Natur und Mensch im Donaudelta

Thede Kahl legt eine informative und reich bebilderte Landeskunde zum Donaudelta vor

Neben der Kirchenburgenlandschaft Siebenbürgens und den orthodoxen Moldauklöstern zählt das Donaudelta zu den Regionen Rumäniens, die an Land und Leuten interessierten Menschen und besonders Reisenden auch im Ausland wohl am besten bekannt sind. Das Delta selbst, aber auch Städte wie Tulcea und Sulina sind heute längst touristische Attraktionen des Landes. Der Geograf und Romanist Thede Kahl aus Jena hat nun eine Landeskunde zum Donaudelta vorgelegt, die Wissenschaftler und Laien gleichermaßen erfreuen kann und allumfassende wie substanzielle Informationen zum Donaudelta bereithält.

Kahl gliedert sein Buch in zwei Teile. Im ersten Hauptabschnitt („Natur“, S. 11-105) geht er auf das Relief und die Entstehung des Donaudeltas, Klima, Lage und Gestalt, die geografische Zonierung mit Armen und Nebenarmen, Sümpfen und Inseln sowie den Razim-Sinoe-Lagunenkomplex im Süden des Deltas ein. Er beschreibt ausführlich die Vegetation und auch die beeindruckende Flora und Fauna dieser weltweit einmaligen Naturlandschaft. Der zweite Teil widmet sich der Bevölkerung („Mensch“, S. 107-193). Hier bietet Kahl einen historischen Überblick, stellt Siedlungsgeschichte und Baustile vor, beschreibt Völker, Sprachen und Religionen und erörtert Wirtschaft und Fragen des Umweltschutzes. Ein umfangreicher Index und eine reiche Bibliografie runden den gelungenen Band ab.

Das rund 5640 Quadratkilometer große Donaudelta hat schon ganze Generationen von Wissenschaftlern, Autoren und vor allem Naturkundlern fasziniert. Es gilt als Naturparadies, ist aber auch „seit Jahrtausenden Siedlungs-, Durchgangs- und Zufluchtsgebiet für verschiedene Kulturen und Ethnien“ (S. 141). Bis ins späte 20. Jahrhundert gibt es indes wenig Literatur, denn das Reisen war dort beschwerlich bis gefährlich angesichts mancher Krankheiten wie Malaria. Mittlerweile finden sich Bildbände und Darstellungen zu Spezialthemen, doch eine Landeskunde fehlte bisher. So schließt der Band des an der Universität Jena lehrenden Südosteuropaforschers eine Lücke.

Was den Band über den Text hinaus so wertvoll macht, ist seine reiche Bebilderung mit beeindruckenden Farbfotos des Autors und Kartenmaterial, darunter eine aus dem Cover herausklappbare historische Karte. Dabei werden nicht nur Flussarme, Gebäude, Menschen, Natur und Tierwelt zu unterschiedlichen Jahreszeiten dokumentiert, sondern auch die unmittelbare geografische Umgebung bildlich erschlossen. So etwa das Măcin-Gebirge, das als das älteste Gebirge Europas gilt, oder die trockene Steppenlandschaft bei Enisala.

Kaum eine Gegend Rumäniens ist ethnisch gesehen so kunterbunt wie das Donaudelta und die Dobrudscha. Kahl zeigt auf, wie sich hier ein buntes Völkergemisch aus Griechen, Römern, Slawen, Türken und Tataren, Kosaken, Russen und Lipovenern, Wanderhirten und Rumänen entwickelt hat und wie sich diese Besiedlungswellen bis heute in den Ortsnamen spiegeln. Wobei türkische und slawische Ortsnamen wie etwa Alibeichioi, Babadag, Beidaud, Isaccea und Sarichioi bzw. Cerna, Trestenic und Prislav dominieren. Die Stadt Sulina etwa war bis Anfang des 20. Jahrhunderts mehrheitlich griechisch besiedelt. Entsprechend gibt es entlang des Sulina-Arms auch griechische Ortsnamen wie Papadia („Priesterfrau“), Monodendri („Einbaum“) oder Caloghero („Mönch“). Fotos dokumentieren frühe Siedlungen wie Histria/Istria oder die Befestigungsanlagen von Halmyris bei Murighiol und Akkerman in Bilhorod-Dnistrovskyi.

Kahl kommt nach anthropogeografischen Kriterien auf nicht weniger als zwölf Siedlungstypen im Donaudelta und seiner Umgebung, wobei im Delta selbst nicht alle Typen vorkommen. Die Palette reicht von Siedlungsspuren der frühen Donauzivilisation und Ruinen der griechischen und römischen Kolonisation über Siedlungsspuren spätantiker und frühmittelalterlicher Invasoren und mittelalterliche Händlerniederlassungen, landwirtschaftliche Steppensiedlungen und provisorische Siedlungen nicht-sesshafter Roma oder auch der Wanderhirten bis hin zu Ufersiedlungen, Kanalsiedlungen im Rahmen von Begradigungen und Ansiedlungen im Rahmen von Bevölkerungsverschiebungen im 20. Jahrhundert.

Als älteste Spuren menschlicher Besiedlung in unmittelbarer Umgebung des Deltas identifiziert Kahl die Gegend um die Seen von Razim und Sinoe. Direkt entlang der Donauarme wurden römische Siedlungen gegründet wie Noviodunum ad Istrum (heute Isaccea), Talmonium (Nufăru), Aegyssus (Tulcea) oder Salsovia (Mahmudia). Ein frühes christliches Zeugnis ist die Märtyrerkrypta aus Niculițel. Die meisten ländlichen Siedlungen im Delta und dessen Umfeld sind sehr klein mit weniger als 500 Einwohnern.

Die rumänische Besiedlung geht vor allem auf den Berliner Kongress 1878 zurück, als die Dobrudscha vom Osmanischen Reich zu Rumänien kam und planmäßig mit Rumänen besiedelt wurde. Dabei wurden auch neue Siedlungen wie Carmen Sylva und Floriile gegründet. Das Fischerdorf Periprava an der Einmündung des Kilijaarmes in das Schwarze Meer erlangte zu kommunistischer Zeit einen unrühmlichen Ruf. Dort befand sich ein Zwangsarbeitslager, in dem Gefangene unter erbärmlichsten Lebens- und Arbeitsbedingungen interniert waren.

So vielfältig wie das multiethnische Leben war auch die multireligiöse Landschaft. Es gab im Donaudelta Kirchen, Moscheen und Synagogen (wunderbare Bilder dazu S. 136 f.). Nachdem es von etlichen dieser Bauten heute kaum noch Spuren gibt, bleiben manchmal nur die Friedhöfe als Zeugen der Vergangenheit. Fotos vom Friedhof in Sulina zeugen von nicht weniger als zwölf Ethnien, die hier unabhängig ihrer religiösen Zugehörigkeit ihre Verstorbenen zu Grabe betteten, unter anderem Armenier, Chacholen, Deutsche, Griechen, Italiener, Juden, Kroaten, Lipowener, Türken, Rumänen, Russen und sogar Engländer (vgl. S. 126 f.).

Kahl zeigt auf, dass sich die ethnische Heterogenität nicht in der Architektur der Häuser widerspiegelt. Im Delta dominieren Lehm- und Schilfbauten, aber auch kunstvolle Holzfassaden selbst an einfachen Fischerhäusern. Auch hierzu sind sehr eindrucksvolle Bilder zu sehen (S. 131-134). Dabei kritisiert Kahl völlig zu Recht die geschmacklose Bauweise und die Villeninflation sowie den Bau überdimensionierter Touristeneinrichtungen besonders seit 2000 und moniert, dass diese neuen „Möglichkeiten und Mentalitäten“ mehr im Donaudelta zerstören als der Kommunismus.

In konzentrierten Porträts stellt Kahl schließlich die Völkerschaften und Ethnien des Deltas vor, ergänzt von tollen Fotos: Rumänen, Russen/Lipowaner, Ukrainer/Chacholen, Griechen, Bulgaren, Gagausen, Türken, Tataren, Roma und Xoraxaj, Juden, Armenier, Deutsche, Italiener, Ungarn, Aromunen und Meglen-Vlachen. Darstellungen zur Wirtschaft und auch Umweltschutzfragen schließen die Landeskunde ab. Im Blick auf den Fremdenverkehr erkennt Kahl vor allem den Ökotourismus, Erlebnistourismus und Kulturtourismus als Chance. Dass darin aber auch Risiken liegen, macht er deutlich.

Kahl legt einen wunderbaren Band vor, der jedem nur nahegelegt werden kann, der sich für Rumänien, die Dobrudscha und das Donaudelta interessiert.