kleinste in jeder Hinsicht, „de Zammkratz“, wie es in der Umgangssprache und auch etwas ironisch in der Mundart hieß. Als eine alte Nachbarin („die alt Bloofärwersch“) den schwächlichen Neugeborenen und über seiner Nasenwurzel eine sehr deutliche, auffallend sichtbare Ader von der Stirne her sah, urteilte sie erfahrungsgemäß folgender-weise: „Des is e Herrgottsblimche“, also ein „Friedhofskind“. Das lebt nicht lange! Hinzu kam, dass die ausgelaugte Mutter keine Milch zum Stillen bieten konnte, für Kuhmilch war kein Geld. Die Lösung war eine Ziege. Die sehr fette Ziegenmilch hinterließ jedoch eine lebenslange Milchallergie bei dem „Bu“…

Das von Geburt an so „gezeichnete“ Kind und mit der im Alter abklingenden Butter- und Milcherzeugnisse-Allergie schreibt jetzt diese Geschichte auf für die, die nach uns kommen.

Wie schlimm die Jahre der Deportation aber für die meisten Betroffenen waren, dafür steht hier zum Abschluss eine der härtesten Aussagen meiner Mutter, die vom Wesen her immer mild, nachsichtig und gutmütig war: In einem ganz anderen Kontext fragte ich nach dem Schicksal der jüngsten Schwester meiner Mutter, die jung und ledig an einer verpfuschten Abtreibung gestorben war. Dazu meine Mutter: „Die hot wenichstens nemmi uf Russland misse!“