Nachruf auf Heinrich Stiehler

* 6. September 1948, Leipzig † 12. April 2023, Klosterneuburg

Foto: privat

Nicht nur Romanisten und allgemeine Literaturwissenschaftler mussten in der vergangenen Woche einen schweren Verlust hinnehmen: Prof. Heinrich Stiehler ging am 12. April 2023 im Alter von nur 74 Jahren unerwartet von uns. Mit ihm verlieren wir einen hochgeschätzten Kollegen und Freund, der einer ganzen Reihe von Interessierten die romanischen Literaturen, allen voran die rumänische und die französische Literatur und Sprache, nahebringen konnte. 

Heinrich Stiehler – genauer Heinrich Alfred Wolfgang Stiehler oder einfach „Bambi“ – wurde am 6. September 1948 in Leipzig geboren. Seine Familie siedelte noch vor dem Bau der Berliner Mauer nach Frankfurt am Main über. Nach seinem Staatsexamen an der Philosophischen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt und der Promotion mit summa cum laude im Jahre 1978 entwickelt sich die Beschäftigung mit der Literatur zur ewigen Leidenschaft und Triebfeder in seinem Leben. Schon im Alter von 24 Jahren verfasste er einen bis heute viel zitierten Aufsatz mit seinen Forschungsergebnissen zu Paul Celans Jugendbiographie. Zahlreiche Studienaufenthalte führten Heinrich Stiehler unter anderem 1969 nach Frankreich (Paris-Nanterre) und 1971 nach Rumänien (Sinaia, Bukarest). 

Als Universitätsassistent am Romanischen Seminar der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main schloss er von 1973 bis 1977 ein Aufbaustudium in Massenkommunikation in Frankfurt an, bevor es ihn als Staatsstipendiat 1978 nach Rumänien und 1983 nach Frankreich zog. 

Mitte der 1980er konzentriert sich Stiehlers wissenschaftliches Interesse zunehmend auf den französischsprachigen Schriftsteller rumänischer Herkunft Panaït Istrati, und er beginnt, dessen Gesamtwerk in 14 Bänden in der Büchergilde Gutenberg herauszugeben.

Sein Wunsch, nach dem Studium ein Leben in seinem geliebten Frankfurt fortzusetzen, musste er aufgeben, da sich dort die Möglichkeiten für eine universitäre Karriere in seinem Fachbereich äußerst ungünstig gestalteten. Durch das Angebot eines Lehrauftrags im Kärntner Klagenfurt war der Ortswechsel nach Österreich klar. Frankfurt blieb er seitdem immer wieder durch Kurzaufenthalte verbunden. 

An der Universität Klagenfurt habilitierte sich Prof. Stiehler 1990 und ging von dort aus 1999 als Stipendiat nach Jassy/Ia{i an die Rumänische Akademie (Stiftung Menachem H. Elias). 2002 wird er für einige Monate Studiendirektor an der École Pratique des Hautes Études in Paris, bevor er schließlich 2005 als außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Romanistik der Universität Wien arbeitete, wo er als Literaturwissenschaftler für Französisch und Rumänisch bis zu seiner Pensionierung Generationen von Studierenden prägte. Kultur, Sprache und Literatur der Bukowina, insbesondere die deutsch-rumänische Minderheitenliteratur, sollten bis zuletzt einen Schwerpunkt seiner Arbeit bilden. 

Das wissenschaftliche Schaffen Heinrichs zeichnet sich durch eine breite Palette an Veröffentlichungen aus, für die er als Autor oder Mitautor auf vielen Gebieten der Romanistik verantwortlich zeichnete. Seine Publikationen umfassen Beiträge zur französischen, rumänischen, italienischen und deutschen Literatur sowie zu den Beziehungen von Literatur und Massenmedien, Studien zu Oskar Walter Cisek und Paul Celan, zur Geschichte des rumänischen Antisemitismus und der rumänischen Schoah (Theodor Kramer Gesellschaft, 2019), aber auch zur rumäniendeutschen Literatur und zur literarischen Mehrsprachigkeit.

Neben seinen Verdiensten als Literaturwissenschaftler sind seine Übersetzungen bedeutender Werke der rumänischen Literatur ins Deutsche hervorzuheben. Stiehler war bis zuletzt Vizepräsident der „Association Les Amis de Panaït Istrati“ mit Sitz in Lyon. Auch seine letzten Bücher galten Panaït Istrati („Politische Spätschriften“, Berlin 2020). Sehr schwer muss es für ihn gewesen sein, die wechselnden politischen Positionen des Autors angemessen einzuordnen und zu bewerten.

Bambi war nicht nur ein vorzüglicher Wissenschaftler und führender Romanist, sondern auch ein außerordentlich bescheidener Mensch, der auf kritische und ehrliche Freundschaft Wert legte und stets zu einem offenen Gespräch mit seinem Gegenüber bereitstand. Dabei war er immer direkt, emotional, unprätentiös, warmherzig und humorvoll. Wer in Wien studierte oder unterrichtete, wird nie vergessen, wie er zwischen seinen Vorlesungen auf den Hof des Alten AKH hinaustritt und sich auf einer der Steinsäulen niederließ, die den Eingang zur Romanistik markierten. So ungemütlich diese Steinsäulen waren, so gerne hat er darauf gesessen und sich von Studierenden umscharen lassen, mit denen er in den Pausen bei einer Zigarette philosophierte und dabei wie kein anderer sein Umfeld zu inspirieren und zum Nachdenken anzuregen vermochte. Seine Gesprächspartner mögen sich gelegentlich gefühlt haben, als lebten sie hinter dem Mond, denn Bambi war stets auf dem Laufenden bezüglich der tagespolitischen Ereignisse in Europa und der Welt und hatte sich immer als Erster eine fundierte Meinung gebildet, wofür er regelmäßig „Die Zeit“ las und mindestens in drei Sprachen Nachrichtenmagazine und Talkshows verfolgte. Doch bei aller Wissenschaft und Literatur kam die Gemütlichkeit nie zu kurz bei ihm, meist bei einem Gläschen Weißwein beim Heurigen mit Kollegen, Studenten, Freunden oder Verwandten, oder zu Hause mit den rumänisch-französischen Kulinaria seiner geliebten Sanda, der nun unser aller Mitgefühl gehört.

Klosterneuburg am 24. April 2023


Aus dem Werk Prof. Stiehlers
Paul Celan, Oscar Walter Cisek und die deutschsprachige Gegenwartsliteratur Rumäniens. Ansätze zu einer vergleichenden Literatursoziologie. Peter Lang, Frankfurt a. M. 1979.
Panaït Istrati. Werkausgabe in 14 Bänden. Eingeleitet und herausgegeben von H. Stiehler. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main (Olten), Wien, 1985-1993.
Panaït Istrati. Von der Schwierigkeit, Leben zu erzählen. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt, 1990.
Literarische Mehrsprachigkeit. Eingeleitet und herausgegeben von H. Stiehler. Contribuții Ieșene de Germanistică VI. Editura Universității „Al. I. Cuza“, Iași – Hartung Gorre Verlag, Konstanz, 1996.
Littérature et Mass-Médias: Choderlos de Laclos, Les Liaisons dangereuses. Timpul, Iași, 1997.
Références françaises et références allemandes en concurrence dans la constitution de l’identité culturelle roumaine (19e et 20e siècles). Editura Universității „Alexandru Ioan Cuza“, Iași, 2004.
Einführung in die rumänische Sprach- und Lieraturgeschichte. (in Zusammenarbeit mit Klaus Bochmann). Romanistischer Verlag, Bonn, 2010.
Die Sprechen der Roma in der Romania/Les langues des Rroms/Las lenguas de los gitanos (Hg., in Zusammenarbeit mit Georg Kremnitz und Max Doppelbauer). Praesens Verlag, Wien, 2012.
Panaï Istrati. Nerrantsoula. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Heinrich Stiehler. Arco Verlag, Wuppertal, Wien, 2018.
Panaït Istrati, Pagini de corespondență. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Zamfir B²lan. Übersetzt aus dem Französischen und Bibliographie von Carmen }urcan. Übersetzt aus dem Deutschen von Heinrich Stiehler. Muzeul Brăilei – Editura Porto Franco, Gala]i, 1993 (Übersetzung).
Panaït Istrati: Politische Spätschriften 1934/1935. Forum: Rumänien , Band 39, hg. von Thede Kahl Valeska Bopp-Filimonov, Larisa Schippel. Berlin: Frank & Timme, 2020.


Für einen Überblick über das akademische Leben und das wissenschaftliche Werk Heinrich Stiehlers siehe auch in der Festschrift: Heinrich, Carola; Kahl, Thede (2018): Litterae – magistra vitae. Heinrich Stiehler zum 70. Geburtstag (Forum: Rumänien 38), Berlin: Frank & Timme.