Neuere deutsche Literatur über und aus Rumänien

Anthologie „Wohnblockblues mit Hirtenflöte“ von Michaela Nowotnick und Florian Kührer-Wielach herausgegeben

Michaela Nowotnick (Hrsg.), Florian Kührer-Wielach (Hrsg.): „Wohnblockblues mit Hirtenflöte. Rumänien neu erzählen“, Wagenbach Verlag, 2018, 240 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-8031-2794-5

Erzählungen und Romanauszüge, Reisebeschreibungen, Tagebuchnotizen, Lyrik und selbst ein Interview, das die für ihre Verdienste um das literarische Erbe Siebenbürgens geschätzte Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick führte, haben sie und Florian Kührer-Wielach, Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Herausgeber der Zeitschrift „Spiegelungen“, für die Anthologie „Wohnblockblues mit Hirtenflöte“ zusammengetragen. Im Wagenbach Verlag erschienen, sollen die Texte der 20 Autoren unterschiedlichster politischer Couleur und Altersstufen „Rumänien neu erzählen“, um so ein facettenreiches Bild Rumäniens jenseits der üblichen Klischees zu zeichnen.

Den unbedarften Lesern außerhalb Rumäniens sind vielleicht nicht einmal mehr die Klischees von Dracula bis Ceaușescu geläufig. Da kommen die Reisebeschreibungen der nicht aus Rumänien stammenden Autoren gerade recht, die uns ungeschminkt die Städte, Dörfer und Landschaften vorstellen. Zum Auftakt konfrontiert die einzige Ungarin in dieser Runde, Noémi Kiss, uns mit ihrer Sicht auf die künftige Kulturhauptstadt „Temesvár. Eine wunderschöne Stadt – wenn wir sie im Kopf renovieren“. Eine kritische Bestandsaufnahme aus der Zeit der Aufbruchstimmung 2014, als der Siebenbürger Sachse Klaus Johannis noch nicht zum Landespräsidenten gewählt war, und die mühsam bewahrte Plurikulturalität ihr mehr eine Erinnerung an den Charme der k. u. k.-Zeit als gelebte Realität erschien.
Die zwei Banater Dichter Werner Söllner und William Totok, heute beide in Deutschland ansässig, einst über den Literaturkreis Adam Müller-Guttenbrunn miteinander verbunden, sind hier mit jeweils zwei Gedichten vertreten. Totok, dem Stil der Banater Aktionsgruppe treu bleibend, ruft die Erinnerung an „die kurzbiografie von alois simtsik (1878-1946)“ und „Meine Großmutter“ ins Leben, während Söllners Gedichte „Der Pinscher und die Sesamlady“ und „leg den Stift weg“ der Neuzeit gewidmet sind.

Bukarest mit all seinen Gegensätzen fasziniert west- und ostdeutsche Besucher gleichermaßen. Der heute in Leipzig lebende Romanist, Schriftsteller und Dichter Roland Erb macht sich auf dem „Flug Otopeni-Schönefeld“ lyrisch seine Gedanken und widmet sein Gedicht „Oase“ Christina Petrescu. Zwei weitere Gedichte – ein Geburtstagsständchen für die Grand Dame der rumänischen Literatur, Nora Iuga, und „Bukarest“, eine Ode an die Stadt als frivol-verlotterte Personifikation – steuert der in Darmstadt geborene Jan Koneffke bei, der über seine Ehefrau auch literarisch Rumänien eng verbunden ist („Die sieben Leben des Felix Kannmacher“).

Uwe Tellkamp, der in letzter Zeit als Unterzeichner der „Erklärung 2018“ zur vorgeblich „illegalen Masseneinwanderung“ nach Deutschland für Furore sorgte, bemüht bisweilen solch weibliche Vergleiche, wenn Häuser wie „aufdringlich ge-schminkte(n) Frauen“ mit allem, was sie haben, protzen. Auf seiner „Reise zu den Tagen des Sommers“ mit Kollegen von Bulgarien nach Dresden über Bukarest, begegnet er dem dieser Tage hochgeehrten Mircea Cărtărescu und seiner Familie, lässt sich durch die Stadt führen, „eine Stadt in Andeutung, und die Bedrohlichkeit, die sie ausstrahlt, rührt daher, dass es keine Überraschung wäre, sähe man plötzlich Hammerhaie durch die Lüfte schwimmen...“ (S. 59). Wortgewaltig und detailgenau schildert er die Fahrt durch die walachische Tiefebene ins Herz Siebenbürgens über Kronstadt, Hermannstadt bis nach Rothberg zu Eginald Schlattner, „Gedächtnis und Würde Deutsch-Siebenbürgens“ (S. 67). „Ce mundró o miró“ ist seine Reiseerzählung noch überschrieben, ein Satz, der zum Abschied von Schlattner fällt, der so seine ihm dienstbaren Zigeuner zitiert. Eginald Schlattner selbst ist mit dem Text „Der Bolschewik und die Baronin“ vertreten, in dem nicht von ungefähr – Stammbaum und Herkunft spielen auch in seinem Leben eine dominante Rolle – der Zusammenprall von unbeugsamem ungarischen Adelsstolz mit den sozialistischen Zeitläufen geschildert wird.

Tellkamps ebenfalls aus Dresden stammender – neuerdings mehr Kontrahent als Kollege – Ingo Schulze, der unter dem Titel „Oliven und Cousinen“ Michaela Nowotnick über seine Kindheitserinnerungen an Verwandtenbesuche in Rumänien Rede und Antwort steht, erlebt das sommerliche Bukarest als südländisch exotisch, die Oliven (nicht unbedingt ein rumänisches Produkt) bringt er sogar seinen Klassenkameraden daheim mit in die Schule. „Die Klassenkameraden spuckten sie angeekelt aus.“(S. 227) – Unverständnis auf allen Seiten.

Das Land, vor allem die heute meist verlassenen Dörfer der Siebenbürger Sachsen, füllen Elke Erbs Reisenotizen und Tagebucheinträge, die zwischen geschichtlichen Recherchen und idyllischen Natureindrücken schwanken. Die ehemaligen Dorfschreiber Carmen- Francesca Banciu, Elmar Schenkel, Jürgen Israel, Tanja Dückers aus Katzendorf/Cața, die dank der Initiative des Schriftstellers und Regisseurs Frieder Schuller jeweils ein Jahr in Siebenbürgen verbringen, um darüber in Texten zu berichten, haben auf diese Herausforderung je nach Herkunft und Temperament persönlich-biografische, bisweilen auch märchenhafte Antworten gefunden. Besonders Elmar Schenkel erliegt dem magischen Charme Siebenbürgens in seinen „Gesprächen mit Mircea“, der fabelhaften Katze, die ihn in einen teils absurd komischen, aber dann doch auch wieder tiefgründigen Dialog über Geschichte und Geschichten aus Siebenbürgen verwickelt.

Fantastisches, das sich fast unbemerkt in den Alltag schleicht, findet sich auch in den Erzählungen „Rumänische Frauen“ von Dana Grigorcea und „Drachenhaus“ von Iris Wolff . Rostige Wasserspeier, die sich in Drachen verwandeln, auf denen Klingsor, der Zauberer, heranreitet, und ein merkwürdiger Klavierspieler tauchen Kronstadt/Brașov in eine geheimnisvolle Atmosphäre. Doch für Iris Wolff ist dies Begleiterscheinung einer ernsteren Begegnung mit der oft furchtbaren Realität. Weniger märchenhaft, aber durchaus surreal, geht es in den Frauen-Geschichten um die Dichterin Mara B., die „Frau des Zwergs“ oder die feine Bukarester Dame „Marieta“ bei Grigorcea zu. Aber sowohl für Iris Wolff, die ausgewanderte Siebenbürger Sächsin aus Hermannstadt/Sibiu, als auch für Dana Grigorcea, die in die Schweiz ausgewanderte Rumänin, sind die Menschen, ob fiktiv oder real, und ihr Schicksal zwischen alten und neuen Ungerechtigkeiten wichtiger als die Kulissen. Die Auswanderung, Erinnerungen an Verlorenes oder Erlittenes, vielleicht auch an Vermisstes, zieht sich durch die Texte von Carmen-Francesca Banciu, Maria-Daria Cojocaru oder Franz Hodjak, der mit „Besuche“ vordergründig die Begegnung mit dem Stadtnarren Max, eigentlich aber die Zerrissenheit zwischen Heimatliebe und Desorientierung schildert.

Joachim Wittstock, einer der wenigen Autoren, die ihrer Heimat nicht den Rücken gekehrt haben, nutzt die ernüchternde Besichtigung des nun endgültig heruntergekommenen Gebäudekomplexes eines ehemaligen Sanatoriums in Kronstadt, um in einigen prägnant geschilderten Episoden an den Gründer Dr. Samuel Tartler und seine Familie zu erinnern.

Der Bukowina und ihrem literarischen Czernowitzer Erbe widmet sich Alexandru Bulucz in „Der Ausländer seine Rose ihr Stein“, ein der jüngsten Generation angehörender Dichter aus Karlsburg/Alba Iulia, der heute in Deutschland arbeitet und sich auch der jüdischen Problematik nicht mehr verschließt. Eines der dunkelsten Kapitel deutsch-rumänischer und ukrainischer Kooperation schlägt Frieder Schuller mit seinem Ausnahmetext über das Massaker an den Juden in Transnistrien 1941 mit „Bogdanowka Heilig-abend“ auf. Die Gräueltaten sind historisch verbrieft, aber mit welcher Beiläufigkeit Schuller die Täter agieren lässt, bar jeden Schuldbewusstseins, macht doppelt betroffen. Wie so oft bedarf es nur einiger religiöser oder ideologischer Vorwände, um alle menschlichen Gebote hinwegzufegen. Hannah Arendts Satz von der „Banalität des Bösen“ greift hier fast zu kurz, einige der Ausführungen zu „Masse und Macht“ von Elias Canetti drängen sich auf.

Es ehrt die Herausgeber und Autoren, dass sie in dieser Anthologie auch solche Erinnerungsliteratur zulassen. Grade angesichts jüngster Debatten, in denen wieder von Massen und nicht von Menschen die Rede ist.